Kritik von Psychologen

„Wie ein PR-Coup“: Studie über angeblich gestiegene Zahl von Suizidversuchen bei Kindern lässt viele Fragen offen

Als Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) kürzlich im Deutschlandfunk (DLF) interviewt wurde, ging es gleich in der ersten Frage um ein heikles, emotionales Thema. Der Moderator sagte:

„Eine aktuelle Studie der Uniklinik Essen belegt: Die Suizidversuche unter Jugendlichen haben sich am Ende des zweiten Corona-Lockdowns mehr als verdreifacht. Wie erklären Sie sich, Frau Ministerin, diese dramatische Entwicklung?“

Spiegel sagte daraufhin, das seien „wirklich alarmierende und erschreckende Zahlen“. Hinterfragt wurden die aber nicht. Die Studie lag der Redaktion auch gar nicht vor, wie der DLF auf Nachfrage von Übermedien einräumt.

Der Moderator habe sich „auf die umfangreiche Berichterstattung darüber“ bezogen, sagt ein DLF-Sprecher. Es sei „nicht unüblich und nicht automatisch ein Makel“, Studien zu zitieren, die nicht von anderen Experten begutachtet wurden. Außerdem komme die Studie ja von einer „renommierten deutschen Universität“. Dennoch wäre es wohl grundsätzlich besser, „bei allen Studien zu formulieren, sie ‚legt nahe‘ oder ‚kommt zu der Schlussfolgerung‘.“ Das Interview im DLF aber begann mit dem interessanten Satz:

„Wer eigene Kinder hat, der braucht keine Experten.“

Ein genauerer Blick auf die Zahlen hätte geholfen, nicht nur beim DLF. Denn es gibt Zweifel an der Aussagekraft der Studie, über die viele Medien berichtet haben. Eines der Probleme: Sie behaupten zum Teil, dass laut der Studie die Corona-Einschränkungen der Grund für den Anstieg der Suizidversuche sei. Dabei wurden die Ursachen gar nicht untersucht.

„Bild“ über die (noch unveröffentlichte) Studie Screenshot: Bild

„Bild“ etwa titelt, „wegen Corona und Lockdowns“ gebe es „dreimal mehr Suizidversuche bei Kindern“:

„Rund 500 Mal wollten sich junge Menschen in Deutschland im zweiten Lockdown das Leben nehmen.“

Das Blatt zitiert den Kinderarzt und Intensivmediziner Christian Dohna-Schwake vom Universitätsklinikum Essen, der die Studie durchgeführt hat. Er erklärt, dass es von Mitte März bis Ende Mai 2021 „dreimal so viele“ Suizidversuche wie im selben Zeitraum der Vorjahre gegeben habe. Für „Bild Live“, den Fernsehsender, war es eine „Horror-Studie“, die aufzeige, „wie der Lockdown die Seelen unserer Kinder offenbar kaputtmacht“. Im Online-Artikel dazu heißt es: „Der Grund: die Maßnahmen im zweiten Lockdown!“

Auch Radio Essen, zum Beispiel, stellt einen Zusammenhang zu den Corona-Maßnahmen her: Der Lockdown fördere „Suizid-Gedanken von Kindern“, berichtet der Sender auf seiner Internetseite, und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) nennt es eine „dramatische Situation“, dass „deutlich mehr Heranwachsende“ versucht hätten, „sich das Leben zu nehmen“:

„Reduzierte soziale Kontakte, Schulschließungen und zunehmender Medienkonsum zählen zu den Hauptursachen.“

In einem Artikel des FAZ-Sport-Ressorts heißt es sogar, es gebe „mehr Suizid-Fälle“ – offenbar ein Fehler, geht es doch um Suizidversuche.

Was ist dran an der Studie?

Klar ist, dass sich die Pandemie auch auf Kinder und Jugendliche auswirkt und zu psychischen Belastungen führt – was auch einen Anstieg der Suizidversuche bedeuten kann. Dafür gibt es aber kaum oder wenig Belege. Bislang gibt es nicht mal eine richtige Studie. Die Erhebung, um die es geht, ist noch nicht begutachtet, und auch noch nicht als Preprint, also Vorabfassung, veröffentlicht. In die Medien kam sie auf einem anderen Weg.

„Chefvisite“ mit Moderator Jens de Buhr Screenshot: DUP / Youtube

Viele Berichte basieren auf einem Video, das von der Deutschen Unternehmer Plattform (DUP) veröffentlicht wurde, einem Magazin, das die frühere Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) herausgibt. Bei „Chefvisite“, moderiert und geleitet von DUP-Verleger Jens de Buhr, ist regelmäßig der Chef der Universitätsklinik Essen, Jochen A. Werner, zu Gast, zusammen mit bekannten Persönlichkeiten: dem Virologen Hendrik Streeck zum Beispiel, „Weltärztechef“ Frank Ulrich Montgomery, „Welt“-Redakteur Robin Alexander oder Prominenten wie Uschi Glas, Ingo Appelt oder Dieter Nuhr.

Auch der Essener Kinderarzt Dohna-Schwake war dort zu Gast und erklärte, im zweiten Lockdown habe er beobachtet, dass vermehrt Jugendliche nach einem Suizidversuch auf Intensivstationen aufgenommen worden seien. In einer früheren Erhebung, die er gemacht hatte, habe das noch anders ausgesehen: Im ersten Lockdown habe sich demnach die Zahl der Suizidversuche verringert.

Dohna-Schwakes Erklärung: Im ersten Lockdown habe man sich zusammengerissen, es durchstehen wollen, außerdem sei das Wetter sehr gut gewesen. Der zweite Lockdown habe sich dann aus seiner Sicht „hingezogen wie ein Kaugummi“, was zu „viel weniger Zuversicht“ geführt habe.

Dreimal so viele Suizidversuche, das habe ihn dennoch überrascht, sagt Dohna-Schwake – im Vergleich zu den geringeren Zahlen im ersten Lockdown habe sich die Zahl sogar vervierfacht.

Nur eine Schätzung

Wie er darauf kommt? Dohna-Schwake sammelte mit seinem Team Daten von 27 Kinderintensivstationen in Deutschland, die „etwa 18 bis 20 Prozent“ aller Kinderintensiv-Betten abdeckten. Das überschlug der Medizinier dann: Hochgerechnet auf Deutschland sei, in einem Zeitraum von 2,5 Monaten am Ende des zweiten Lockdowns, von „ungefähr 450 bis 500 stationären Aufnahmen wegen eines Suizidversuchs“ auszugehen.

Da zur aktuellen Erhebung noch keine Veröffentlichung existiert, bleiben viele methodische Aspekte aber im Dunkeln. Schon in Dohna-Schwakes früherem Preprint zur Situation im ersten Lockdown ist die statistische Unsicherheit der Ergebnisse sehr hoch – wie es sich an sogenannten Konfidenzintervallen zeigt, die angeben, in welchem Bereich die Werte mit hoher Wahrscheinlichkeit liegen. Dass sich, wie er im DUP-Video sagt, die Zahl der Suizidversuche verringert hatte, konnte die damalige Studie also gar nicht sicher feststellen.

Dohna-Schwake erklärt auf Nachfrage von Übermedien, er könne nichts dazu sagen, wie die Entwicklung der Suizidversuche zwischen den an der neuen Erhebung beteiligten Intensivstationen variiere. Insgesamt entspreche der Anstieg einem Faktor von 2,84, das Konfidenzintervall reiche von 2,29 bis 3,49. Und die Angabe von bis zu 500 Suizidversuchen in dem untersuchten Zeitraum basiert ja auf einer simplen Hochrechnung: Dohna-Schwake und sein Team schätzten lediglich, wie viele Suizidversuche zu Behandlungen auf allen Kinderintensivstationen geführt haben könnten.

Eine Folge der Corona-Maßnahmen?

Manche Medien ordnen die Zahlen etwas ein. Der „Spiegel“ etwa schreibt, dass wohl nicht alle Kinderintensivstationen in Deutschland Jugendliche aufnehmen, sondern manche auf frühgeborene Babys spezialisiert seien. Die Hochrechnung könne deshalb falsche Ergebnisse liefern. Andererseits würden Jugendliche teilweise auf Erwachsenenstationen behandelt.

Auch Focus.de weist darauf hin, dass die Zahl der „bis zu 500“ Suizidversuche lediglich eine Schätzung sei. Nachgewiesen seien lediglich 93 Suizidversuche, bei denen aber auch nicht erfasst wurde, ob es einen Zusammenhang mit der Corona-Krise gibt.

Was das nächste Problem ist: Ist die Zunahme der Suizidversuche, von der Dohna-Schwake ausgeht, eine Folge der Pandemie bzw. der Maßnahmen? Seine Untersuchung erlaubt darüber keinerlei Rückschlüsse, auch nicht über die Entwicklung der Suizidversuche über einen längeren Zeitraum. Laut einer Studie aus Katalonien stieg beispielsweise die Zahl der Suizidversuche bei Mädchen im Zeitraum September 2020 bis März 2021 um 195 Prozent – über den Zeitraum eines Jahres stieg die Zahl für alle Jugendlichen dort jedoch lediglich um 25 Prozent, unter Erwachsenen sank sie sogar.

Suizidgedanken seien „unter Teenagern eine Konstante, die Teil der Entwicklung in dieser mitunter schwierigen Phase ist“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Kölch von der Universitätsklinik Rostock gegenüber der „Welt“. Kölch ist Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er findet, es bedürfe umfassenderer Forschung, um Rückschlüsse zur Situation in der Pandemie ziehen zu können. Er jedenfalls habe keine Vervielfachung der Fälle feststellen können:

„Generell brauchen wir deutschlandweit mehr Daten als die Zahlen aus der Umfrage der Uni Essen.“

Auch handele es sich um vergleichsweise kleine Zahlen, sagt Kölch, so dass Veränderungen nur vorsichtig interpretiert werden dürfen. Wichtig sei zudem die Zahl der vollendeten Suizide, die 2020 nicht gestiegen sei – und für 2021 gebe es noch keine Daten.

„Das Problem ist die Skandalisierung“

Der Psychologe Georg Fiedler sagt im Gespräch mit Übermedien, er finde es problematisch, dass die Aussage des Forschers kritiklos aufgenommen worden sei. Und sie wurde von Medien ja auch noch mal zugespitzt. Dabei habe sich Dohna-Schwake noch recht differenziert geäußert.

Fiedler hat das Nationale Suizidpräventionsprogramm in Deutschland mitgegründet und war lange am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) tätig. „Es kann sein, dass die Zahl der Suizidversuche zunimmt – aber wir wissen es nicht“, sagt er. Da die Studie noch nicht veröffentlich wurde, sei sie wissenschaftlich „derzeit eigentlich gar nicht vorhanden“. Trotzdem werde sie als Fakt dargestellt. „Das Problem ist die Skandalisierung auf der Grundlage fehlender Daten.“ Den Kindern und Jugendlichen tue man damit keinen Gefallen. „Das Thema ist besonders heikel“, sagt Fiedler, „weil hierzu so viele Gerüchte in die Welt gesetzt werden.“

Womöglich, glaubt er, hänge der angeblich starke Anstieg mit Details der Erhebung zusammen. Wenn es in Essen und den anderen Standorten hohe Zahlen gegeben habe, nicht aber deutschlandweit, könne dies ebenso zu einer Verzerrung führen wie Veränderungen der Erhebungsweise. Ein Problem sei auch, dass der Anstieg in Verbindung zu Schutzmaßnahmen gebracht werde, nicht zur Pandemie insgesamt – was die Sache natürlich politisch macht.

Im DUP-Video hatte Moderator de Buhr gefragt, ob Schulschließungen die Situation verschärft hätten. Dohna-Schwake antwortete, das könne man nicht eindeutig beantworten, aber soziale Kontakte wirkten natürlich präventiv. Insofern sei Schule der Ort sozialer Kontakte und „das Offenhalten der Schulen“ sei „sicherlich das A und O der präventiven Maßnahmen“. Deshalb empfahl er, die Schulen offen zu lassen „solange es irgendwie geht“. Auch gegenüber der FAZ hatte Dohna-Schwake diverse mögliche Gründe für den Anstieg genannt. Alles nur Überlegungen, Belege gibt es nicht.

Auf Anfrage von Übermedien sagt Dohna-Schwake, er werde sich „nochmal überlegen“, ob er künftig wieder so schnell an die Öffentlichkeit gehe. Doch das Fachmagazin, bei dem er das Manuskript eingereicht habe, erlaube keine Veröffentlichung eines Preprints. „Weil ich von meinen Zahlen, die ich selbst erhoben habe, überzeugt bin, glaube ich denen natürlich“, sagt er. Es sei unbenommen in seinen Augen, „dass es ein wichtiger Beitrag ist“, und er sehe sich nicht als „Effekthascher“. „Ich glaube, dass ich zumindest nach meinem besten Wissen und Gewissen alle Unsicherheiten mitkommuniziert habe.“ Die Berichterstattung müssten „andere beurteilen“.

Von bundesweit 500 Suizidversuchen während des Beobachtungszeitraums spricht Dohna-Schwake auf Nachfrage inzwischen nicht mehr: „Ob es 350 oder 450 Suizidversuche waren, werde ich nicht sagen können – aber ich kann ziemlich sicher sagen, dass es sich in diesem Bereich aufgehalten hat“. Konfidenzintervalle hierfür gebe es nicht. Ob die beteiligten Intensivstationen repräsentativ seien und eine valide Hochrechnung erlaubten, sei nicht hundertprozentig eindeutig, aber es sei zumindest „nahe dran“, sagt Dohna-Schwake. „In gewisser Weise war es eine zufällige Auswahl – weil ich alle angeschrieben habe und nur diese mitgemacht haben.“

„Das hat mit Repräsentativität nichts zu tun – das ist schon per se ein Bias“, sagt Fiedler. Denn die Stationen, die sich beteiligt haben, könnten ein besonderes Interesse und besondere Beobachtungen gemacht haben.

„Relevanter Content“, steile Thesen

Das Videoformat „Chefvisite“, das alles angestoßen hat, gibt als Partner nicht nur die Universitätsklinik in Essen und den Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) an, sondern auch etliche regionale Medien: die „Neue Osnabrücker Zeitung“, den „Südkurier“, die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ und andere. Die täglich produzierten Sendungen würden den Partnern zur Verfügung gestellt, erklärt de Buhr auf Nachfrage. „Mit dieser Bündelung an Reichweite bekommen wir interessante Gäste, die etwas zu sagen haben.“ Mit „relevantem Content“ würden das DUP-Online-Angebot und der YouTube-Kanal „gepusht“.

Zu dem relevanten Content gehört beispielsweise auch eine andere Ausgabe der „Chefvisite“, in der es kürzlich um „ARD/ZDF-Alarmismus“ ging. Es gebe bei den Sendern „immer dieselben Experten und immer dieselbe Meinung“, sagt de Buhr in der Sendung. Immer heiße es „Die Gefahr ist groß“ und „Lasst euch impfen, so wie auch die Regierung will – am besten auch noch mit Impfpflicht!“. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer der „Chefvisite“ hätten den „öffentlich-rechtlichen Mainstream“ satt.

Mit diesen und anderen Themen versucht das Medienbündnis aus verschiedenen Regionalzeitungen Reichweite zu machen. Im Fall der Studie, die es noch nicht gibt, mit Erfolg. Viele Medien missachteten dabei, was der Pressekodex empfiehlt:

„Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden.“

Insgesamt wirke es „wie ein PR-Coup des Videoblogs“, sagt Psychologe Fiedler. Er wünscht sich, dass für Kinder und Jugendliche mehr getan werde, auch ohne die Publikation solch schrecklicher Daten: „Die Forscher sollten nur darüber reden, wenn die Studie oder zumindest ein Preprint vorliegt – und Medien sollten darüber berichten, wenn es überprüfbar ist.“

14 Kommentare

  1. Bereits vor einem Jahr wurde von verschiedenen Seiten eine deutliche Zunahme der Suizide vorausgesagt. Die Daten, die seit Ende letzten Novembers für 2021 vorliegen, geben das jedoch nicht her:
    https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/suizide.html

    Die Anzahl Suizide ist demnach in Deutschland gegenüber 2019 nur leicht (1.8%) gestiegen. In der hier betrachteten Gruppe der unter 20jährigen gibt es sogar einen leichten Rückgang (180 vs. 185 in 2019). Zudem kann man nicht oft genug betonen, dass sich die Anzahl Suizide gegenüber 1980 (nur BRD West) bis heute halbiert hat – und das bei einer 30%igen Zunahme der Bevölkerung (v.a. durch die Wiedervereinigung).

    Es natürlich möglich, dass es im letzten Jahr zu einer massiven Zunahme an Suizidversichen unter Jugendlichen kam. Angesichts der vorliegenden Zahlen wäre dies jedoch ziemlich überraschend. Vermutlich wissen wir erst im November dieses Jahres mehr.

  2. Danke für diese kritische Einordnung. Ich hatte vorher zwar davon gelesen, die Sache aber als Panikmache abgehakt und schnell wieder vergessen.

    Wie wenig aber tatsächlich dran ist an der Sache, ist erschreckend. Zumal ich einfach mal voraussetze, dass vorher die allerwenigsten konkret sagen konnten, wie viele Suizide es pro Jahr in Deutschland gibt. Aber alle reagieren mit maximaler Aufgeregtheit: „WAS 500!!!! NÄÄÄ, DAS GIBT ES DOCH NICHT. WIR BRINGEN UNS ALLE SELBST UM! WEGEN COROONAAA“ Lächerlich.

    Vollständig ins Aus geschossen hat sich der Essener Arzt Dohna-Schwake dann damit: „In gewisser Weise war es eine zufällige Auswahl – weil ich alle angeschrieben habe und nur diese mitgemacht haben.“
    Psychologe Fiedler bzw. Hinnerk Feldwisch-Drentrup stellen das natürlich gleich richtig. Dennoch sehe ich hier eine völlig unprofessionelle, unwissenschaftliche Haltung bei Dohna-Schwake. Wenn ich eine Umfrage mache und auf Facebook und Twitter zur Teilnahme aufrufe, am Ende aber nur meine Oma und meine Freundin mitmachen, habe ich dann repräsentative Ergebnisse? Laut Dohna-Schwake-Logik („eine zufällige Auswahl“) auf jeden Fall.

    In einem weiteren Artikel könnten Sie, Herr Feldwisch-Drentrup, doch vielleicht mal über den Unterschied zwischen einer zufälligen Auswahl (und den vielen Arten davon) und Repräsentativität schreiben. Offenbar gibt es da sogar bei Wissenschaftlern erhebliche Wissenslücken.

  3. @Sid
    „In einem weiteren Artikel könnten Sie, Herr Feldwisch-Drentrup, doch vielleicht mal über den Unterschied zwischen einer zufälligen Auswahl (und den vielen Arten davon) und Repräsentativität schreiben. Offenbar gibt es da sogar bei Wissenschaftlern erhebliche Wissenslücken.“

    Grundsätzlich (das meinen Sie glaube ich auch) hilft echte Zufälligkeit ja bei der Repräsentativität, ist oftmals aber extrem schwer zu erreichen und leider nicht so offensichtlich verletzt in jedem Fall. Dass allerdings die obige Auswahl („die haben halt geantwortet“) als „im gewissen Sinne zufällig“ bezeichnet wird, ist schlichtweg absurd, da bin ich auch ganz bei Ihnen. Gab es hier nicht mal einen Artikel über Meinungsumfragen, der genau das Thema beleuchtet hat?
    Da ging es um die Unterschiede der Meinungsforschunginstitute und deren Methoden, z.B. Telefon vs Internet, Gewichtungsfunktionen um systematische Fehler auszugleichen, etc.

  4. Besonders perfide ist daran, dass mit dieser sogenannten „Studie“ landauf, landab das Mantra „Schule muss UM JEDEN PREIS in Präsenz stattfinden“ begründet wird. In fast jedem Wortbeitrag von Politiker:innen zu dieser Frage wird die Studie direkt oder indirekt zitiert. Mit den „Ergebnissen“ wird begründet, dass es für Kinder und Jugendliche gefährlicher sei, sie im Distanzunterricht zu beschulen, als sie auch bei Höchstinzidenzen zur Schul-Präsenz zu zwingen. Auch der Frame, dass unsere Schulen, Orte der sozialen Interaktion, des Austauschs und der psychischen Erholung sind … na das lasse ich mal. Und last but not least: Könnte sich bitte auch mal jemand der Aussage „für Kinder ungefährlich“ widmen? Danke!

  5. „Eines der Probleme: Sie behaupten zum Teil, dass laut der Studie die Corona-Einschränkungen der Grund für den Anstieg der Suizidversuche sei. Dabei wurden die Ursachen gar nicht untersucht.“

    Den Kritikpunkt finde ich erstmal wenig valide, weil sich die Ursachen von Suiziden noch schwieriger untersuchen lassen als die Zahlen an sich. Wenn sich die Zahl der (versuchten) Suizide 2020 oder 2021 tatsächlich erhöht hätte, würde man das wohl auch ohne weitere Ursachenforschung am ehesten mit der Pandemie in Verbindung bringen. Aber dafür müssten dann wenigstens valide Zahlen vorliegen. (Und dass manche Meinungsmacher alles auf die Gegenmaßnahmen schieben und so tun, als gäbe es gar keine Kollateralschäden, wenn man die Pandemie einfach hätte durchlaufen lassen, ist natürlich auch so ne Sache.)

    „[…] soziale Kontakte wirkten natürlich präventiv. Insofern sei Schule der Ort sozialer Kontakte und „das Offenhalten der Schulen“ sei „sicherlich das A und O der präventiven Maßnahmen“.“

    Wirklich? Aus dem Bauch heraus würde ich ja annehmen, dass Schule und soziale Kontakte sich ebenso positiv wie negativ auf Suizidversuche auswirken können, Stichwort Mobbing.

    „Das Interview im DLF aber begann mit dem interessanten Satz: ‚Wer eigene Kinder hat, der braucht keine Experten.'“
    Ein entsetzlich dummer Satz.

    Und die einzig echte Chefvisite findet sowieso in der Eppendorfer Grillstation statt.

  6. Peinlich für den DLF, dass…
    #Der Moderator sagte:
    „Eine aktuelle Studie der Uniklinik Essen belegt: Die Suizidversuche unter Jugendlichen haben sich am Ende des zweiten Corona-Lockdowns mehr als verdreifacht. Wie erklären Sie sich, Frau Ministerin, diese dramatische Entwicklung?“#
    …denn er stellte etwas, das er selbst offensichtlich nicht verstanden hatte, als Fakt hin und konstruierte daraus eine Suggestivfrage. Natürlich frage ich mich dabei, ob es zwischen Heinlein und Spiegel bzw. deren Referenten kein echtes Vorgespräch gegeben hat. Wenn ich in ein Interview mit so einer steilen Behauptung einsteige, muss ich sicher sein können, dass die Interviewte sich mit der entsprechenden Quelle befasst hat. Das gilt umso mehr, als man als Profi weiß, dass Politiker bei einem seriösen Medium unterstellen, dass ihnen schon kein Unsinn präsentiert wird, sondern recherchierte Fakten, und dann von dieser Prämisse ausgehend antworten. Immerhin war das Thema ja nicht „Suizidversuche“. Sondern die Impfpflicht und die Nöte der SuS. Eine Ministerin kann dann nicht zugeben, nur die Schlagzeile der Bild überflogen zu haben, und muss so tun, als sei sie im Bilde über die „Studie“, die keine war.

  7. @3: Mit der Einschränkung haben Sie natürlich Recht – und ja, das meine ich natürlich auch. :) Es wird halt schnell komplex bei Statistik. Umso schlimmer, dass damit so oft so…ich sag mal freundlich…hemdsärmelig umgegangen wird. Entsprechend ist dann die Qualität der erzeugten Daten und der Nutzen der Studie.

  8. Jenseits der Berichterstattung über die fragwürdige Studie ist die „Chefvisite“ ja eine noch größere Goldgrube für Medienkritiker, als es der Absatz, in dem es um die Ausgabe zum „ARD/ZDF-Alarmismus“ geht, vermuten lässt.

    @5 Man kommt tatsächlich jedes Mal, wenn dieser Moderator sagt „Ich leite den Medienverbund Chefvisite“ nicht umhin, an die Eppendorfer Grill-Station zu denken.

  9. Es war sogar Thema im Bundestag, am Tag, als über den Etat des Familienministeriums debattiert wurde. Leider wurde auch hier von einer Verdreifachung als Fakt gesprochen.

  10. @11
    Vorsicht mit voreiligen Schlüssen! Das im Standard referierte Paper ist das Preprint einer Online-Befragung mit extremer Schlagseite zu weiblichen Befragten (mehr als drei Viertel der Stichprobe). Außerdem lief die Umfrage zu einer Zeit mit Präsenzunterricht:
    „A cross-sectional online survey was conducted via REDCap (Harris et al., 2019) from 14th September 2021 to 14th November 2021. The survey was conducted at the beginning of the second semester of reopened schools. At the time of the survey in Austria schools were fully open and there was no lockdown in place. Protective measures in classes included regular COVID-19 tests and wearing face masks outside the classroom. General COVID-19 measures in Austria during the time of the survey relied mainly on the “3G rule”, referring the need for presenting proof of vaccination, recovery from COVID-19 or a negative test to visit restaurants, hotels, hairdressers, sports centres, take part in events etc.“
    Bei der Lektüre stolpert man rasch über diesen Satz:
    „The cut-off for clinically relevant depressive symptoms (i.e., PHQ-9 score, ≥11) was exceeded by 61.9% girls and 38.1% boys.“
    Was für ein Zufall, dass beide Werte zusammen exakt 100,0 % ausmachen! Wäre ich Peer Reviewer, würde ich an dieser Stelle genau hinschauen, ob da irgendwelche Zahlen durcheinandergekommen sind. Seltsamerweise werden die Nonbinären, die angeblich besonders suizidgefährdet sind, an dieser Stelle gar nicht erwähnt, an anderen Stellen jedoch schon (bezüglich der Schwelle zur klinischen Relevanz bzw. dem Vorkommen binnen zwei Wochen), und das spräche für einen Zufall:
    „The cut-off for clinically relevant depressive symptoms (ie, PHQ-9 score, ≥11) was exceeded by 61.9% girls, 38.1% boys and 94.1% non-binary students.“
    „The prevalence of suicidal ideation (item 9 of the PHQ-9) within the last 2 weeks was 46.8% in girls, 32.0% in boys and 90.2% in students with non-binary gender identity.“
    Der Begriff „Selbstmordgedanken“ wird dabei so weit gefasst, dass auch Überlegungen darunter fallen, sich selbst irgendwelche non-letalen Verletzungen zuzufügen (etwa sich zu ritzen):
    „Suicidal Ideation: Item 9 of the PHQ-9 asks: “Over the last two weeks, how often have you been bothered by thoughts that you would be better off dead or of hurting yourself in some way?”. Response to this question was coded in a binary way to detect any recent suicidal ideas within the last two weeks (presence of suicidal thoughts = response to item 9 ranged from 1 to 3; absence of suicidal thoughts = response to item 9 was 0).“
    Interessanterweise berichteten von den 30 bzw. 34 Teilnehmenden der beiden Befragungsrunden, die mit ihrer Geschlechtszuweisung hadern, nur zwei nicht von suizidalen Anwandlungen, während Mädchen während der Pubertät grundsätzlich viel gefährdeter zu sein scheinen als Jungs. Ein Zusammenhang mit Corona-Maßnahmen lässt sich daraus also schwerlich ableiten, und das tun die Autoren des Papers eigentlich auch gar nicht. Sie schreiben (auf Englisch) Folgendes:
    „Obwohl Schulschließungen und -beschränkungen wahrscheinlich eine Rolle für die psychische Gesundheit spielen…, scheinen auch allgemeinere Pandemiefaktoren eine Rolle zu spielen, wie z. B. der Anstieg der täglichen COVID-Fälle …, die langsamen Impfraten in Österreich, die Erschöpfung/der Abbau der psychischen Ressourcen … und die Sorge um die Zukunft …. Weitere Studien sind erforderlich, um die Gründe für die anhaltende psychische Belastung bei Jugendlichen besser zu verstehen.
    Der Querschnittscharakter der Studie, die ausschließliche Verwendung von Selbsteinschätzungsinstrumenten sowie die Möglichkeit einer Verzerrung durch Selbstselektion aufgrund der Online-Durchführung der Studie sind wichtige Einschränkungen, die zu beachten sind. Insgesamt unterstreichen diese Ergebnisse die Notwendigkeit, rechtzeitig Gesundheitsförderungs- und Präventionsstrategien umzusetzen, um die durch die COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen verursachte psychische Belastung bei jungen Menschen zu verringern.“ (Übersetzt mit http://www.DeepL.com/Translator)

    Auch die Zahlen aus dem AKH Wien sind mit Vorsicht zu genießen. Sie beziehen sich auf das 1. Halbjahr 2021, also die Zeit, als Impfungen für Minderjährige noch nicht verfügbar waren. Außerdem muss man, um das vergleichen zu können, schon wissen, welche Corona-Regeln in dieser Zeit in Österreich herrschten. Und dann müsste man qualitativ an die Fälle herangehen, um durch Befragungen der Patient:innen deren Beweggründe herauszubekommen. Also rüsten Sie am besten mal empörungstechnisch ab und warten mal, ob noch weitere seriöse (!) Indizien für Ihre Vermutungen kommen.

  11. @Ulf J. Froitzheim
    Die Frage ist, ob Indizien, die Ihrer Sicht der Dinge widersprechen, überhaupt seriös sein können. Sind solche Indizien nicht per se „mit Vorsicht zu genießen“?

    Wenn ich mit Esoterikern oder anderen Gläubigen diskutiere, stelle ich meistens eine simple Frage: „Kannst du dir grundsätzlich vorstellen, dass irgendetwas deine Meinung zum Thema ändern könnte? Wenn ja, was wäre das konkret?“ Wenn darauf keine brauchbare Antwort kommt, breche ich die Debatte meistens ab.

  12. @Helmut #13
    Indizien… sind nicht seriös oder unseriös, sondern: Indizien. Nicht mehr, nicht weniger. Deshalb verweisen die Autor:innen des Papers selbst darauf, dass sie die Gründe für das Beobachtete nicht aus den erhobenen Daten herauslesen können. Sie stellen nicht einmal eine Hypothese zur Kausalität auf. Es gibt also keinen Grund, hier PLURV-mäßig herumzuraunen. Niemand sagt, dass etwas nicht sein kann. Aber mit Rosinenpickerei kommt man der Wahrheit nun mal auch nicht näher – wie wir alle aus bald zwei Jahren Beobachtung der Leerdenker wissen.

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