Samira El Ouassil ist Zeitungswissenschaftlerin, verdient ihr Geld aber mit Schauspielerei und politischem Ghostwriting. Sie wurde durch Zufall 2009 Kanzlerkandidatin der Partei DIE PARTEI (Wahlkampfslogan: „Es muss ein Rock durch Deutschland gehen“). Für Übermedien schreibt sie jede Woche über Medien, Politik und Kommunikation.
Gestern war das Finale von „Love Island“, die Guilty-Pleasure-Verkupplungs-Sendung, in welcher es darum geht, dass zwei Reichweite-suchende Selbstdarsteller unter der Beteuerung, keine Fame-hungrigen Fakes zu sein, symbolisch eine Beziehung eingehen (auf RTL2-Deutsch nennt sich das „vercoupeln“) und damit im besten Fall am Ende Geld gewinnen.
Diesem Vorbild folgend haben sich nun auch zwei andere Aufmerksamkeitsfänger gefunden und vercoupelt, um zu versuchen, die Zuschauer und Leser von ihrer eigenen Authentizität zu überzeugen, mit der Hoffnung auf Gewinn am Ende: die „Bild“-Zeitung und das Medium Fernsehen. Im aktuellen „Spiegel“ hat der Jana Ina Zarrella dieser Medien-Hochzeit, Chefredakteur Julian Reichelt, verkündet, seine Hoffnung sei es, die Reichweiten und Erlöse, „die wir bisher unangetastet gelassen haben“ zu schröpfen. Und obwohl das Fernsehen ökonomisch gesehen eher ein Auslaufmedium ist, setzt man alle Erwartungen auf die 50 Millionen täglichen Fernsehzuschauer, die bislang noch nicht von der „Bild“ bebildert wurden. Als finaler Trauschein fehlt derzeit nur noch die Sendelizenz. Hoffentlich können sich da dann auch die im Zuge von Sparmaßnahmen entlassenen 150 bis 200 Redakteure beim Sender ihres Ex-Mediums bewerben.
Die Lücke, die das Fernsehen lässt
Interessant ist Reichelts Antwort auf die Frage, wie „Bild“-TV nun das Fernsehen neu erfinden wolle:
Reichelt: „[…] wir wollen das Land, die Welt, die Politik und den Alltag der Menschen so zeigen, wie es die Leute erleben, und nicht so steril und weichgespült wie teilweise bei den Öffentlich-Rechtlichen.“
„Spiegel“: „Soll heißen: nicht so politisch korrekt?“
Reichelt: „Ich glaube, dass es den Leuten massiv auf die Nerven geht, wenn sie dauernd erfahren, warum über manche Dinge nicht berichtet wird, statt zu sehen, was eigentlich passiert ist.“
„Spiegel“: „Haben Sie mal ein Beispiel?“
Reichelt: „Der Schwertmörder von Stuttgart.“
Sehen wir mal davon ab, dass der Deutsche Presserat die „Bild“-Berichterstattung über den Schwertmord von Stuttgart „übertrieben sensationell“ fand und sie rügte, weil sie das Verbrechen aus der Täterperspektive gezeigt habe und „respektlos mit dem Leid der Angehörigen“ umgegangen sei.
Es klingt wie eine Kampfansage an die öffentlich-rechtlichen Medien, vor allem wenn er ihnen paraphrasiert vorwirft, für die Öffentlichkeit relevante Themen zu scheuen und beängstigend knapp am „Lückenpresse“-Vorwurf vorbei laviert. Dabei tritt er, betrachtet man das von Reichelt beschriebene Ideal des permasendefähigen, rasenden Reporters, nicht mal in Konkurrenz zu den Öffentlich-Rechtlichen, die aus professionellen Gründen Qualitätskontrollen einhalten müssen und deshalb zuweilen behäbig wirken:
Reichelt: „Aus dem brennenden Amazonasgebiet, so wie wir zuletzt, sendet nicht jeder. […] Nicht mit mehreren Teams, die im brennenden Regenwald stehen und mit Menschen reden, um die herum alles gerodet wird. […] Was ‚Bild‘ einzigartig macht: Wenn nötig, schicken wir zehn Leute los, die innerhalb von 24 Stunden vor Ort und sendefähig sind. Die brauchen nicht erst Satellitenschüsseln, Übertragungswagen, Maske und ewige Planungskonferenzen.“
„Bild“-TV tritt in Wirklichkeit in Konkurrenz zu jedem Smartphone-Nutzer. Die hier beschriebene und ersehnte Effizienz und Echtzeitübermittlung ist die konsequente Fortsetzung des „Bild“-Leser-Reporters („Haben Sie zufällig Boris Becker koksend bei einem von der Yakuza organisierten Hahnenkampf gesehen, haben sie Chris Tall bei einem lustigen Gag erwischt, dann schicken Sie uns unter 4444 ein Video und kassieren Sie 500€“), nur dass die „Bild“-Leser-Reporter nun die „Bild“-Reporter sind.
Die Lücke, die das Fernsehen lässt
Die Investitionen bei „Bild“ gehen vor allem in die Ausarbeitung „Live-Video-Strategie“. Das klingt so, wie die RTL2-Nachrichten früher hießen: „Action News“.
Reichelt: „Wir wollen aber, egal wo, kein klassisches lineares TV machen, sondern eines mit der Optik und Anmutung des YouTube-Zeitalters und den technologischen Mitteln von 5G.“
Es ist naheliegend: Wenn heutzutage jeder Broadcaster seiner eigenen Inhalte werden kann, wenn jeder zum „Privat“-Sender der eigenen Existenz wird, warum dann nicht auch das reichweitenstärkste Boulevardblatt? Die Tochter des Springerverlags, der Nachrichtensender Welt (früher N24) macht die Eltern bereits sehr glücklich und versorgt die Öffentlichkeit zuverlässig mit (manchmal ungewollt komischen) Nachrichten und Hitlerdokumentationen. In „Welt“ und „Bild“ investiert der Springer-Konzern nun 100 Millionen Euro bei gleichzeitiger Einsparung von 50 Millionen durch redaktionelle Verschlankungen und Entlassungen. Sie wollen es wissen.
„Spiegel“: „Wie soll Ihr Senderslogan lauten?“
Reichelt: „Vielleicht: Zeigen, was ist?“
Roger Willemsen beschreibt in seinem Essay „Das erblindete Medium“ folgende Episode: Als er bei Bertelsmann einen Vortrag über das Fernsehen hielt, fragte Manager Thomas Middelhoff im Anschluss der Präsentationen einen anwesenden Amerikaner, ob dieser den Vortrag verfolgt hätte. Er verneinte und fragte worum es in Willemsens ging.
„Content“, antworte Middelhoff.
Der Amerikaner schaute Willemsen an und fragte: „And? Are you for or against?“
Das wäre sicher ein guter Slogan für „Bild“-TV.
Wenn bereits in der „Bild“, gedruckt wie online, Handlungsprinzipien eines verantwortungsvollen Journalismus so konsistent sind wie eine nasse Zeitung, die in Briefkästen gestopft wird, was erwartet uns in ihrer Fernsehversion?
Die redaktionelle Gesellschaft
In seinem diesjährigen Republica-Vortrag zeichnete der Medienwissenschaftler Bernhard Pörkensen eine von ihm erhoffte Entwicklung unserer Gesellschaft vor, nämlich die von einer digitalen hin zu einer redaktionellen.
„Die redaktionelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Maxime und Ideale des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung geworden sind.
Zum Beispiel: Prüfe erst, publiziere später, höre auch immer die andere Seite, mache ein Ereignis nicht größer als es ist, sei skeptisch im Umgang mit der Macht, zeige die Ungerechtigkeit in der Welt.“
Das sind Empfehlungen, die er Privatpersonen exemplarisch an die Hand geben möchte, die sich streamenderweise in die mediale Öffentlichkeit begeben. Es sind Maximen, deren Benennung in ihrer Selbstverständlichkeit fast trivial wirken. Und es sind Maximen, an die sich nicht einmal die „Bild“-Zeitung hält. Ob sie online Teile des Christchurch-Attentat-Videos zeigt; Opfer ohneEinverständnisder Angehörigen oder mutmaßliche Täter ohne öffentlichen Fahndungsauftrag unverpixelt veröffentlicht; wenn sie eine schweinefleischlose Kita zum medialen Auge eines Entrüstungssturms hochinszeniert oder keinen Hehl aus ihren politischen Lieblingen macht – all diese Bildismen werden sich in der televisiven Bewegtbild-Version noch potenzieren lassen. Neben der Ästhetik (YouTube) und der berichterstatterischen Ethik (erstmal Handykamera drauf) werden vermutlich auch die Inhalte so aufklärerisch, reflektiert und sublim wie die Seite-1-Aufmacher.
„Spiegel“: „Setzen Sie nicht eher auf Polarisierung, auf Krawall?“
Reichelt: „Ich würde sagen: auf Emotionalisierung. […]
Wo findet die Realität, die wir auf der Seite 2 von ‚Bild‘ abbilden, im Fernsehen statt? Etwa, dass Menschen, die 40 Jahre gearbeitet haben, jetzt Flaschen sammeln müssen. […]
Wir haben bei ‚Bild‘ in den letzten Jahren Erfolg damit gehabt zu zeigen, was in diesem Land los ist. Wir haben außen vor gelassen, welche erzieherischen Botschaften das haben könnte. Darauf erfahren wir eine gigantische Resonanz. Das besonders emotionale Medium Fernsehen passt dazu perfekt.“
Die Inhalte sollen also „emotional“ sein und Lebensrealitäten präsentieren, die angeblich von den Reportagen und Dokumentationen bei den Öffentlich-Rechtlichen und den Lebenswelt-Formaten der Privaten nicht genügend abgedeckt werden. Vielleicht sollte das mal jemand den Redaktionen von „37 Grad“ (ZDF), „Menschen hautnah“ (WDR), „30 Minuten Deutschland“ (RTL) oder „Hartz und Herzlich“ (RTL2) stecken.
Medienjournalist Daniel Bouhs hat auf Twitter anhand des von Reichelt genannten Beispiels des im Fernsehen willentlich ignorierten Pfandflaschensammelers aufgelistet, wo er überall nicht stattfindet.
Mehr Live, mehr Emotion, mehr Menschen, das Ganze als Bindeglied zwischen Privatsender und YouTube – es stellt sich nur die Frage: welche Abbildung wird erreicht?
Wenn beispielsweise die Amazonas-Brände berichterstatterisch etwas eben nicht brauchen, dann deutsche highperformative Kamera-Teams, die der indigenen Bevölkerung ihr Teleobjektiv ins Gesicht drücken, in der Hoffnung auf sendetaugliche Verzweiflung. Zu glauben, der Live-Charakter, die Augenblicklichkeit, die Echtzeit-Vermittlung von Emotionen würde einem komplexen, mehrschichtigen Sachverhalt wie dem Amazonas-Brand journalistisch auch nur annähernd gerecht werden, ist nobel, weil es den Menschen in den Mittelpunkt stellt, und anmaßend zugleich, weil es den komplizierten Rest willentlich ignoriert.
Nachrichten sind Einordnung, Reflektion, Sachlichkeit und Abstraktion; vor die Hyperaktualität tritt immer noch ein Moment der arbeits- und medienethischen Betrachtung dessen, wie was weshalb berichtet wird. Nachrichten sind nicht einfach nur das ganz nah dran.
Ich gehe selbstverständlich in meiner Funktion als Medienkritikerin vom Schlimmsten aus, noch habe ich ja nichts gesehen. Vermutlich werden es einfach ganz großartige Beiträge darüber, wie man mit einer Banane seine Penislänge misst oder Faszinierendes über Hitlers Hoden. Ich würde es mir auch sofort anschauen, wenn Ulf Poschardt zum Beispiel die Briefe von Franz Josef Wagner vorläse.
Wenn man an den Penis noch eine Banane hält und diese mit misst, würden wir sagen: Nein, die Länge ist nicht normal, @BILD.de. pic.twitter.com/qwmslSATRJ
Was Reichelt als idealtypische Ausrichtung von „Bild“-TV beschreibt, der Affekt, der spektakuläre Live-Charakter, ist das genaue Gegenteil von Journalismus. Es ist all das, wovon Pörksen Privatpersonen medienpädagogisch emanzipieren will. „Bild“-TV verhält sich, folgt man Reichelt, zu Nachrichten wie Love Island zur Liebe.
3 Kommentare
Einen möglichen ersten Eindruck über die Arbeitsweise von „Bild“-TV bekommt man schon bei BILDblog.
Einen möglichen ersten Eindruck über die Arbeitsweise von „Bild“-TV bekommt man schon bei BILDblog.
https://bildblog.de/115188/bild-live-das-ist-jetzt-alles-natuerlich-noch-spekulation/
Es ist zum fremdschämen, was der Reichelt da zum Journalismus ablässt. Übler noch ist es, das dieser Anspruch an Journalismus seine Abnehmer findet.
Die Banane will ich auch sehen…
Wieder einmal ein wunderbarer Text von Samira El Ouassil, ich genieße Ihre Kolumne sehr.