Holger ruft an (118)

An welche Regeln muss sich Verdachtsberichterstattung wie im Fall Till Lindemann halten?

Rammstein-Sänger Till Lindemann beim Konzert in Dänemark
Till Lindemann beim Konzert in Dänemark Foto: IMAGO / Gonzales Photo

Schwere Vorwürfe gegen Till Lindemann: Der Sänger der Band Rammstein soll jungen Frauen gegenüber seine Macht missbraucht und sexuell übergriff gewesen sein. Der Eindruck, dass weibliche Fans systematisch für Sex während und nach Konzerten rekrutiert wurden, verfestigt sich aufgrund zahlreicher sich ähnelnder Berichte von Besucherinnen.

Aber ab welchem Zeitpunkt dürfen Journalist:innen so schwere Anschuldigungen überhaupt veröffentlichten? Was müssen sie dabei beachten? Es gibt ja bisher weder eine Anklage noch einen Gerichtsprozess. Diese Fragen werden – auch in anderen mutmaßlichen #MeToo-Fällen – immer wieder gestellt.

Holger Klein ruft diese Woche bei Lena Kampf an. Sie ist stellvertretende Leitern des Investigativressorts der „Süddeutschen Zeitung“, die am vergangenen Wochenende als erstes ausführlich über den Fall Lindemann berichtet hat. Im Übermedien-Podcast spricht sie über die Regeln der Verdachtsberichterstattug und was die besonderen Hürden bei Recherchen zu #MeToo sind. Kampf:

„Man braucht viel Geduld, viel Fingerspitzengefühl und ein großes Vertrauen zwischen Journalistin und Quelle. Das ist ein ungewöhnliches Verhältnis, weil da die Fragen von Nähe und Distanz nochmal neu justiert werden.“

Wie ist das SZ-Team bei der Recherche vorgegangen? Warum wurde das angebliche „System Lindemann“ nicht schon früher aufgedeckt, hat der Musikjournalismus versagt? Und auf welche PR-Spins von Rammstein sollten wir jetzt nicht hereinfallen?

Darüber sprechen Holger Klein und Lena Kampf im Übermedien-Podcast:

(Sie können den Podcast auch über die Plattform oder App Ihrer Wahl hören. Hier ist der Feed.)

Links:

7 Kommentare

  1. Danke, gutes Thema, aber bisschen schade, dass Holger auf manche Frage gar nicht kommen zu scheint: Welche Frist darf man dem Beschuldigten zur Stellungnahme geben? Und: Immer wieder wird hier gesagt „aus unserer Sicht“, „wir denken damit haben wir ausreichend Informationen“ etc. Also die Richtlinien scheinen nicht einem allgemein definierten Kodex zu folgen, oder doch? Und was, wenn sich am Ende aber dennoch ein Verdacht vor Gericht dann nicht bestätigt (Kachelmann..)? Kann dann nachträglich eine Verdachtsberichterstattung juristisch belangt werden?

  2. Wenn die Verdachtsberichterstattung den genannten Regeln gefolgt ist, und insbesondere die Beweise und Zeugenaussagen anscheinend hinreichend waren, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erhob, sollte ein rückwirkender Prozess aussichtslos sein (und auch eher sinnlos, da die entsprechenden Medien ja bestimmt den Prozessausgang mit Freispruch mitteilen werden).
    Kann natürlich sein, dass das wer trotzdem versucht.

  3. Was man zwischen den Zeilen auch mithört: Medien in der Existenzkrise. Man fühlt sich ggü dem schnellen Netz insbesondre Reddit als klassisches Medium im Zugzwang und die Kollegen von anderen Blättern haben auch schon was von der Story im Köcher ~ da muss man halt ebenfalls aus allen Rohren feuern, um in der Spirale der Aufmerksamkeitsökonomie wahrgenommen zu werden. Dass die Berichterstattung am Ende sich dann nicht mehr um die Fakten dreht und das, was passiert ist, sondern vor allem darum, wie die Band die Anschuldigungen aufnimmt, wie sich Fans und Nichtfans positionieren, wer welche Anwälte hat, was die Parallelen zu Cosby, Weinstein und Co seien, gibt dem Ganzen ein gewisses Klatsch Niveau ~ Yellow Press auf nem anderen Niveau. Das sind keine Nachrichten, das ist Spektakel. Hier werden gefühlt Täter und Opfer gleichermaßen instrumentalisiert, um die Meldungslawine nicht abreißen zu lassen. Die ständig dabei mitschwingende Investigativ-Komponente “Wir tun ja was Gutes” zeigt den Kern der ökonomischen Ausschlachtung von vermeintlich moralischen Themen ganz gut: Die Opfer an sich sind dem System am Ende scheißegal, die werden nur zur Nutzen der Skandalisierung verheizt und danach kommt irgend ne andere Story. Absehbar.

  4. Dann auch hier mal die Frage:
    Ist der ganze Vorgang nur dann ein Thema für die Öffentlichkeit/Medien, wenn sich daraus justiziabel Verwertbares ergibt?
    Hat sich nicht allein daraus, wie klassisch verlogen das Bauernopfer auch sein mag, dass die russische Casting-Directrice gefeuert wurde, schon etwas bewegt?

    Nebenbei noch die Stellungnahme der DJV an dieser Stelle:
    https://www.djv.de/startseite/profil/der-djv/pressebereich-download/pressemitteilungen/detail/news-rammstein-kein-medienmaulkorb

    Zitat: “
    Der DJV-Vorsitzende weist in dem Zusammenhang darauf hin, dass Verdachtsberichterstattung durchaus zulässig sei, so lange sie sich an Spielregeln halte: „Dazu gehören unbedingt Fakten.““

    Das bedeutet nicht, dass ein Gericht nachher die Unschuld feststellen muss, wegen was auch immer ( Was auch nicht bedeutet, dass da nichts war, nur dass etwas justiziables nicht bewiesen werden konnte ).
    Dennoch kann da aber doch jede Menge Material von berechtigtem öffentlichen Interesse recherchiert werden, oder etwa nicht?

    Es heisst also, dass die Profis gefälligst verantwortungsvoll damit umgehen müssen. Das ist der Job.

    Natürlich darf niemand zu Unrecht beschuldigt werden und natürlich ist es schrecklich, des Missbrauches verdächtigt zu werden.
    Als potentielles Opfer mit Unterstellungen und Morddrohungen überzogen zu werden, ist es aber auch.

  5. Lieber Holger,

    ist es wirklich klug, mit der SZ zu reden, die auch auf Seite 3 über den Fall Till Lindemann berichtet? Leiter der Seite 3 ist seit 2009 Alexander Gorkow. Derselbe, der im SZ Magazin 2012 die Fanboy-Reportage „USA, 20.56 Uhr“ veröffentlicht hat über Rammstein in den USA, in der er über die Aftershow-Partys, die ihm nachweislich bekannt waren, männerbündisch-galant geschwiegen hat.

    Dafür gab es 2013 den Deutschen Reporterpreis in der erstmals vergebenen Kategorie Grand Prix. Vergeben vom Reporter-Forum e.V., einem Netzwerk deutscher Journalisten. Offizieller Titel: „Deutscher Reporterpreis, der Preis von Journalisten für Journalisten“.

    Warum war Gorkow der erste und bis heute lange Jahre einzige Journalist, dem die Band Zutritt gewährt hat?

    Besser noch! Till Lindemann hat seinem Hofreporter auch noch sein Innerstes anvertraut in Form von „Gedichten“, die derselbe Alexander Gorkow 2013 bei KiWi unter dem Titel „In Stillen Nächten“ herausgegeben (!) und mit einem Vorwort versehen hat, in dem die Bewunderung für das zarte Dichterherz des Mannes, der in seinem Mechandisingshop „Doctor Dick“ u.a. einen „Tilldo“-Víbrator (€90.00, ehemals €110.00) verkauft, kaum auszuhalten ist:

    „Wir sehen den Menschen in Tills Gedichten nackt“.

    Ich lese bei Wikipedia:

    „Alexander Gorkow, der als Herausgeber des Buchs fungiert, war mit Rammstein im Sommer 2012 einige Monate für eine Reportage des Magazins der Süddeutschen Zeitung quer durch die Vereinigten Staaten unterwegs.“

    Einige Monate? Und nix gemerkt?

    Vielleicht sollte die SZ zuerst bei sich selbst anfangen mit der Verdachtsberichterstattung, zumindest aber diese Tatsache transparent machen, wann immer Seite 3 involviert ist. Und Übermedien auch. Oder aber es war das Lyrische Ich von Alexander Gorkow, das Vorwort und Reportage geschrieben hat?
    Dann will ich nichts gesagt haben.

  6. @Stephan Karkowsky: Alexander Gorkow leitet seit einer ganzen Weile schon nicht mehr die Seite 3, sondern das Feuilleton. In der SZ-Berichterstattung darüber, dass Kiwi sich von Lindemann getrennt hat, gibt es da diesen Hinweis:

    „Beide Bücher wurden herausgegeben von einem der SZ-Feuilletonchefs, Alexander Gorkow, der das Video nicht kannte und die Entscheidung des Verlags richtig findet.“

    Ich finde viele der kritischen Fragen an ihn und die SZ berechtigt, aber deshalb nicht mit denjenigen SZ-Leuten sprechen, die heute einfach in der Sache recherchieren? Es gibt ja wirklich keinen Hinweis darauf, dass die SZ sich da jetzt irgendwie zurückhält.

  7. @Stefan Niggemeier: Danke für die Korrektur. Ändert nicht viel, aber besser nie auf Wikipedia verlassen…

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