Vorwürfe gegen „Bild“-Chefredakteur

Reichelt – oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief

Man kann das, was Lorenz Maroldt vom „Tagesspiegel“ am Dienstag gemacht hat, mutig oder feige finden. Mutig, weil er in seinem Newsletter „Checkpoint“ endlich einen Teil der aufregenden Geschichten öffentlich gemacht hat, die man sich in der Branche über das angebliche unglaubliche Treiben von „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt und seinem Umfeld erzählt. Feige, weil er es nur verbrämt als fiktive Erzählung tat, als „Drehbuch für eine siebenteilige Serie über eine große Boulevardzeitung“.

In jedem Fall war es eine journalistische Kapitulation. Dadurch dass Maroldt möglicherweise wahre Geschichten als Fiktion erzählte, umging er alle Hürden, die einer seriösen Berichterstattung darüber im Weg standen. Er musste niemanden finden, der die geschilderten angeblichen Ereignisse bezeugte. Er musste die Gegenseite nicht mit den Vorwürfen konfrontieren. Er musste nicht entscheiden, ob die recherchierten Belege und Indizien für eine Berichterstattung ausreichen. Sogenannte „Verdachtsberichterstattung“ ist in Deutschland nur unter bestimmten Bedingungen zulässig, und Maroldt verzichtete einfach auf den Versuch, die zu erfüllen, und flüchtete sich in eine vage Erzählung mit unbestimmtem fiktiven Anteil – im Zweifel könnte er sich darauf berufen, dass er ja nicht behauptet hat, dass es so war, jedenfalls nicht bei „Bild“.

Das ist extrem problematisch. Zum einen für die Betroffenen: Nicht nur die Zeitung und ihre leitenden Mitarbeiter sind in der märchenhaften Erzählung leicht zu identifizieren, auch andere handelnde Personen. Sie sehen sich nun öffentlich mit Vorwürfen konfrontiert, gegen die sie sich wegen der Form kaum wehren können.

Es ist aber auch für das Publikum ein Problem: Was soll es von diesen Geschichten halten? Was soll es mit ihnen anfangen? Soll es sie für wahr halten? Für Fantasie? Ist es die leicht verbrämte Schilderung eines echten Skandals? Oder vage an die Realität angelehnter Quatsch?

Enthüllung durch Satire

Reichelt bei der Arbeit, gefilmt für die Amazon-Serie „Bild. Macht. Deutschland?“ Foto: Christoph Michaelis

Maroldts Geschichte war die konsequente Fortsetzung dessen, was am Freitag vergangener Woche in Videos von Friedrich Küppersbusch und Jan Böhmermann begann. Beide deuteten ebenfalls Vorwürfe gegen Reichelt und „Bild“ an und taten das in einer satirischen Form, die den genauen Wahrheitsgehalt offen ließ.

Vermutlich haben sie dadurch dazu beigetragen, dass der „Spiegel“ am Montag schon einen Teil des Dramas, über den sich journalistisch seriös berichten ließ, in eine Meldung goss. Und damit weitere Berichte auslöste.

Wir wissen bei Übermedien schon länger von verschiedenen Vorwürfen gegen Reichelt und haben zu dem Thema recherchiert. Deshalb habe ich, als ich die beiden Videos gesehen haben, gleich auf sie verwiesen und auf Twitter rumgeraunt. Auch das war, zugegeben, problematisch und unjournalistisch. Es trug dazu bei, den öffentlichen Druck zu erhöhen.

Klischee-Geschichten über den Boulevard

Die Geschichten, die man über „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt hört, sind nicht neu, und sie sind, einerseits, gar nicht überraschend. In der Art, wie sie haarsträubende Erzählungen rund um Sex und Drogen, Macht und Politik kombinieren, sind sie fast zu klischeehaft, zu erwartbar – und deshalb zu abwegig.

Ich weiß nicht, wie viele dieser Geschichten stimmen; ich gehe davon aus, dass sie nicht alle stimmen. Aber selbst wenn man die farbenfrohesten Anekdoten abzieht und die Gerüchte, die – ähnlich wie urbane Legenden – alle kennen, aber niemand aus erster oder zweiter Hand, bleibt eine ungeheure Menge an ungeheuren Anschuldigungen. Und dass angesichts dessen jemand in einer leitenden Position eines großen Unternehmens so unangreifbar scheint; dass über einen längeren Zeitraum immer die anderen gehen, vor allem die Frauen, aber er bleibt – das finde ich dann doch überraschend.

Auch für Julian Reichelt gilt die Unschuldsvermutung. („Auch“ hier im Sinne von: Sie gilt, obwohl „Bild“ sie in ihrer Berichterstattung über Verdächtige immer wieder spektakulär nicht gelten lässt.) „Julian Reichelt bestreitet die Vorwürfe“, haben Axel-Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner und News-Vorstand Jan Bayer der Belegschaft geschrieben. Notgedrungen bleibt unklar, welche Vorwürfe der „Bild“-Chef konkret bestreitet; im Zweifel alle, die ihn den Job kosten könnten.

Intime Beziehungen

„Es geht um die Vermischung von Amt und Beziehungen, um strukturellen Machtmissbrauch und das Ausnutzen von Abhängigkeiten.“ So fasst es die „Zeit“ heute zusammen und macht es konkreter:

Reichelt soll Mitarbeiterinnen, mit denen er eine intime Beziehung gehabt habe, begünstigt und teilweise später wieder fallen gelassen haben, so lauten jedenfalls die Vorwürfe. (…) in einigen Fällen soll es sich um junge, unerfahrene Journalistinnen gehandelt haben.

Ganz grundsätzliche Frage: Wo würde hier ein Problem beginnen? Wenn sich herausstellen sollte, dass Geschlechtsverkehr mit dem Chefredakteur tatsächlich Auswirkungen auf die Karriere im Haus hätte? Oder schon, wenn sich herausstellen sollte, dass ein Chefredakteur mit, sagen wir, Volontärinnen intime Beziehungen unterhält?

Was davon würde den Compliance-Regeln des Unternehmens Axel Springer widersprechen? Und was den Gepflogenheiten im Haus?

Eifersucht und Rache

Die Fachzeitung „Horizont“ fasst die Vorgänge mehr aus der Perspektive Reichelts zusammen:

Nicht auszuschließen ist, dass bei den Vorwürfen Eifersucht, vor allem aber Rachegefühle im Spiel sein könnten, denn eines ist klar: Bild-Chefredakteur Julian Reichelt hat intern wie extern Feinde, und zwar nicht wenige (…).

Das lässt die angeblichen Opfer Reichelts wie mutmaßliche Täter erscheinen.

Es klingt, als wäre es unprofessionell, nach dem Ende einer Beziehung mit einem Chef einen Groll gegen ihn zu hegen. Und nicht, als wäre es viel problematischer und unprofessioneller, wenn ein Chef intime Beziehungen mit Mitarbeiterinnen unterhält.

Der folgende Halbsatz steht bei „Horizont“ erstaunlicherweise ganz schutzlos im Indikativ: „eine Reihe intimer, aber einvernehmlicher Beziehungen, die der Bild-Chef in der Vergangenheit mit Mitarbeiterinnen geführt hatte“.

Als wäre das ganz normal oder sogar Teil der Job-Beschreibung.

Was für wen äußerst unangenehm ist

Es ist, das sei noch einmal betont, nicht bewiesen, ob und wenn ja welche Vorwürfe gegen Reichelt stimmen. Es ist auch unklar, ob die interne Untersuchung das aufklären kann, die Axel Springer vor drei Wochen nach einer förmlichen Beschwerde eines ehemaligen Mitarbeiters in die Wege geleitet hat. Julian Reichelt wurde für den Zeitraum, bis die Vorwürfe ausgeräumt sind, nicht freigestellt.

Natürlich würde ein solcher Schritt noch mehr zu einer Vorverurteilung in der Öffentlichkeit beitragen. Andererseits bedeutet der Verzicht darauf, dass der „Vorsitzende der Chefredaktionen und Chefredakteur“ (sic!) von „Bild“ nach wie vor im Amt ist und entsprechend Macht hat. Das dürfte auch Auswirkungen auf die Bereitschaft von Mitarbeiterinnen haben, sich gegenüber dem Unternehmen negativ über Reichelt zu äußern – oder auch nur gegenüber einer recherchierenden Anwältin, die zwar für eine externe Firma arbeitet, aber doch im Auftrag von Axel Springer.

Julian Reichelt hat das Recht, nicht voreilig zum Täter gemacht zu werden. Es besteht aber auch kein Anlass, ihn voreilig zum Opfer zu machen. Die Berichterstattung der vergangenen Tage hat teilweise eine Asymmetrie, weil sie ihn – auch zwangsläufig – nicht als Akteur, sondern als Gegenstand von Vorwürfen beschreibt. Beim Branchendienst „Meedia“ führte das sogar zu der Formulierung: „Für Reichelt sind die internen Ermittlungen äußerst unangenehm.“ Das ist zweifellos wahr, aber wie unangenehm mögen die Erfahrungen der Frauen gewesen sein, die vorher Macht und Möglichkeiten des „Bild“-Chefredakteurs erlebten?

Natürlich konzentriert sich die Branche jetzt darauf zu spekulieren, was das alles für Reichelt und „Bild“ bedeutet. Die Gefahr ist, dass dabei seine mutmaßlichen Opfer aus dem Blickfeld geraten. Auch sie haben viel zu verlieren – oder schon verloren. Es ist nachvollziehbar, wenn sie zögern, ihre Geschichten öffentlich zu erzählen. Trotzdem wäre es das jetzt das wichtigste: ihre Erfahrungen zu hören.

Und nicht nur als halbfiktionales Drehbuch oder im dreiviertelsatirischen Videobeitrag.

Lesen Sie auch: Vorläufig beurlaubt: Der Mann, der bei „Bild“ Julian Reichelt war

10 Kommentare

  1. Der Reichelt ist in seinem ganzen Auftreten (Kippe, Brusthaar, Rumgebrülle) das Klischee eines Schurken-Chefredakteurs – selbst für einen Kolportage-Roman eigentlich zu unglaubwürdig. Gerade deshalb sollte man zweimal hinschauen bei Vorwürfen, die perfekt ins Muster passen. Dass sie sich trotzdem bestätigen könnten, ist natürlich nicht ausgeschlossen…

  2. By the way: Bin ich eigentlich der einzige, der findet, dass Friedrich Küppersbusch genau so klingt und aussieht wie Boris Rosenkranz – nur 30 Jahre und 100.000 Zigaretten später?

  3. #2: absolut. Ich musste erst rubterscrollen um zu sehen, dass es nicht ein verkleideter und maskierter Boris R ist

  4. „Es klingt, als wäre es unprofessionell, nach dem Ende einer Beziehung mit einem Chef einen Groll gegen ihn zu hegen“
    Würde es klingen, als wäre es professionell, wäre es auch wieder nicht recht. Wie man’s auch spint, es wird nicht besser, bleibt aber (angeblich) Realität.
    Dabei soll Reichelt doch so widerlich sein, wie jede Journalistin auf Übermedien lesen kann und auch eigentlich immer zustimmend registriert, sofern sie dort kommentiert.
    Wird Übermedien von Volontär*Innen also komplett ignoriert?
    Lohnt es sich für einen jungen Geiler trotzdem noch, sich für einen Chefredakteursposten ins Zeug zu legen, indem er gegen Menschen stänkert, die ihre Grundrechte in Anspruch nehmen? Oder kann er es trotz intensiver Hetze nie so bunt treiben, wie es von Reichelt berichtet wird? Reicht es vielleicht aus, zur Tarnung einen Pussyhat zu tragen?
    Journalismus am Scheideweg.

  5. „Dabei soll Reichelt doch so widerlich sein“
    Wenn über irgendwelche netten Familienväter oder sonstige männlichen Sympathieträger solche Vorwürfe laut werden, kommen dann meistens Phrasen wie: „Unter der scheinbar netten Fassade…“

    Vllt. ist Reichelt im privaten Umgang ja auch ganz anders.

    Oder er nutzt halt vorhandene Machtgefälle aus, und Fassade und Persönlichkeit sind bei keiner Person automatisch verbunden. (Was jetzt die Lehre wäre, ich die hieraus ziehen würde, egal, was hierbei herauskommt.)

  6. Lieber Herr Niggemeier, das ist es, was ich an Ihnen so schätze: gewiß kein Freund von „Bild“ verteidigen Sie den so unglaublich unsympathischen Chef-Chef-Chefredakteur dann gegen das zweifelhafte Vorgehen Ihrer Journalisten-Kollegen. Find ich gut. Dafür zahle ich gerne ein paar Euros im Monat für das Abo!

  7. #8 Das unterscheidet ihn natürlich vom Objekt seiner Berichterstattung. Das Raffinierte ist: Zwischen den Zeilen wird genau dieser Unterschied umso besser sichtbar. Das hier gelebte Mindestmaß an Fairness gegenüber einem Beschuldigten wäre dem öffentlich wahrnehmbaren Reichelt – den privaten kenne ich nicht – völlig wesensfremd.

  8. Tagesspiegel und andere Spiegel und deren Schreiber sind nun losgelassen, und es wird nicht besser durch die verständliche spontane Entgegnung, dass es mit Reichelt und der BILD Adressaten trifft, die selbst oft genug aus der Hüfte schiessen. Herr N. beschreibt sehr schön die Krux und das Dilemma, das solche Schreibe in sich trägt. Irgendwie verlieren da alle an Glaubwürdigkeit.
    Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, aber irgendwie schon komisch, dass die Breitseite nun los getippt daher kommt… in einer Zeit, in welcher sich Reichelt/Bild teils sehr, sehr deutlich kritisch zum Corona-Kurs der Merkel-Regierung geäussert hat… oder sitze ich da nur in der Nebelpetarde professioneller Ablenker?

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