Wieso ist das so? (11)

Woher weiß die „Tagesschau“, wie man was ausspricht?

Arkansas, Arkänsas, Arkänsoh? Für knifflige Fragen der Aussprache hat die ARD eine eigene Datenbank mit hunderttausenden Einträgen. Aber wie bestimmt man eigentlich, welche Betonung die richtige ist? Wir werfen einen Blick hinter die Kulissen mit Rudolf Hientz, der das Projekt leitet.
Judith Rakers mit dem Wort Dschankoj und seiner Aussprache
Screenshot [M]: „Tagesschau“

Krieg in der Ukraine, Präsidentschaftswahlkampf in Brasilien, verheerende Waldbrände in Algerien – die Meldungen, die uns täglich etwa in der „Tagesschau“ begegnen, stammen von überallher; die Nachrichtenwelt ist längst globalisiert. Die Aussprache der Namen von Staatsoberhäuptern, Städten und Kriegsschauplätzen ist dabei alles andere als unwichtig: Nicht selten ist diese Frage politisch aufgeladen, eine falsche Betonung gilt wiederum als Zeichen fehlenden Respekts. Woher wissen also Jens Riewa oder Judith Rakers eigentlich, wie man etwas möglichst richtig ausspricht?

Die Öffentlich-Rechtlichen können hier auf einen Schatz von hunderttausenden Antworten zurückgreifen – die ARD-Aussprachedatenbank, angedockt an den Hessischen Rundfunk in Frankfurt. Aber wie genau legt man fest, was die korrekte Aussprache ist? Wie wird mit Begriffen aus anderen Sprachen umgegangen? Und warum ist das Ganze nicht für alle zugänglich? Wir haben bei Rudolf Hientz nachgefragt, der die Datenbank leitet.

(Die verlinkten Audiodateien wurden von der ARD-Aussprachedatenbank zur Verfügung gestellt, Copyright: Hessischer Rundfunk.)


Übermedien: Kürzlich wurde gemeldet, dass auf der russisch besetzten Krim ein Munitionslager explodiert ist – und zwar im Bezirk Dschankoj. Angenommen, die Redaktion der „Tagesschau“ ruft Sie an und fragt nach: Wie spricht man das richtig aus?

Rudolf Hientz: Da würde ich erstmal nachschauen (tippt) … und dann würde ich dem Kollegen bzw. der Kollegin von der „Tagesschau“ sagen, dass es [ʤaŋʹkɔ͜y] ausgesprochen wird, also mit Betonung auf der zweiten Silbe. Das ist im Russischen und im Ukrainischen ziemlich gleich, da gibt es hier keinen großen Unterschied.

Wie viele solcher Anfragen bekommen sie pro Tag von Kolleg:innen aus den öffentlich-rechtlichen Sendern?

Es ist ein bisschen abhängig davon, was gerade produziert wird. Wir bekommen zum Beispiel relativ viele Anfragen von „Arte“, vor allem von externen Studios, die für „Arte“ synchronisieren. Pro Woche bearbeiten wir im Schnitt 350 Anfragen – es kann hochgehen bis zu 600, es können aber auch mal 250 sein.

Läuft das Ganze also ausschließlich auf Anfrage? Oder arbeiten die Mitarbeiter der Datenbank quasi auch präventiv, wenn Sie wissen, dass bestimmte Themen aufkommen?

Wenn Großereignisse anstehen, bereiten wir uns entsprechend vor. Im Oktober steht zum Beispiel die Frankfurter Buchmesse an, Gastland ist diesmal Spanien. Da werden wir dann Neuerscheinungen spanischer Autorinnen und Autoren recherchieren. Sonst klassischerweise immer die Sport-Großereignisse: Die Fußball-EM der Frauen ist ja gerade zu Ende gegangen, im Winter steht wiederum die Herren-WM an – da recherchieren wir im Vorfeld die Spielerinnen und Spieler, die Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter. Ein anderes Beispiel ist die Documenta, wo wir die Namen der Künstler und Kollektive recherchiert haben. Wo man also eine Art abgeschlossenen Korpus hat, machen wir das durchaus im Voraus.

Wie kann man sich den Alltag in der Aussprachedatenbank vorstellen?

Wir sind an Werktagen von morgens bis abends von 8 bis 22 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen von 8 bis 18 Uhr besetzt und per Mail oder Telefon erreichbar – da ist mindestens eine Mitarbeiterin bzw. ein Mitarbeiter vor Ort.

Wie finden Sie heraus, wie man einen Begriff richtig ausspricht?

Erstmal muss man schauen: Woher kommt der Name oder der Begriff, welches Sprachgebiet haben wir? Zu gängigeren Sprachen haben wir recht viele Nachschlagewerke. Da können wir nachschauen: Ist es eine regelhafte Sprache? Finnisch beispielsweise wird immer auf der ersten Silbe betont. Das kann man also gut nach Standardwerk machen.

Ansonsten sprechen wir auch manchmal die Auslandskorrespondenten an: Hey, wie wird das bei euch ausgesprochen? Wie sollen wir das in der Datenbank abbilden? Außerdem haben wir mittlerweile ein Netzwerk von Informantinnen und Informanten, das über die Jahre angewachsen ist; darunter findet man beispielsweise Linguistinnen und Linguisten, Phonetikerinnen und Phonetiker, aber auch Muttersprachlerinnen und Muttersprachler, die etwa in Botschaften oder Sprachinstituten arbeiten. Auf die greifen wir im Zweifelsfalle auch zurück, wenn wir mit unseren Mitteln nicht weiterkommen. Auch das wandelt sich, manche gehen in Rente oder versterben. Wir müssen also auch immer gucken, wo wir neue Expertinnen und Experten auftun.

Anders ist es bei Personennamen – etwa bei jemandem, der in Deutschland lebt, aber eine Migrationsgeschichte hat. Da würden wir zuerst versuchen, diese Person zu erreichen und nachzufragen: Wie möchten Sie ausgesprochen werden? Gibt es vielleicht schon eine Eindeutschung, oder möglichst original? Wenn es um berühmte Persönlichkeiten geht, versuchen wir auch über Agenturen, dazu eine Auskunft dazu zu bekommen.

Wie wird das Ergebnis dann in der Datenbank ausgespielt? Bekommt man hier phonetische Hieroglyphen vorgesetzt, oder hört man eine Audio-Aufnahme?

Die Aussprache wird in in Internationaler Lautschrift (IPA) angegeben – kombiniert mit einer etwas lesbareren, volkstümlicheren Umschrift, die auf dieser IPA-Lautschrift basiert. Wer also mit IPA nicht so firm ist, kann es dann trotzdem lesen. Dazu gibt es ein von uns ausgesprochenes Audio-File, das dann abgerufen werden kann. Wir haben also diese drei Möglichkeiten, wie die Aussprache an den Mann oder an die Frau kommt.

Sicherlich sind manche Anfragen auch dringend, etwa kurz vor der „Tagesschau“-Übertragung. Wie lange dauert es in der Regel, bis man eine Antwort bekommt?

Wenn es ganz dringlich ist, hoffen wir, dass wir es mit unseren Mitteln vor Ort lösen können. Das klappt in den meisten Fällen, aber nicht immer – dann geben wir erstmal eine vorläufige Empfehlung, basierend auf den Nachschlagewerken und den Quellen, die wir hier haben. Wir recherchieren das Ganze anschließend natürlich noch im Detail und liefern das Ergebnis in der Datenbank nach. Aber vieles können wir recht schnell herauskriegen.

Die Datenbank wurde in den späten 1980ern als Projekt des hr gegründet, seit 1997 ist sie ARD-weit zugänglich. Wie lief die Suche nach der richtigen Aussprache vorher?

Das war noch vor meiner Zeit, sodass ich es nur vom Hörensagen kenne. Zum einen gab es Ordner, in denen die Ausspracheempfehlungen abgelegt wurden – Sie können sich vorstellen, wie viel aufwendiger es gewesen sein muss, das in Stand zu halten und vielleicht Änderungen einzupflegen. Hier im Büro habe ich außerdem noch Karteikarten aus der ganz frühen Zeit gefunden, zum Beispiel diese hier: Wie wird der Dirigent Neville Marriner ausgesprochen? Sie sehen, man hat sich eben mit diesen Dingen beholfen und zusammengetragen, was man in Erfahrung bringen konnte. Aber besonders die Recherche in den 80ern und 90ern stelle ich mir schwierig vor. Heute ist natürlich Google unser aller Freund, da können wir schnell gucken: Wen können wir anrufen? Welches Institut könnte uns da weiterhelfen?

Wer kann heute auf die Aussprachedatenbank zugreifen?

Zugriff haben neben den ARD-Rundfunkanstalten, dem ZDF, dem Deutschlandradio und der Deutschen Welle auch öffentlich-rechtliche Anstalten aus anderen Ländern: ORF, SRF, Arte, RAI Südtirol, RTR aus der rätoromanischen Schweiz und Radio 100,7 aus Luxemburg – das ist das neueste Mitglied im Nutzerkreis. Dazu haben wir auch für alle Blindenbüchereien in Deutschland den Zugriff ermöglicht, wo zum Beispiel Hörbücher oder sprechende Tageszeitungen produziert werden.

Warum ist die Datenbank nicht einfach für alle zugänglich?

Das ist immer wieder im Gespräch, wir haben das auch von unseren Juristinnen und Juristen prüfen lassen. Das liegt einfach daran, dass es eine gewachsene Datenbank ist: Die Einträge sind zum Teil über dreißig Jahre alt – damit ist nicht ganz klar, wie die Rechtesituation mit den Sprecherinnen und Sprechern ist, ob aus den damaligen Verträgen heraus etwa irgendwelche Ansprüche entstehen würden, wenn die Datenbank frei zugänglich gemacht wird. Es ist also ein urheberrechtliches Problem. Das muss aber nicht heißen, dass es nicht in Zukunft vielleicht anders sein wird.

Wie verläuft die Abwägung zwischen Authentizität in der Aussprache und den Hörgewohnheiten eines deutschsprachigen Publikums?

Für die Eindeutschung haben wir im Laufe der Jahre bestimmte Konventionen erarbeitet, nach der Maxime: So original wie möglich, so deutsch wie nötig. Jede Sprache ist dabei individuell zu betrachten. Einerseits kommt es darauf an: Welche Sprache ist schon präsent im Deutschen? Englisch und Französisch werden zum Beispiel klassischerweise in den Schulen gelehrt – da machen wir so gut wie gar keine Eindeutschung. Je weiter die Sprache weg ist für die Zuhörerschaft, umso stärker deutschen wir sie zum Teil ein. Dabei haben wir uns auch mit Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern angeschaut, welche Laute es jeweils im Deutschen und in der Ausgangssprache gibt, welche Laute ähnlich klingen und was man da unter Umständen ersetzen kann.

Zum anderen muss man sich auch anschauen: Wie ist die Orthographie in der Ausgangssprache? Wenn ich mich zu weit von der Orthographie entferne, kann es sein, dass die Zuhörer diesen Begriff nicht mehr vollkommen verstehen oder zuordnen können. Das ist also diese Linie, auf der man ein bisschen balanciert und die für jede Sprache anders verläuft. Nehmen wir die Stadt Valencia: Im Deutschen wird es [vaʹlɛnsi̯a] ausgesprochen, ein Spanier würde aber [baʹlenθi̯a] sagen – also mit B im Anlaut und Dentalfrikativ, wie der Phonetiker sagt. Wenn Sie das aber so aussprechen, würde es vielleicht schon zu überkandidelt, zu überkorrekt fürs Deutsche klingen, obwohl es natürlich richtig ist.

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine werden auch Orthographie und Aussprache verstärkt politisiert: Ukrainische Sprechweise versus russische Sprechweise, Kyjiw versus Kiew, Dnipro versus Dnepr. International haben sich einige Medienhäuser auf die ukrainische Fassung festgelegt, um Solidarität zu zeigen. Ist all das auch in der Aussprachedatenbank ein Thema?

Wir bilden beides ab: Sie finden bei uns sowohl die russische als auch die ukrainische Variante. Wir geben da aber keine Vorgabe, das findet dann in den Redaktionen selbst statt.

Ein anderes politisches Thema, das auch gerade wieder heiß diskutiert wird: Gibt es Vorgaben zum Gendern in der Aussprache – etwa zum Glottisschlag vor „-innen“?

Das ist immer mal wieder Thema, aber auch hier muss ich auf die Redaktionen verweisen, die das unterschiedlich handhaben. Mein Eindruck ist, dass es immer ein bisschen von der Zielgruppe abhängt. Die Datenbank macht dazu keine Empfehlungen oder Vorgaben.

Angenommen in der „Tagesschau“ passiert ein grober, eindeutiger Fehler bei der Aussprache – kriegt die Redaktion dann einen wütenden Anruf von der Aussprachedatenbank?

Wir sind keine Aussprachepolizei, die eine Strichliste führt und guckt: Ha, das war jetzt aber ein Fauxpas bei der „Tagesschau“ um 17 Uhr! (lacht) Das ist auch gar nicht unser Selbstverständnis, mit dem Blaulicht anzukommen. Wir bilden ganz einfach den Sachstand ab und geben Empfehlungen.

Ändern sich diese Empfehlungen auch mit der Zeit, wie sich die Hörgewohnheiten vielleicht wandeln?

Das kommt durchaus vor. Jahrzehntelang war es zum Beispiel Konsens, dass die schottische Hauptstadt eingedeutscht [ʹeːdɪnbʊrk] gesprochen wird – das werden Sie auch in älteren „Tagesschau“-Ausgaben so hören. Da gab es vor einigen Jahren den Wunsch, das originaler auszusprechen – [ʹɛdɪnbərə].

Gleiches auch mit [ʹɑːrkənsɔː]: In der Zeit vor Bill Clinton war es im Sprachgebrauch, dass es [arˈkanzas] oder [ɑːˈkænzəs] heißt. Erst nachdem Herr Clinton aus Arkansas zum Präsidenten wurde, ist hier ein Bewusstsein dafür entstanden, dass die Aussprache im Amerikanischen durchaus anders ist als die eingedeutschte Fassung.

Auch kommt es immer mal wieder vor, dass wir eine bestimmte Aussprache von Namen empfehlen, wobei sich die betroffene Person selbst anders ausspricht – das ist dann eine Frage von unterschiedlichen Quellen, weil wir die Person unter Umständen erstmal nicht erreicht haben. Wenn man uns darauf hinweist, ändern wir das natürlich. Kurz gesagt: Auch in der Datenbank können und sollen sich Dinge ändern, das Ganze ist ja kein statisches Objekt.

Wie viele Einträge hat die Datenbank heute? Und wie schnell wächst so ein Projekt, wenn täglich neue Nachrichten mit Orts- und Personennamen reinkommen?

Aktuell sind wir etwa bei 440.000 Datensätzen. Das Wachstum hängt immer von der Nachfrage ab, aber auch davon, ob etwa Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele anstehen. Es kann dann relativ umfangreich werden – im Jahr wächst die Datenbank im Schnitt um 15.000 Begriffe.

Und die alten Einträge verschwinden ja nicht aus der Datenbank – insofern sind dem Ganzen prinzipiell keine Grenzen gesetzt, oder?

Im Grunde ist das eine wachsende Datenbank. Man kann ja auch nicht sagen: So, jetzt haben wir alles erfasst. (lacht) Es kommt immer etwas Neues dazu.

5 Kommentare

  1. Die „weniger deutsche“ Aussprache von Arkansas würde ich schlicht für falsche Aussprache halten.
    In Valencia spricht man Valencianisch, eine Form des Katalanischen. Diese Form erscheint mir als Grundlage für eine deutsche Aussprache sinnvoller als die kastilische.

  2. Die Datenbank ist ein faszinierendes Gesamtkunstwerk. Ich hoffe, dass sie irgendwann mal für alle öffnet. Alleine schon Wikipedia würde sich freuen.

    Ansonsten: Die richtige Aussprache ist meist überbewertet. Jedenfalls im Alltag. Auch wenn es gefühlt hierzulande schon einen halben Volksaufstand gibt, wenn man Gnocchi nicht Italienisch ausspricht ;)

  3. Ach, und warum klappt das im Chinesischen nicht? Es gibt doch mittlerweile genug chinese nativ speaker in Deguo, die einem das vorsprechen können!

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