Reportage aus Erfurt

„Y-Kollektiv“ will sich Klischees genau anschauen, guckt aber dran vorbei

„Ausländer kriminell, Ossis rassistisch?“, fragt eine ARD-Doku. Doch statt Vorurteilen wirklich auf den Grund zu gehen, bleibt der Film oberflächlich. Auf ihrem Trip nach Erfurt fragt die Reporterin nicht ausreichend nach, sie ordnet nicht ein. Und lässt problematische Aussagen einfach so stehen.

Zehn Tage nimmt sich Lena Elfers Zeit. Zehn Tage, um den „platten Klischees“ über Ostdeutsche und Ausländer endlich mal auf den Grund zu gehen. Für den neuesten Film des ARD-Formats „Y-Kollektiv“ mit dem Titel „Ausländer kriminell, Ossis rassistisch?“ reist die Journalistin nach Herrenberg, einen Ortsteil von Erfurt, in dem bei der vergangenen Bundestagswahl fast die Hälfte der Bürger die AfD gewählt hat.

"Y-Kollektiv"-Reporterin Lena Elfers im Gespräch mit Senioren in Erfurt-Herrenberg.
Reporterin Elfers im Gespräch. Screenshot: ARD

Elfers arbeitet auf ihrem Trip nach Herrenberg als Praktikantin in einer Unterkunft für Geflüchtete, dreht dort mit Kindern einen Zombie-Film, lernt einen trans Mann aus dem Iran kennen, spielt Tischtennis mit den Bewohnern. Sie interviewt die Besitzerin der Pension, in der sie wohnt, und geht mit ihr auf ein Konzert. Sie bemalt Ostereier mit Menschen aus einem Plattenbau. Und verpasst bei diesem vollen Terminkalender dann leider das, was sie eigentlich machen wollte: Klischees hinterfragen.

Mit Pfefferspray nach Herrenberg

Ironischerweise startet der Film selbst mit einem Vorurteil. Reporterin Lena Elfers macht sich auf den Weg von Leipzig, wo sie wohnt, nach Erfurt. Und sagt, gerade losgefahren, in die Kamera: „Ich hab jetzt Pfefferspray eingepackt.“ Weil … äh, ja, warum eigentlich? Weil sie Angst vor Nazis, Ausländern, Männern hat? Weil sie fürchtet, als Journalistin in Erfurt angegriffen zu werden? Man erfährt es nicht.

Der Satz hängt ohne Kontext in der Luft und vermittelt den Eindruck: Im Osten ist es total gefährlich! Wirklich? „Ich kann es nicht einschätzen“, sagt die Reporterin auf Nachfrage ihres Kameramanns. Und, Spoiler: Es wird gar nicht gefährlich.

Szene aus "Y-Kollektiv"-Reportage: Eine Wand, an der unter anderem "Antifa jagen" und "Nazi" steht, dahinter sind Häuser zu erkennen.
Nazi-Graffitis in Erfurt-Herrenberg Screenshot: ARD

Doch die Pfefferspray-Stimmung muss ja irgendwie aufrechterhalten werden. Sechs Minuten später also nochmal. Elfers läuft über den Herrenberg, das Viertel, in dem sie jetzt zehn Tage lang wohnen wird. Sie filmt Graffitis: „Nazi Kiez“ steht an einer Wand, „Rote Jugend jagen“ an einer anderen. Elfers sagt:

„Vielleicht ist es auch Quatsch. Aber so richtig sicher fühle ich mich hier nicht. Ich merke, dass mir das Fremde auch Angst macht. Zurecht?“

Die Antwort bleibt aus. Stattdessen: noch mehr Schnittbilder aus der „Fremde“. Die zunächst zackige Hintergrundmusik wechselt in bedrohliche, lauernde Klänge. Langsam wird es dunkel. Jugendliche laufen über den Gehweg. Wind weht. Offenbar ganz schön gruselig, dieser Osten. Und auch, wenn es sicher nicht angenehm ist, in einem mutmaßlichen „Nazi-Kiez“ zu sein: Mit der ganzen Aufmachung reproduziert der Film genau die Ängste und Klischees, die er doch eigentlich hinterfragen wollte.

Bisschen paranoid

Das nächste Drama, 13 Minuten später: Elfers interviewt zwei junge Frauen vor einem Plattenbau und möchte wissen, ob sie sich, in Anspielung auf die Graffitis, hier sicher fühlen. Kurze Zeit später bleibt hinter der Kamera ein Mann stehen. Er habe einen „großen Hund“ dabei und Kleidung an, „auf der ich Nazi-Symbole zu erkennen meine“, sagt Elfers aus dem Off. Das Interview wird kurz unterbrochen.

Als der Mann weg ist, fragt Elfers:

„War das jetzt so ne Situation, hat der jetzt … man wird ja so bisschen paranoid bisschen, ne?“

Eine der Frauen erwidert:

„Ich bin mittlerweile sehr paranoid. Ja, der sah schon so aus.“

Elfers fragt:

„Hat der jetzt irgendwelchen Leuten Bescheid gesagt oder so? Weil er irgendwas mit dem Handy gemacht hat? Krass, ey.“

Das war’s. Ob es noch schwammiger geht? Kaum.

Es passiert nichts. Trotzdem setzt der Film mit dieser permanenten undefinierten Angst den Ton für die ganze Erzählung. Das Klischee der „Nazi-Ossis“, vor denen man Angst haben sollte, es läuft immer mit. Und anstatt sich ordentlich und tiefgreifend damit auseinanderzusetzen, springt der Film gleich weiter zum nächsten Klischee.

Kaum Nachfragen

Sind Ausländer kriminell? Das fragt das „Y-Kollektiv“ so pauschal schon im Titel. Beantwortet wird es aber nicht. Stattdessen befragt Reporterin Elfers die Geflüchteten in der Unterkunft, in der sie ihr Zehn-Tage-Praktikum macht, warum sie in Deutschland sind und ob sie sich wohlfühlen. Was ihre Träume sind, ob sie Heimweh haben. Aber leider hören an dieser Stelle die Fragen auch schon auf. Obwohl es noch so viele gäbe.

Elfers lernt einen Geflüchteten aus Nigeria kennen. Sie ist dabei, als er einen Brief bekommt: Er muss nach Frankreich ausreisen, dort hat er sich zuerst registriert. Laut Dublin-Abkommen muss also dort über seinen Asylantrag entschieden werden. Er hatte in Frankreich allerdings auch „Kontakt zu kriminellen Leuten“, heißt es, weshalb er nicht erkannt werden will – aus Angst, sie würden erfahren, dass er nun zurückkommt.

Damit endet die Szene.

Was heißt das: „Kontakt zu kriminellen Leuten“? Warum hatte er Kontakt mit ihnen? War er selbst auch kriminell? Was ist hier, in Deutschland, anders als in Frankreich? Anders als in seiner Heimat? Keine dieser Fragen wird gestellt. Hängen bleibt: Er war vielleicht irgendwie mal kriminell. Hängen bleibt: wieder das Klischee.

Und noch ein Vorurteil

Nächster Versuch: Die Reporterin unterhält sich mit der Vermieterin ihrer Pension. Die erklärt, warum sie bei der Bundestagswahl die AfD gewählt hat und dass sie nicht gegen Ausländer sei. Dass sie aber findet, junge Männer sollten „doch daheim bleiben und ihren eigenen Staat aufbauen“, anstatt hier auf „Lebemann“ zu machen:

„Ich würde sagen, über 50 Prozent arbeiten gar nicht. Die leben nur auf unsere Kosten, auf unseren Staat eben. Und das sehe ich nicht ein.“

Elfers hört zu, nickt, lässt die Frau reden. Man erfährt, dass sie von wenig Geld leben muss, obwohl sie ihr Leben lang gearbeitet hat. Und dass sie es nicht versteht, warum andere fürs Nichtstun Geld vom Staat bekämen. Womit wir angekommen wären beim Klischee vom faulen Ausländer, der es sich hier gut gehen lässt.

Das wäre die Stelle gewesen, an der Elfers ihre Rolle hätte wechseln müssen: von der nickenden Zuhörerin zur Journalistin, die nachfragt. Die Fakten entgegen hält. Die anmerkt, wie viele Geflüchtete in Erfurt tatsächlich nicht arbeiten. Und warum sie das nicht tun. Gibt es bürokratische Hürden? Sprachliche? Dürfen sie nicht? Wollen sie tatsächlich nicht? Doch es kommt nichts. Nur ein Schnitt.

Die Reporterin sitzt in ihrem Pensionszimmer und sagt:

„Ich muss das ein bisschen verdauen, auf jeden Fall, was sie mir so erzählt hat. Ich weiß auch in den Interviews nicht so genau… Also ich will das ja gar nicht werten. Aber ich weiß manchmal gar nicht so richtig, wie ich reagieren soll.“

Einerseits verständlich. Es ist schwierig, zementierte Klischees zu durchbrechen. Andererseits sah sie sich ja nicht plötzlich mit Vorurteilen konfrontiert, von denen sie noch nie gehört hatte. Sie hätte sich vorbereiten, sie hätte recherchieren können. Und selbst wenn es ihr direkt im Gespräch nicht gelungen wäre, etwas dagegen zu halten – spätestens im Film hätte sie das Gesagte einordnen können. Müssen.

Keine Einordnung

Der Film ist voll mit Situationen, in denen die Reporterin an entscheidenden Stellen nicht nachfragt. Problematische Aussagen bleiben einfach so stehen, als würde sich das Klischee dahinter ganz von selbst erklären.

Ein Mann sagt:

„Ausländer können gerne rein. Das können Tschechen sein, Polen, Italiener, Spanier, was weiß ich. Die können alle gerne reinkommen. Aber um Gottes Willen keine Muslime. Was soll denn das?“

Ist er das, der „rassistische Ossi“, der pauschal gegen Muslime wettert und sie nicht im Land haben will? Argumentiert er aus purem Rassismus oder aus Angst? Man erfährt es nicht. Die Unterhaltung bleibt beim Klischee stehen. Denn auch hier gab es keine Nachfrage, keine Einordnung von Elfers. Stattdessen wieder: Schnitt. Eine Frau sagt:

„Wenn die AfD hier mal regieren sollte, dann werdet ihr euch umgucken. Das wird nicht so sein, wie ihr euch das denkt.“

Und Lena Elfers sagt im nachträglich eingefügten Off-Text:

„Die meisten am Tisch haben bei dem Thema übrigens gar nichts gesagt und geschwiegen.“

Sie anscheinend auch.

Lena Elfers, die zehn Tage in Erfurt war, um die Klischees über Geflüchtete und Ostdeutsche zu verstehen, hat hauptsächlich zugehört. Das ist wichtig. Genauso wichtig wäre es aber gewesen, Gespräche nicht dort zu beenden, wo sie schwierig werden, wo man wirklich das Klischee und die Probleme der Leute hätte verstehen können.

„Y-Kollektiv“ beschreibt den Film als „ein Experiment, das uns zwingt, genauer hinzusehen“. Das ist leider in die Hose gegangen. Der Film bleibt oberflächlich, springt von Vorurteil zu Vorurteil, lässt Diskriminierungen unkommentiert stehen. Was hängen bleibt, sind die Klischees, die der Film eigentlich aufarbeiten wollte.

7 Kommentare

  1. Danke für den Artikel.
    Meine Güte, diese Doku klingt ja gruselig…was ist denn dabei bitteschön der journalistische Anspruch? Gibt es dazu irgendeine Stellungnahme der Redaktion oder der Journalistin? Arbeitet sie immer so?

    Mit einer Kamera rumlaufen, O-Töne einsammeln und dabei nicken kann im Prinzip jede und jeder…das ist dann aber noch kein Journalismus und erst Recht kein Journalismus, der den Anspruch erfüllen könnte, Stereotype zu hinterfragen…stattdessen gibt es offenbar dafür wieder eine stark personalisierte auf die Reporterin und ihre Gedanken/Gefühle/Eindrücke zugeschnittenen Beitrag. Aber wo ist der Mehrwert? Nur Entertainment? Das wirkt nicht nur vollkommen oberflächlich, sondern eben auch hochproblematisch, wenn problematische Aussagen nicht eingeordnet werden…

  2. Ich hatte ja gehofft, dass es nach dem Strg_F-Desaster besser (bzw. weniger) wird mit diesen Presenterformaten. Anscheinend nicht. Das Thema ist durchaus interessant, und man könnte es prima aufarbeiten, indem man zum Beispiel Statistiken analysiert und mit Soziologen spricht.

    Aber selbst so ein schmales Maß an Abstraktion und Komplexität wollen die Macher ihrer jungen Zielgruppe wohl nicht zumuten – „junges Format“ heißt hier, es muss dauernd menscheln und zur Identifikation einladen. Fühlen statt denken. Betroffen sein statt kritisch. „Verdauen“ statt hinterfragen.

    Wäre ich 20, ich wäre beleidigt, weil man mich beim Y-Kollektiv anscheinend für ziemlich beschränkt hält…

  3. Entspricht das nicht der Erwartung der „jungen Generation“? Dass es menschelt und Betroffenheit demonstriert wird? Ich fürchte, ja .

  4. @Dieter B. (#3):

    Entspricht das nicht der Erwartung der „jungen Generation“?

    Und schon haben wir das nächste Klischee, das man mal untersuchen könnte.

  5. Was soll eigentlich dies Fragenstellung?
    Klischees sind eigentlich unzulässige Verallgemeinerungen und als solche praktisch immer falsch; ich würde bei so einem Titel etwas erwarten wie „Warum viele Leute Ostdeutsche für Rechtsextremisten halten.“ Denn Vorurteile haben zwar selten Gründe, aber meistens Ursachen.

  6. ‚Graffitis‘ ist ähnlich schlecht wie ‚Spaghettis‘ oder ‚Cappuccinis‘ – wenn ich das als kleine Sprachkritik anbringen darf.

  7. Das Grundproblem dieser „Doku“ ergibt sich ja schon aus dem Stil, in dem Y-Kollektiv und Strg_F produzieren: einzelne Reporter gehen dahin „wo es weh tut“, spielen (oder sind?) naiv und wollen ihr Gegenüber bloß nicht verschrecken indem sie sie mit ihren Aussagen kritisch konfrontieren. Die Reportagen enden meist ergebnislos, der Zuschauer ist so klug wie zuvor.

    Gleichzeitig ist die Berichtende in diesem Fall denkbar schlecht für ihre Recherche gewappnet: nach 20 Jahren Leben im Osten (Leipzig) hat sie es offensichtlich nie aus ihrer Filterblase Hypezig heraus geschafft und einmal die umliegenden Städte erkundet und sich im Rest des Ostens ein Bild davon gemacht, wie es um den Osten bestellt ist. Letztlich hat diese Reportage nichts Neues zutage gebracht, keine Erkenntnis, keinen neuen Blick, der es dem ratlosen Nicht-Ossi ermöglichen würde, Verständnis für die ostdeutschen Vettern und Cousinen zu entwickeln.

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