Fußnoten (28)

The Full Montgomery

Zu der speziellen Allgemeinbildung meiner Generation, die noch mit dem Radio aufgewachsen ist, gehört der Zauber bestimmter Begriffe, die über Jahrzehnte praktisch jede Stunde darin aufgetaucht sind, wie „Kamener Kreuz“, „Biskaya“ und „Frank Ulrich Montgomery“. Es sind mythische Begriffe, bei denen wir nur ein diffuses Bild davon haben, was sie bedeuten, aber sie tragen in sich das Versprechen einer weiten, wilden Welt voller Staus von mehr als zehn Kilometern Länge, Herbststürmen und Ärzten am Rande des Zusammenbruchs.

Frank Ulrich Montgomery
Frank Ulrich Montgomery Foto: Kasa Fue CC BY-SA

Montgomery ist „Weltärztepräsident“, wie es Medien nennen, und anders als es meine Radio-Generation annimmt, war er nicht einfach immer schon ein Sprecher der Ärzteschaft, hat aber nach eigener Aussage immerhin „40 Jahre Standespolitik auf dem Buckel“. 1)Zum Vergleich: Das Kamener Kreuz ist etwa doppelt so alt. Es fühlt sich aber nach mehr an, was daran liegt, dass Montgomery in den 40 Jahren alles über die so genannten „Gesetzmäßigkeiten der Medien“ gelernt hat, was man überhaupt nur wissen kann. Und das erzählt über Medien genau so viel wie über Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery.

Weltärztepräsidentenvorsitzender

Es beginnt mit dem Detail, dass es keinen Weltärztepräsidenten gibt. Was es gibt, ist die Position eines Präsidenten des Weltärztebundes,2)Interessanterweise hat der Weltärztebund auch einen „Immediate Past-President“. Es ist nicht genau ersichtlich, ob das der „bis gerade eben noch Präsident“ ist, was insofern komisch wäre, als es auch schon einen „President Elect“ gibt, also den nächsten, oder praktischerweise ein „Präsident für die unmittelbare Vergangenheit“. Ich wäre für Letzteres, weil man nach jeder Entscheidung sagen könnte: Das ist jetzt aber schon mehrere Minuten her, für die unmittelbare Vergangenheit bin ich nicht zuständig. und das ist, ganz genau, nicht Montgomery, sondern eine Präsidentin mit dem Namen Heidi Stensmyren. Montgomery ist der Vorsitzende der Weltärztekammer, also des Verbundes der nationalen Ärztekammern. 3)Er war vorher Präsident der Bundesärztekammer, was uns zu der ironischen Situation bringt, dass er jetzt nicht Präsident ist, aber Vorsitzender eines Gremiums aus vielen Präsidenten, nämlich ihrer jeweiligen nationalen Ärtztekammern. „Weltärztepräsident“ ist eine Erfindung „der Medien“,4)Die sie inzwischen weitgehend wieder abgeschafft haben, was offenbar nicht zuletzt an dem unermüdlichen Kampf des Grünen-(Ex-Piratenpartei-, Ex-SPD-)Politikers Christopher Lauer auf Twitter liegt. die gut klingt und sich mit nur mittelmäßiger Mühe nahezu schlüssig herleiten lässt, also stehen bleibt, so lange sie nicht umfassend, lautstark und mindestens 147 mal widerlegt ist. 5)Ein Schulbeispiel für diese Kategorie Bezeichnung wäre der Begriff „Star-Designer“. Erst danach benutzt sie grob geschätzt die Hälfte der Medien nicht mehr. Es gibt Gründe, den Begriff „Weltärztepräsident“ trotzdem zu benutzen, nur eben keine guten.

Als Weltärztepräsident6)Come on, es ist kürzer als „Vorsitzender der Weltärztekammer“! ist Montgomery für Journalisten jemand, den man anruft, wenn man ein knackiges Zitat zu „Irgendwas mit Ärzten“ braucht.7)Jeder gute Nachrichtenredakteur hat so etwas zu allen Themen, die gerade eine große Rolle spielen. Wenn es um irgendwas mit Polizei geht, ruft man zum Beispiel Rainer Wendt an, den Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft (oder, wie er es fühlt: „Weltpolizistenpräsident“), der haut dann schon einen raus. In der aktuellen Pandemie also eher oft.

Montgomery ist wortgewandt und meinungsstark, und er war bis vor wenigen Jahren (er wird dieses Jahr 70) nicht nur Funktionär, sondern tatsächlich praktizierender Radiologe in der Hamburger Uniklinik. Zu Themen des Medizinbetriebs8)Er ist kein Virologe, aber er tut auch nicht so, als wäre er es – was ihn in diesen Zeiten in diesem Land IMHO zu einer schützenswerten Minderheit macht. ist er zweifelsohne kompetent, sprechfähig und sogar telegen, was selten genug ist, aber vor allem ist er sprechbereit.9)Zur Abgrenzung: s.a. → Drosten, Christian Und eitel.10)Im Interview mit der FAZ bezeichnet er sich selbst gar als Narzisst, was aber wohl nicht im klinischen Sinne gemeint ist. Ich verstehe als als Stehen zur eigenen Eitelkeit. Die perfekte Fallstudie also dafür, was unsere Kamener-Kreuz-Generation mit den „Gesetzmäßigkeiten der Medien“ einmal gemeint haben wird.

Seine größte Sorge

Da ist Paragraf 1: die Zuspitzung. In einem Interview mit „den Zeitungen der Funke-Gruppe“ sagte Montgomery Ende November, seine größte Sorge sei, „dass es zu einer Variante kommen könnte, die so infektiös ist wie Delta und so gefährlich wie Ebola“. Das ist nach den Gesetzmäßigkeiten der Medien ein schlauer Satz, nach allen anderen nicht. Ich lasse jetzt den Teil aus, in dem ich darüber spekuliere, ob das wirklich die größte Sorge von Frank Ulrich Montgomery ist, ich glaube es aber nicht. Wahrscheinlich sorgt er sich im Moment doch eher über das tatsächliche Geschehen als über eine eher abstrakte, unwahrscheinliche Möglichkeit. Ich glaube, die Formulierung „der schlimmste denkbare Fall wäre, wenn es …“ hätte es besser getroffen.11)Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass ich behauptet habe, ich ließe den Teil mit dem Spekulieren aus, nur um es dann doch zu tun. Ich bin eben auch schlau.

Sicher davon ausgehen können wir aber, dass der medienerfahrene Weltärztepräsident12)Es klingt einfach saugut. wusste, dass sein Schreckens-Szenario zum Zitat taugt. Die dpa tat ihm sogar den Gefallen, ihre Kurzmeldung zu dem Interview mit einer völlig überzogenen Headline über den Verteiler (und damit automatisch in eine ganze Reihe seriöser Online-Medien) zu schicken: „Pandemie – Montgomery warnt: Virusvariante ‚so gefährlich wie Ebola‘“. Das war einen Tag, nachdem Omikron von der WHO als „besorgniserregende Variante“ eingestuft wurde, es sei also jedem verziehen, wenn er die Schlagzeile darauf bezogen hat und nicht auf ein Gedankenspiel. Es war aufgegangen, Montgomery war auf allen Kanälen.

Dass die „Ebola-Variante“ kein Zufall war, sondern Montgomerys Verständnis und ziemlich virtuosen Umgang von und mit Medien sehr beispielhaft illustrieren, zeigte er nur ein paar Wochen später in einem Interview mit der „Welt“:

Ich stoße mich daran, dass kleine Richterlein sich hinstellen und wie gerade in Niedersachsen, 2G im Einzelhandel kippen, weil sie es nicht für verhältnismäßig halten. Da maßt sich ein Gericht an, etwas, das sich wissenschaftliche und politische Gremien mühsam abgerungen haben, mit Verweis auf die Verhältnismäßigkeit zu verwerfen. Da habe ich große Probleme.

Eine gezielte Provokation

Und natürlich wusste er, dass seine an sich ja vollkommen zulässige Meinungsäußerung erst durch die Schmähkritik an den „kleinen Richterlein“ großes Echo finden würde. Es sei, erzählte er in der FAZ wenig später,13)Paragraf 2 der Mediengesetzmäßigkeiten lautet in etwa: Paragraf 1 wird so oft wie möglich wiederholt. „eine gezielte Provokation“. Und natürlich sind auch Provokationen zulässig. Aber Montgomery wäre nicht Weltärztepräsident, wenn er nicht einen draufsetzen würde. „Meine Aussagen sind natürlich nicht harmlos“, sagt er, „doch die Diskussion zeigt mir, dass es in Deutschland ein Problem gibt, wenn man Rechtsprechung kritisieren will.“

Das Faszinierende ist, wie bewusst ihm in diesem Moment sein muss, welchen Unsinn er da erzählt. Ich habe extra sein erstes Zitat in der „Welt“ oben komplett stehen lassen, obwohl es langweilig ist, aber bitte folgen Sie mir da noch einmal durch: Hätte er in der „Welt“ statt „kleine Richterlein“ einfach nur „Richter“ gesagt, wäre das Zitat nicht weiter aufgefallen. Er weiß das, deshalb sagt er ja „Richterlein“. Was wiederum genau das Gegenteil dessen belegt, was er in der FAZ behauptet. Es gibt eben überhaupt kein Problem damit, Gerichtsurteile zu kritisieren, im Gegenteil, es geht völlig unter, weil es so normal ist. Wahrscheinlich gehört das zu den Gesetzmäßigkeiten der Medien: Etwas zu finden, das gerade so außerhalb der erfahrbaren Wahrheit liegt, aber mythisch aufgeladen ist. Einen Weltärztepräsidenten. Eine Horror-Mutation. Ein Problem damit, die Justiz zu kritisieren.

Ich muss unbedingt bald mal fahren und nachgucken, ob es die Biskaya wirklich gibt.

Fußnoten

Fußnoten
1 Zum Vergleich: Das Kamener Kreuz ist etwa doppelt so alt.
2 Interessanterweise hat der Weltärztebund auch einen „Immediate Past-President“. Es ist nicht genau ersichtlich, ob das der „bis gerade eben noch Präsident“ ist, was insofern komisch wäre, als es auch schon einen „President Elect“ gibt, also den nächsten, oder praktischerweise ein „Präsident für die unmittelbare Vergangenheit“. Ich wäre für Letzteres, weil man nach jeder Entscheidung sagen könnte: Das ist jetzt aber schon mehrere Minuten her, für die unmittelbare Vergangenheit bin ich nicht zuständig.
3 Er war vorher Präsident der Bundesärztekammer, was uns zu der ironischen Situation bringt, dass er jetzt nicht Präsident ist, aber Vorsitzender eines Gremiums aus vielen Präsidenten, nämlich ihrer jeweiligen nationalen Ärtztekammern.
4 Die sie inzwischen weitgehend wieder abgeschafft haben, was offenbar nicht zuletzt an dem unermüdlichen Kampf des Grünen-(Ex-Piratenpartei-, Ex-SPD-)Politikers Christopher Lauer auf Twitter liegt.
5 Ein Schulbeispiel für diese Kategorie Bezeichnung wäre der Begriff „Star-Designer“.
6 Come on, es ist kürzer als „Vorsitzender der Weltärztekammer“!
7 Jeder gute Nachrichtenredakteur hat so etwas zu allen Themen, die gerade eine große Rolle spielen. Wenn es um irgendwas mit Polizei geht, ruft man zum Beispiel Rainer Wendt an, den Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft (oder, wie er es fühlt: „Weltpolizistenpräsident“), der haut dann schon einen raus.
8 Er ist kein Virologe, aber er tut auch nicht so, als wäre er es – was ihn in diesen Zeiten in diesem Land IMHO zu einer schützenswerten Minderheit macht.
9 Zur Abgrenzung: s.a. → Drosten, Christian
10 Im Interview mit der FAZ bezeichnet er sich selbst gar als Narzisst, was aber wohl nicht im klinischen Sinne gemeint ist. Ich verstehe als als Stehen zur eigenen Eitelkeit.
11 Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass ich behauptet habe, ich ließe den Teil mit dem Spekulieren aus, nur um es dann doch zu tun. Ich bin eben auch schlau.
12 Es klingt einfach saugut.
13 Paragraf 2 der Mediengesetzmäßigkeiten lautet in etwa: Paragraf 1 wird so oft wie möglich wiederholt.

12 Kommentare

  1. Was mir nur spontan zu dem Thema einfällt ist, wie sehr doch solche Figuren auch durch „die“ Medien letztlich geschaffen werden.
    Mir fällt da auch immer der unsägliche Rainer Wendt ein, auch wenn es in den letzten Jahren 2-3 andere, kaum weniger obskure Figuren geschafft haben, auf die Schnellwahltasten der Journalisten zu wandern.

    Den Sermon abzuseien scheint weit bequemer und immer noch lukrativ genug in den Augen zu vieler.

  2. Wer Biskaya sagt muss auch Azoren sagen.
    Und Musterhausküchenfachgeschäft, zumindest in Nord-NRW.

  3. Fußnote 12 fasst es am besten zusammen.
    Wörter, die toll klingen, z.B.:
    Journalist A: „Das ist ein Quantensprung.“
    Journalist B: „Haha, ein Quantensprung ist doch sehr klein.“

    Quantensprünge sind tatsächlich die _kleinstmöglichen_ Sprünge, die in der jeweiligen Situation möglich sind. Aber das ist der Aufstieg von der zweiten in die erste Liga auch, weshalb das der Definition nach doch wieder ein Quantensprung wäre, was ich aber dennoch für einen Fall von „Es klingt einfach saugut.“ halte.

    Kamener Kreuz ist dahingegen völlig normal.

  4. Steht in der FAZ wirklich „Rechtssprechung“? Mag nicht bezahlen, um es zu kontrollieren, aber bei der Schreibweise rollen sich bei mir immer die Fußnägel hoch…

  5. Auch der Name Montgomery gibt was her, war doch auch ein Montgomery ein Feldmarschall im WK II.
    Gleichwohl: „kleine Richterlein“ gefällt mir – vor dem Hintergrund, dass der AfD Jens Meier wieder in den aktiven Richterdienst zurückkehrt.

  6. „Meine Aussagen sind natürlich nicht harmlos“, sagt er, „doch die Diskussion zeigt mir, dass es in Deutschland ein Problem gibt, wenn man Rechtsprechung kritisieren will.“

    Äh – doppelt nein:

    1. Wie im Text schon erwähnt, kann man gerichtliche Entscheidungen jederzeit für falsch halten und kritisieren. Das ist juristisches und journalistisches (wenngleich etwa bei der „BILD“ meist grob unverständiges) Alltagsgeschäft; ein Blick in eine juristische Fachzeitschrift (oder auch nur auf die Seite „verfassungsblog.de“ zum Verfassungsrecht) kann da lehrreich sein.

    2. Was der wie auch immer zu titulierende Arztrentner eigentlich kritisiert, ist aber nicht die konkrete Entscheidung des OVG Lüneburg (zu der er offensichtlich auch nichts beizutragen hat), sondern das dahinterstehende System, das durch Gewaltenteilung und die gerichtliche Überprüfung der Wahrung der Gestaltungsspielräume der Exekutive (es geht um Verordnungen!) bei der Setzung von Rechtsnormen (Verordnungen!) unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit (legitimes Ziel – geeignet – erforderlich – angemessen) gekennzeichnet ist. Die favorisierte Alternative ist offenbar exekutivische Allmacht bei der Normsetzung bei Nichtgeltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Also ein Willkür- und Obrigkeitsstaat. Der Mann ist damit ein Verfassungsverächter, womöglich ein Verfassungsfeind.

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