Es ist nicht einfach, sich einen Reim zu machen auf die vier im Archiv des „Spiegel“ gesperrten Artikel von Giorgos Christides über den mutmaßlichen Tod eines fünfjährigen syrischen Mädchens auf der Flucht von der Türkei nach Griechenland. Es gibt offenbar Zweifel, ob es das Mädchen je gegeben hat. Wer einen der Artikel beim „Spiegel“ aufruft, erhält den Hinweis:
„An dieser Stelle befand sich ein Beitrag über das Schicksal einer Flüchtlingsgruppe am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros im Sommer 2022. Mittlerweile gibt es Zweifel an der bisherigen Schilderung der damaligen Geschehnisse. Wir haben daher mehrere Beiträge zu diesem Thema vorläufig von unserer Website entfernt. Wir überprüfen unsere Berichterstattung und entscheiden nach Abschluss der Recherchen, ob die Beiträge gegebenenfalls in korrigierter und aktualisierter Form erneut veröffentlicht werden.“
Einschlägige Medien wie „Tichys Einblicke“ freuen sich über das „Journalismusversagen“1)Ich verlinke nicht auf den Schmutz..
Der Autor
Michalis Pantelouris ist Journalist und Buchautor. Er hat u.a. die Redaktion des Joko-Winterscheidt-Magazins „JWD“ geleitet, war stellvertretender Kreativdirektor von „GQ“ und ist Creative Consultant bei der ProSieben-Sendung „Zervakis und Opdenhövel live“. Für Übermedien annotiert er unregelmäßig die Medienwelt.
„Aufgedeckt“ hat den potenziellen Fehler in der Berichterstattung der griechische Minister für Migration und Asyl, Panagiotis „Notis“ Mitarakis, der Griechenland „unfair kritisiert“ und den Ruf des Landes in der Berichterstattung „unfair beschmutzt“ sieht und deshalb dem „Spiegel“2)Und dem britischen Sender Channel 4, der ähnlich berichtet hatte. einen Brief schrieb, in dem unter anderem steht, die Eltern des Mädchens hätten in einer Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nur von vier Kindern berichtet, die alle gesund in Griechenland seien3)„He said that the testimony to the European Court of Human Rights referred to four children (born 2013, 2013, 2017 & 2018) and that they are all alive and well in Greece.“. Auch andere Hinweise wie Fotos ergäben keinen Hinweis auf das Mädchen.
Vielleicht ist dies eine gute Stelle, einmal festzuhalten, was wir eigentlich wissen.
Gestrandet im Grenzgebiet
Im Sommer strandeten mindestens 38 vornehmlich syrische, aber auch palästinensische Flüchtende auf ihrem Weg von der Türkei nach Griechenland auf einer kleinen Insel im griechisch-türkischen Grenzfluss Evros. Sie mussten dort knapp einen Monat ausharren, bis sie gerettet wurden, weil die griechischen Behörden behaupteten, man könne die Gruppe nicht finden, bevor sie dazu übergingen zu behaupten, sie befänden sich auf der nur wenige Meter breiten Insel, durch die offenbar die Grenze verläuft4)Es gibt unterschiedliche Angaben zum Status der Insel (es ist wirklich mehr eine Sandbank), aber Flüchtlingsorganisationen berichten, sie wären selbst von der griechischen Armee auf Google Maps verwiesen worden, nach deren Karte die ganze Insel griechisch ist., durchgehend auf der türkischen Seite und ihre Rettung wäre deshalb eine Grenzverletzung.
Abgesehen davon, dass Flüchtlingsorganisationen den Behörden öffentlich den Live-Standort von Handys der Flüchtenden mitgeteilt haben, …
1 of 2/ The GCR and HR360 are jointly calling Greek authorities to proceed to the urgent rescue of a group of refugees stranded at this location: https://t.co/v360aUwFCy
… ist nur zwei Kilometer von der Insel entfernt eine jener millionenteuren, hochtechnisierten Kontrollstationen, von der aus der griechische Grenzschutz unter anderem mit Wärme-Kameras einzelne Flüchtende orten kann. Die Behauptung, man könne eine Gruppe von mindestens 38 Menschen nicht orten, ist lachhaft.5)Ein bisschen mehr zu den Fähigkeiten des Systems zum Beispiel in diesem Thread.
In ihrer Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nennt der Hellenische Flüchtlingsrat die Behauptung, die Menschen hätten während eines Monats auf der winzigen Insel die für sie unsichtbare „Grenze“ nie überschritten und wären deshalb in der Türkei geblieben „unlogisch“ – was man vorsichtiger nicht formulieren kann. Aber „Quatsch“ ist wahrscheinlich kein juristischer Begriff.
Illegale Pushbacks
All das spielt auch keine Rolle, denn natürlich hat jemand, der an einer Grenze auftaucht, um einen Schutz als Flüchtling zu erlangen, schon Rechte. Die Realität an der EU-Außengrenze ist nur, dass Flüchtende mit allen – wirklich allen – Mitteln daran gehindert werden, ihre Rechte zu bekommen.
Denn auch das wissen wir: Die griechische Regierung lässt von ihren Grenzern (gemeinsam mit der Grenzschutz-Agentur Frontex) Flüchtende illegal zurückdrängen.6)Einer der Journalisten, die den geheimen Frontex-Bericht dazu veröffentlicht haben, ist der „Spiegel“-Journalist Giorgos Christides. Sie versucht gleichzeitig, die Berichterstattung darüber unmöglich zu machen. Im Fall der Geflüchteten im Evros greift gleich eine ganze Phalanx von Maßnahmen: Das Gebiet ist militärisches Sperrgebiet, in dem Zivilisten inklusive Journalisten der Zugang verboten ist. Journalisten dürfen auch nicht in die Lager, in denen die Geretteten untergebracht werden. Mitarbeiter von NGOs werden unter fingierten Gründen zum Beispiel als „Schlepper“ angeklagt oder, wie auch Journalisten, anders unter Druck gesetzt, zum Beispiel indem ihnen in regierungstreuen Medien Fehlverhalten unterstellt wird.7) „HumanRights360“ muss sich gerade gegen die Behauptung wehren, sie wären ohnehin nur eine „kriminelle Organisation“, die EU-Gelder abgreifen wolle:
Während des Monats auf der Insel im Evros setzten die Geflüchteten einen Notruf ab: Ein fünfjähriges Mädchen sei von einem Skorpion gestochen worden, ins Koma gefallen und brauche dringend medizinische Hilfe. Die griechischen Behörden verweigerten das aus den oben genannten „Gründen“. Ein paar Tage später dann die Nachricht, das Mädchen sei tot. Die Leiche habe man verscharrt. Als die Menschen es später ans rettende Ufer schafften, bedauerte der Minister noch den Tod des Mädchens. Heute sagt er, es habe sie nie gegeben.
Tatsächlich sind Zweifel berechtigt: Es gibt eine Liste der Flüchtenden, die sie noch vor dem Stranden im Evros-Fluss mit der Bitte um Hilfe an den Europäischen Gerichtshof geschickt hatten, auf dem die Familie vier Kinder vermerkt hat (und sie ist mit vier gesunden Kindern – drei Mädchen und einem Jungen – im Lager angekommen). Maria ist auf dieser Liste, aber nicht ein Mädchen, das jetzt Maya genannt wird und angeblich Marias Zwillingsschwester ist9)Es gibt zwei Fotos der angeblich toten Maria, aber sie ist darauf meiner Meinung nach nicht wirklich von dem lebenden Mädchen, das angeblich Maya heißt, zu unterscheiden. Auf Fotos von der Insel sind nie vier Töchter gleichzeitig zu sehen, die die Familie angeblich hatte, sondern immer nur drei. . Eine griechische Reporterin war kurz nach der Ankunft der Flüchtenden im Lager Fylakio und berichtete, die 38 Geretteten wollten nicht über den Tod des Mädchens reden.
Die FAZ gründet darauf eine stellenweise sehr persönliche Kritik an der Arbeit von „Spiegel“-Reporter Christides, allerdings ohne darauf einzugehen, dass die griechische Reporterin fast persönlich angefasst wirkt von der Kritik aus Deutschland.10)Entgegen den Erfahrungen, die normalerweise berichtet werden, hatte sie offenbar überhaupt keine Probleme, Zutritt zum Lager zu bekommen. Ich weiß nicht, ob das irgendwas bedeutet, aber eine konsequentere Reinwaschung hätten sich die griechischen Behörden nicht wünschen können. Um mal was zu raunen. Der „Spiegel“-Reporter war ebenfalls bei den Geretteten im Lager, aber offenbar offiziell als Übersetzer einer NGO. Außerdem unterschlägt der FAZ-Bericht zwei durchaus relevante Informationen: Die Geflüchteten möchten auch deshalb nicht über das tote Mädchen reden, weil die Anwälte, die sich um sie kümmern, ihnen davon abraten, mit Reportern zu sprechen. Und zweitens findet die Reporterin dann eben doch zwei unter den 38, die zumindest behaupten, dass ein Mädchen gestorben sei. Das muss nicht stimmen, aber es untergräbt doch die Wahrnehmung, der „Spiegel“ hätte fahrlässig gearbeitet.
Der eigentliche Skandal
Wichtiger ist ein ganz anderes Detail: Die griechische Regierung selbst ging davon aus, dass die Geschichte stimmt. Sie ging dementsprechend nach dem Notruf auch davon aus, dass auf der Insel ein Kind in Gefahr ist – und hat trotzdem nicht geholfen. Das ist der Skandal.
Dabei wäre die Wahrheit sehr einfach zu ermitteln: Die Eltern des Mädchens fordern, dass sie exhumiert und würdig bestattet wird. Sie beschreiben, wo auf der winzigen, namenlosen Insel sie ihren Körper verscharrt haben wollen. Eine Suche ist jetzt im Winter schwieriger, weil der Fluss mehr Wasser trägt, aber bitte: Es ist eine 200 mal 20 Meter große Insel in einem Fluss. Aber die griechische Regierung gräbt offenbar nicht gerne Dinge aus.
Dass wir darüber sprechen, liegt jetzt vor allem daran, dass es beim „Spiegel“ seit dem Fall Relotius eine Ombudsstelle gibt, die verhindern soll, dass ein solcher Fall je wieder auftreten kann. Was gleichzeitig den Nachteil hat, dass jeder Fall, mit dem sie sich beschäftigt, automatisch Vergleiche zu Relotius heraufbeschwört.
Dabei hat der Fall des Mädchens Maria im Fluss Evros keine Gemeinsamkeiten mit den erfundenen Reportagen von Claas dem Lügner. Es steht der Vorwurf im Raum, eine Gruppe von Flüchtenden hätte in existenzieller Not einen medizinischen Notfall erfunden oder übertrieben und auf die Spitze getrieben. Wer diese Geschichte als Tatsache berichtet hat, der müsste sie korrigieren. Aber für mich hätte es bis dahin der Hinweis im „Spiegel“-Archiv getan, dass es Hinweise einer notorisch lügenden und die Pressefreiheit bei jeder sich bietenden Gelegenheit untergrabenden Regierung gibt, dass an dieser einen Stelle ihr menschenverachtendes Verhalten gegenüber Flüchtenden nicht alle schlimmen Konsequenzen hatte, die man ihr vorwirft. Denn wenn sie wollte, dass man die Wahrheit über sie schreibt, könnte sie das sehr unterstützen, indem sie mal die Wahrheit sagt.
Nachtrag, 2. Januar 2023. Der „Spiegel“ hat die Ergebnisse seiner internen Untersuchung veröffentlicht. Das tatsächliche Geschehen konnte nicht in jedem Detail genau rekonstruiert werden, und Zweifel an der Existenz des angeblich gestorbenen Mädchens bleiben.
Das Fazit des „Spiegel“:
„Angesichts der Quellenlage hätte der SPIEGEL die Berichte über den Aufenthaltsort der Geflüchteten und vor allem den Tod des Mädchens deutlich vorsichtiger formulieren müssen. Auch wenn ein letztgültiger Beleg fehlt, deutet doch manches daraufhin, dass einige der Geflüchteten den Todesfall in ihrer Verzweiflung erfunden haben könnten. Möglicherweise dachten sie, dass sie dann endlich gerettet würden.
Die früheren Beiträge zum Fall Maria werden wir nicht mehr auf die Onlineseite stellen – auch nicht in überarbeiteter Fassung. Zu vieles darin müsste korrigiert werden. Stattdessen veröffentlichen wir hier die Ergebnisse unserer vertieften Recherche.“
Dass der „Spiegel“ nicht zurückhaltender formulierte, lag laut seiner Aufarbeitung auch daran, dass ein Mitglied der Ressortleitung einen Bericht des Reporters Christides beim Übersetzen und Redigieren zuspitzte. Er löschte alle vorsichtigen Konjunktiv-Formulierungen über den Tod des Kindes („She is reported dead“, „the group says, Maria died“) und setzte sie in den Indikativ.
„He said that the testimony to the European Court of Human Rights referred to four children (born 2013, 2013, 2017 & 2018) and that they are all alive and well in Greece.“
Es gibt unterschiedliche Angaben zum Status der Insel (es ist wirklich mehr eine Sandbank), aber Flüchtlingsorganisationen berichten, sie wären selbst von der griechischen Armee auf Google Maps verwiesen worden, nach deren Karte die ganze Insel griechisch ist.
Mit der bereits die vorherige Syriza-Regierung in der ihr eigenen Stümperhaftigkeit begonnen hat, die aber erst unter der aktuellen konservativen Regierung zur Blüte fand.
Es gibt zwei Fotos der angeblich toten Maria, aber sie ist darauf meiner Meinung nach nicht wirklich von dem lebenden Mädchen, das angeblich Maya heißt, zu unterscheiden. Auf Fotos von der Insel sind nie vier Töchter gleichzeitig zu sehen, die die Familie angeblich hatte, sondern immer nur drei.
Entgegen den Erfahrungen, die normalerweise berichtet werden, hatte sie offenbar überhaupt keine Probleme, Zutritt zum Lager zu bekommen. Ich weiß nicht, ob das irgendwas bedeutet, aber eine konsequentere Reinwaschung hätten sich die griechischen Behörden nicht wünschen können. Um mal was zu raunen. Der „Spiegel“-Reporter war ebenfalls bei den Geretteten im Lager, aber offenbar offiziell als Übersetzer einer NGO.
2 Kommentare
Video von gestern aus dem YouTube Kanal der bildzeitung:
„Die Völkerwanderung ist nicht zu stoppen!“ | Thomas Fasbender bei „Viertel nach Acht“
Thumbnail Caption:
„Ein Migrationsdruck, dem wir nicht standhalten können“
Ich verlinke nicht auf den Schmutz.
Das skandalöse Verhalten Griechenlands wurde schon weit vor diesem Vorfall kritisiert. Der Tod des Mädchens passte also sehr gut, um die griechische Regierung der Unmenschlichkeit zu bezichtigen. Ähnlich war es auch bei vielen Relotius-Geschichten. Sie bestätigten die Vorurteile der meisten Leser, sie hätten so stattgefunden haben können. Hier besser aufzupassen, versprach der Spiegel. Sollte es dieses Mädchen nie gegeben haben, hätten die Kontrollmechanismen wieder versagt. Das ist die eine Geschichte. Die andere Geschichte ist die Flüchtlingspolitik der EU und der Wille der europäischen Völker, damit umzugehen. Ich befürchte, diesen einen Willen gibt es nicht, sondern mindestens zwei Willen: Willkommenskultur oder Abschottung.
Video von gestern aus dem YouTube Kanal der bildzeitung:
„Die Völkerwanderung ist nicht zu stoppen!“ | Thomas Fasbender bei „Viertel nach Acht“
Thumbnail Caption:
„Ein Migrationsdruck, dem wir nicht standhalten können“
Ich verlinke nicht auf den Schmutz.
Was anderes, eine ähnliche Scharade aus dem (eben nicht) Profi-Tennis, auf die sogar die BBC reingefallen ist:
https://www.youtube.com/watch?v=GOtAnMzypr8
Das skandalöse Verhalten Griechenlands wurde schon weit vor diesem Vorfall kritisiert. Der Tod des Mädchens passte also sehr gut, um die griechische Regierung der Unmenschlichkeit zu bezichtigen. Ähnlich war es auch bei vielen Relotius-Geschichten. Sie bestätigten die Vorurteile der meisten Leser, sie hätten so stattgefunden haben können. Hier besser aufzupassen, versprach der Spiegel. Sollte es dieses Mädchen nie gegeben haben, hätten die Kontrollmechanismen wieder versagt. Das ist die eine Geschichte. Die andere Geschichte ist die Flüchtlingspolitik der EU und der Wille der europäischen Völker, damit umzugehen. Ich befürchte, diesen einen Willen gibt es nicht, sondern mindestens zwei Willen: Willkommenskultur oder Abschottung.