Gewalt gegen Frauen

Faesers Zahl zu Femiziden ist fragwürdig, aber Journalisten übernehmen sie trotzdem

Exklusiv für Übonnenten

Endlich berichten mehr Medien über Femizide. Dass in Deutschland jeden Tag eine Frau getötet wird, weil sie eine Frau ist, stimmt so aber nicht. Denn die Polizeistatistik, aus der die Zahl stammt, erfasst gar keine Tatmotivation.


„Fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau getötet, weil sie eine Frau ist.“ Variationen dieses Satzes waren im November in vielen Medien zu lesen:

„Im Jahr 2023 wurden 360 Frauen in Deutschland getötet – weil sie Frauen waren.“ („Tagesschau“)

„2023 wurden zudem 360 Frauen getötet, weil sie Frauen waren – also etwa aus Frauenhass, wegen einer Trennung oder im Kontext eines patriarchalischen Gesellschaftsbilds des Täters.“ („Stern“)

„Im vergangenen Jahr wurden 360 Frauen Opfer eines Femizids – sie wurden also getötet, weil sie Frauen waren.“ („Zeit“)

„An jedem Tag stirbt in Deutschland eine Frau durch Frauenhass oder durch die Hand ihres (Ex-)Partners: 360 Femizide wurden im Jahr 2023 in der Bundesrepublik verübt.“ („Freitag“)

Doch die Zahl hinter diesen Meldungen ist so nicht richtig.

Anlass für die vielen Berichte war, dass das Bundeskriminalamt (BKA) zum ersten Mal ein Bundeslagebild zu „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichteten Straftaten“ erstellt hat. Am 19. November stellte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) es in der Berliner Bundespressekonferenz vor. Sie eröffnete ihr Statement folgendermaßen:

„Fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau oder ein Mädchen getötet. Das ist fast jeden Tag ein Femizid. […] Es entsetzt mich, wenn ich diese Zahlen ansehe, wenn ich sehe, wieviel Frauen und Mädchen jeden Tag in Deutschland Opfer von Übergriffen werden. Sie werden Opfer, weil sie Frauen sind.“

Die Zahlen für das Bundeslagebild stammen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die ebenfalls federführend vom BKA erstellt wird. Die PKS wertet allerdings überhaupt keine Tatmotivation aus, gibt also gar nicht an, warum eine Frau getötet worden ist. Darauf weist die Behörde in ihrem Lagebild auch explizit hin. Es sei nur eine „Annäherung an die tatsächliche Anzahl“ von Femiziden möglich. Und, auch das steht in dem Dokument: Bislang habe man sich nicht einmal auf eine „bundeseinheitliche Definition“ des Begriffs geeinigt.

Berechnung verzerrt die Realität

Trotzdem hat man sich entschieden, im Lagebild eine Zahl an Femiziden auszuweisen – und zwar, indem man schlicht alle Tötungsdelikte an Frauen als Femizid wertet. Ausgenommen wurden lediglich zwei Raubmorde und zwölf Tötungen auf Verlangen, also Suizide mit Hilfe einer anderen Person. Diese Definition von Femizid entspricht keiner der wissenschaftlichen Definitionen, auf die das BKA in den Fußnoten des Lagebildes selbst verweist. Gerade bei einer so komplexen Thematik erscheint diese Vorgehensweise seltsam unwissenschaftlich, um nicht zu sagen realitätsverzerrend.

Femizide zu definieren ist schwierig. Ein journalistischer Leitfaden von Investigativjournalist:innen, der in der Fachzeitschrift „journalist“ veröffentlicht wurde, spricht von Femizid als „Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts oder bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit“. Diese Definition erscheint griffig genug und lässt dennoch viele Detailfragen offen. Wenn zum Beispiel ein Mann seine Frau, seinen Sohn und seine Tochter tötet, ist der Mord an der Tochter dann ein Femizid, der am Jungen aber „nur“ ein Kindsmord? Diese Unterscheidung nach Geschlecht nimmt das BKA-Lagebild implizit vor.

Auch in vielen anderen Konstellationen, in denen eine Frau getötet wird, ist das Tatmerkmal „geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtet“, das immerhin der Titel des Lagebildes ist, nicht zutreffend: Wer …

2 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen aufklärerischen Artikel!

    Mich hat dieses Thema auch schon oft beschäftigt. Einerseits finde ich es wichtig, Gewalt spezifisch an Frauen stärker zu thematisieren. Andererseit wirft der Femizid-Diskurs alle Begriffe und Deutungs-Arenen durcheinander, dass die Sache auf den ersten Blick angreifbar wird. Der Autor verweist auf die Backlashgefahr – sehr gut!

    Es ist offenkundig, dass mit dem Femizid-Begriff aktivistische und politische Interessen verbunden sind (was ja okay ist). Umso mehr stört es, wenn dann Medien das ungefiltert und unkritisch übernehmen (wie der Artikel darstellt), und Leitartikel auf dieser Grundlage sogar harte Reformen im Strafrecht fordern. Das ist der Alarmismus des „immer schlimmer“. Den sind wir so gewohnt, das uns der immense und unerklärte Schritt von „jeden dritten Tag“ zu „jeden Tag“ tatsächlich kaum auffällt.

    Woe wohltuend dann so ein Text wie hier von Herrn Reisin…

  2. Ich schließe mich an: Vielen Dank für diesen Text, der auf den Punkt bringt, was mir bei dem Thema schon oft durch den Kopf gegangen ist. Ich hatte von Anfang an meine Probleme mit dem Wort Femizid. Das ist zwar mittlerweile in den Medien etabliert, war am Anfang aber eines von den plötzlich auftauchenden aktivistischen Wörtern, die viele Leser erst einmal nicht verstanden haben. Und schon gar nicht wussten sie, was damit genau gemeint ist.

    Ergänzen möchte ich, dass mich auch das oft als Grund für Femizide angeführte angebliche strukturelle gesamtgesellschaftliche Problem nicht überzeugt. Welcher Frauen schlagende oder tötende Mann täte es nicht, wenn es diese angeblichen gesellschaftlichen Strukturen nicht gäbe? Gehen bis zur Tötung führende Besitzansprüche von Männern weg, wenn wir die Gesellschaft ändern? Ich glaube nicht.

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