Wochenschau (46)

„Bild“-TV verhält sich zu Nachrichten wie Love Island zur Liebe

Gestern war das Finale von „Love Island“, die Guilty-Pleasure-Verkupplungs-Sendung, in welcher es darum geht, dass zwei Reichweite-suchende Selbstdarsteller unter der Beteuerung, keine Fame-hungrigen Fakes zu sein, symbolisch eine Beziehung eingehen (auf RTL2-Deutsch nennt sich das „vercoupeln“) und damit im besten Fall am Ende Geld gewinnen.

Diesem Vorbild folgend haben sich nun auch zwei andere Aufmerksamkeitsfänger gefunden und vercoupelt, um zu versuchen, die Zuschauer und Leser von ihrer eigenen Authentizität zu überzeugen, mit der Hoffnung auf Gewinn am Ende: die „Bild“-Zeitung und das Medium Fernsehen. Im aktuellen „Spiegel“ hat der Jana Ina Zarrella dieser Medien-Hochzeit, Chefredakteur Julian Reichelt, verkündet, seine Hoffnung sei es, die Reich­wei­ten und Er­lö­se, „die wir bis­her un­an­ge­tas­tet ge­las­sen ha­ben“ zu schröpfen. Und obwohl das Fernsehen ökonomisch gesehen eher ein Auslaufmedium ist, setzt man alle Erwartungen auf die 50 Millionen täglichen Fernsehzuschauer, die bislang noch nicht von der „Bild“ bebildert wurden. Als finaler Trauschein fehlt derzeit nur noch die Sendelizenz. Hoffentlich können sich da dann auch die im Zuge von Sparmaßnahmen entlassenen 150 bis 200 Redakteure beim Sender ihres Ex-Mediums bewerben.

Die Lücke, die das Fernsehen lässt

Interessant ist Reichelts Antwort auf die Frage, wie „Bild“-TV nun das Fernsehen neu erfinden wolle:

Reichelt: „[…] wir wol­len das Land, die Welt, die Po­li­tik und den All­tag der Men­schen so zei­gen, wie es die Leu­te er­le­ben, und nicht so ste­ril und weich­ge­spült wie teil­wei­se bei den Öffent­lich-Recht­li­chen.“

„Spiegel“: „Soll hei­ßen: nicht so po­li­tisch kor­rekt?“

Rei­chelt: „Ich glau­be, dass es den Leu­ten mas­siv auf die Ner­ven geht, wenn sie dau­ernd er­fah­ren, war­um über man­che Din­ge nicht be­rich­tet wird, statt zu se­hen, was ei­gent­lich pas­siert ist.“

„Spiegel“: „Ha­ben Sie mal ein Bei­spiel?“

Rei­chelt: „Der Schwert­mör­der von Stutt­gart.“

Sehen wir mal davon ab, dass der Deutsche Presserat die „Bild“-Berichterstattung über den Schwertmord von Stuttgart „übertrieben sensationell“ fand und sie rügte, weil sie das Verbrechen aus der Täterperspektive gezeigt habe und „respektlos mit dem Leid der Angehörigen“ umgegangen sei.

Es klingt wie eine Kampfansage an die öffentlich-rechtlichen Medien, vor allem wenn er ihnen paraphrasiert vorwirft, für die Öffentlichkeit relevante Themen zu scheuen und beängstigend knapp am „Lückenpresse“-Vorwurf vorbei laviert. Dabei tritt er, betrachtet man das von Reichelt beschriebene Ideal des permasendefähigen, rasenden Reporters, nicht mal in Konkurrenz zu den Öffentlich-Rechtlichen, die aus professionellen Gründen Qualitätskontrollen einhalten müssen und deshalb zuweilen behäbig wirken:

Rei­chelt: „Aus dem bren­nen­den Ama­zo­nas­ge­biet, so wie wir zu­letzt, sen­det nicht je­der. […] Nicht mit meh­re­ren Teams, die im bren­nen­den Re­gen­wald ste­hen und mit Men­schen re­den, um die her­um al­les ge­ro­det wird. […] Was ‚Bild‘ ein­zig­ar­tig macht: Wenn nö­tig, schi­cken wir zehn Leu­te los, die in­ner­halb von 24 Stun­den vor Ort und sen­de­fä­hig sind. Die brau­chen nicht erst Sa­tel­li­ten­schüs­seln, Über­tra­gungs­wa­gen, Mas­ke und ewi­ge Pla­nungs­kon­fe­ren­zen.“

„Bild“-TV tritt in Wirklichkeit in Konkurrenz zu jedem Smartphone-Nutzer. Die hier beschriebene und ersehnte Effizienz und Echtzeitübermittlung ist die konsequente Fortsetzung des „Bild“-Leser-Reporters („Haben Sie zufällig Boris Becker koksend bei einem von der Yakuza organisierten Hahnenkampf gesehen, haben sie Chris Tall bei einem lustigen Gag erwischt, dann schicken Sie uns unter 4444 ein Video und kassieren Sie 500€“), nur dass die „Bild“-Leser-Reporter nun die „Bild“-Reporter sind.

Die Lücke, die das Fernsehen lässt

Die Investitionen bei „Bild“ gehen vor allem in die Ausarbeitung „Live-Video-Strategie“. Das klingt so, wie die RTL2-Nachrichten früher hießen: „Action News“.

Rei­chelt: „Wir wol­len aber, egal wo, kein klas­si­sches li­nea­res TV ma­chen, son­dern ei­nes mit der Op­tik und An­mu­tung des YouTube-Zeit­al­ters und den tech­no­lo­gi­schen Mit­teln von 5G.“

Es ist naheliegend: Wenn heutzutage jeder Broadcaster seiner eigenen Inhalte werden kann, wenn jeder zum „Privat“-Sender der eigenen Existenz wird, warum dann nicht auch das reichweitenstärkste Boulevardblatt? Die Tochter des Springerverlags, der Nachrichtensender Welt (früher N24) macht die Eltern bereits sehr glücklich und versorgt die Öffentlichkeit zuverlässig mit (manchmal ungewollt komischen) Nachrichten und Hitlerdokumentationen. In „Welt“ und „Bild“ investiert der Springer-Konzern nun 100 Millionen Euro bei gleichzeitiger Einsparung von 50 Millionen durch redaktionelle Verschlankungen und Entlassungen. Sie wollen es wissen.

„Spiegel“: „Wie soll Ihr Sen­ders­lo­gan lau­ten?“

Rei­chelt: „Viel­leicht: Zei­gen, was ist?“

Roger Willemsen beschreibt in seinem Essay „Das erblindete Medium“ folgende Episode: Als er bei Bertelsmann einen Vortrag über das Fernsehen hielt, fragte Manager Thomas Middelhoff im Anschluss der Präsentationen einen anwesenden Amerikaner, ob dieser den Vortrag verfolgt hätte. Er verneinte und fragte worum es in Willemsens ging.

„Content“, antworte Middelhoff.

Der Amerikaner schaute Willemsen an und fragte: „And? Are you for or against?“

Das wäre sicher ein guter Slogan für „Bild“-TV.

Wenn bereits in der „Bild“, gedruckt wie online, Handlungsprinzipien eines verantwortungsvollen Journalismus so konsistent sind wie eine nasse Zeitung, die in Briefkästen gestopft wird, was erwartet uns in ihrer Fernsehversion?

Die redaktionelle Gesellschaft

In seinem diesjährigen Republica-Vortrag zeichnete der Medienwissenschaftler Bernhard Pörkensen eine von ihm erhoffte Entwicklung unserer Gesellschaft vor, nämlich die von einer digitalen hin zu einer redaktionellen.

„Die redaktionelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Maxime und Ideale des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung geworden sind.

Zum Beispiel: Prüfe erst, publiziere später, höre auch immer die andere Seite, mache ein Ereignis nicht größer als es ist, sei skeptisch im Umgang mit der Macht, zeige die Ungerechtigkeit in der Welt.“

Das sind Empfehlungen, die er Privatpersonen exemplarisch an die Hand geben möchte, die sich streamenderweise in die mediale Öffentlichkeit begeben. Es sind Maximen, deren Benennung in ihrer Selbstverständlichkeit fast trivial wirken. Und es sind Maximen, an die sich nicht einmal die „Bild“-Zeitung hält. Ob sie online Teile des Christchurch-Attentat-Videos zeigt; Opfer ohne Einverständnis der Angehörigen oder mutmaßliche Täter ohne öffentlichen Fahndungsauftrag unverpixelt veröffentlicht; wenn sie eine schweinefleischlose Kita zum medialen Auge eines Entrüstungssturms hochinszeniert oder keinen Hehl aus ihren politischen Lieblingen macht – all diese Bildismen werden sich in der televisiven Bewegtbild-Version noch potenzieren lassen. Neben der Ästhetik (YouTube) und der berichterstatterischen Ethik (erstmal Handykamera drauf) werden vermutlich auch die Inhalte so aufklärerisch, reflektiert und sublim wie die Seite-1-Aufmacher.

„Spiegel“: „Set­zen Sie nicht eher auf Po­la­ri­sie­rung, auf Kra­wall?“

Rei­chelt: „Ich wür­de sa­gen: auf Emo­tio­na­li­sie­rung. […]

Wo fin­det die Rea­li­tät, die wir auf der Sei­te 2 von ‚Bild‘ ab­bil­den, im Fern­se­hen statt? Etwa, dass Men­schen, die 40 Jah­re ge­ar­bei­tet ha­ben, jetzt Fla­schen sam­meln müs­sen. […]

Wir ha­ben bei ‚Bild‘ in den letz­ten Jah­ren Er­folg da­mit ge­habt zu zei­gen, was in die­sem Land los ist. Wir ha­ben au­ßen vor ge­las­sen, wel­che er­zie­he­ri­schen Bot­schaf­ten das ha­ben könn­te. Dar­auf er­fah­ren wir eine gi­gan­ti­sche Re­so­nanz. Das be­son­ders emo­tio­na­le Me­di­um Fern­se­hen passt dazu per­fekt.“

Die Inhalte sollen also „emotional“ sein und Lebensrealitäten präsentieren, die angeblich von den Reportagen und Dokumentationen bei den Öffentlich-Rechtlichen und den Lebenswelt-Formaten der Privaten nicht genügend abgedeckt werden. Vielleicht sollte das mal jemand den Redaktionen von „37 Grad“ (ZDF), „Menschen hautnah“ (WDR), „30 Minuten Deutschland“ (RTL) oder „Hartz und Herzlich“ (RTL2) stecken.

Medienjournalist Daniel Bouhs hat auf Twitter anhand des von Reichelt genannten Beispiels des im Fernsehen willentlich ignorierten Pfandflaschensammelers aufgelistet, wo er überall nicht stattfindet.

Und auch Reichelts eingangs gegebenes Beispiel ist schlicht falsch, wenn er behauptet, die Amazonas-Bränden seien von den anderen Medien nicht auf zwischenmenschlicher Ebene und mit Korrespondenten vor Ort abgedeckt worden. Bitte bewundern sie hierfür Screenshots aus dem neuem Journalismus-Qualitätsbewertungs-Genre „Reporter, die in brennenden Wäldern stehen und mit Menschen reden“ featuring ARD, ZDF und Fernanda Brandão fürs RTL“.

Mehr Live, mehr Emotion, mehr Menschen, das Ganze als Bindeglied zwischen Privatsender und YouTube – es stellt sich nur die Frage: welche Abbildung wird erreicht?

Wenn beispielsweise die Amazonas-Brände berichterstatterisch etwas eben nicht brauchen, dann deutsche highperformative Kamera-Teams, die der indigenen Bevölkerung ihr Teleobjektiv ins Gesicht drücken, in der Hoffnung auf sendetaugliche Verzweiflung. Zu glauben, der Live-Charakter, die Augenblicklichkeit, die Echtzeit-Vermittlung von Emotionen würde einem komplexen, mehrschichtigen Sachverhalt wie dem Amazonas-Brand journalistisch auch nur annähernd gerecht werden, ist nobel, weil es den Menschen in den Mittelpunkt stellt, und anmaßend zugleich, weil es den komplizierten Rest willentlich ignoriert.

Nachrichten sind Einordnung, Reflektion, Sachlichkeit und Abstraktion; vor die Hyperaktualität tritt immer noch ein Moment der arbeits- und medienethischen Betrachtung dessen, wie was weshalb berichtet wird. Nachrichten sind nicht einfach nur das ganz nah dran.

Ich gehe selbstverständlich in meiner Funktion als Medienkritikerin vom Schlimmsten aus, noch habe ich ja nichts gesehen. Vermutlich werden es einfach ganz großartige Beiträge darüber, wie man mit einer Banane seine Penislänge misst oder Faszinierendes über Hitlers Hoden. Ich würde es mir auch sofort anschauen, wenn Ulf Poschardt zum Beispiel die Briefe von Franz Josef Wagner vorläse.

Was Reichelt als idealtypische Ausrichtung von „Bild“-TV beschreibt, der Affekt, der spektakuläre Live-Charakter, ist das genaue Gegenteil von Journalismus. Es ist all das, wovon Pörksen Privatpersonen medienpädagogisch emanzipieren will. „Bild“-TV verhält sich, folgt man Reichelt, zu Nachrichten wie Love Island zur Liebe.

3 Kommentare

  1. Es ist zum fremdschämen, was der Reichelt da zum Journalismus ablässt. Übler noch ist es, das dieser Anspruch an Journalismus seine Abnehmer findet.

  2. Die Banane will ich auch sehen…

    Wieder einmal ein wunderbarer Text von Samira El Ouassil, ich genieße Ihre Kolumne sehr.

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