Recherchieren im Grenzbereich

Wie Griechenland Berichte über Flüchtlinge erschwert

In der vorigen Woche sind zwei NDR-Reporter bei Dreharbeiten in Griechenland verhaftet worden. Sie hatten für das neue Online-Magazin STRG_F zur Situation von Flüchtlingen an der Grenze zur Türkei recherchiert und dabei, wie der Sender erklärte, „versehentlich militärisches Sperrgebiet betreten“.

Da kann man sich natürlich fragen: Sind zwei ARD-Journalisten einfach zu blöd, um militärisches Sperrgebiet zu vermeiden? Die richtigere und wichtigere Frage aber lautet: Wieso mussten sie überhaupt dorthin – und wieso hören wir mittlerweile so wenig von dem Elend der Flüchtlinge hier? Die Antwort: Weil griechische Gesetze und Behörden die Recherche gerade zu Flüchtlingsthemen sehr erschweren.

Es gäbe gute Gründe und reichlich Anlässe, über die Situation der Flüchtlinge in Griechenland zu berichten. Erst am Mittwoch kam es im Lager Moria auf Lesbos zu Ausschreitungen, Polizeieinsätzen mit Tränengas, Feuer. „Unsere Teams in Moria mussten elf Menschen wegen der Folgen von Tränengas und Panikattacken behandeln, unter ihnen waren drei kleine Kinder und Schwangere“, berichtet Louise Roland-Gosselin, Landeskoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland. „In unserer psychiatrischen Klinik sind viele Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung, Patienten, die sich selbst verletzen und welche, die Selbstmordversuche unternommen haben. Sie entkommen Krieg und Bomben in Ländern wie Syrien, um neue Gewalt und Leid in Europa zu erfahren. Das ist einfach eine Schande. Das kann die EU nicht feiern!“

Im Flüchtlingslager Vial auf der griechischen Insel Chios. Foto: Marcus Engert

Das Ziel der Menschen in den Lagern war Europa. Und nun sitzen sie hier, in Europa zwar, in einem der „Hotspots“ genannten Flüchtlingslager der EU, doch hier sitzen sie fest. Überall hustet jemand, weil es schwer ist, gesund zu bleiben. Kinder spielen im Schlamm. Menschen sterben. Sie sterben, weil ihr Gaskocher explodiert (den sie nicht bräuchten, wenn die Versorgung mit Lebensmitteln erträglich wäre). Sie sterben, weil sie sich das Leben nehmen (was sie nicht täten, wenn sie eine Perspektive hätten). Sie sterben, weil sie bei Minustemperaturen und Schneefall nur unter Plastikplanen und auf Holzpaletten schlafen und sich ein Feuer machen, an dessen Abgasen sie im Schlaf ersticken (was sie nicht müssten, wenn die EU-Milliarden hier so verteilt würden, dass sie dort ankommen, wo sie gebraucht werden).

Die Route übers Meer ist ziemlich dicht. Kriegsschiffe, an die man die Fahnen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex gehängt hat, und noch mehr EU-Milliarden, die man den Türken überweist, sorgen dafür. Die Einsätze zeigen tatsächlich Wirkung – anders als die Mittel, die Griechenland für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge bekommt. Die Menschen weichen deshalb aus. Sie versuchen es über den Landweg: über den Nordosten Griechenlands. Auch dort ist Wasser die letzte Hürde. Der Grenzfluss Evros ist zwar nicht fünf oder zehn Kilometer breit wie das Meer, aber er hat eine Strömung.

Man kann es kurz machen: Auch hier ertrinken die Menschen.

Zynisch gesagt, wäre für Medien hier also so einiges zu holen. Das Thema der Flüchtlinge in Griechenland ist brisant, politisch relevant, die Schicksale sind dramatisch. Warum hören, sehen und lesen wir dann so selten von all dem?

Möglicherweise liegt es am Publikum, also uns selbst. Vielleicht haben wir uns einfach an das Grauen gewöhnt. Vielleicht fühlen wir uns überfordert und hilflos. Vielleicht fühlen wir unsere Komfortzone bedroht und klicken eher ungern solche Geschichten voller Elend und Leid. Mag alles sein.

Hinzu aber kommt eine Sache, für die wir nichts können. In Griechenland nämlich bedienen sich die Behörden wieder gern eines fast schon vergessenen Instruments, das viel eher ansetzt. Am Beginn der medialen Nahrungskette sozusagen, am Beginn der Aufmerksamkeitsökonomie: beim Entstehen der Bilder. Sie greifen auf Artikel 149 des griechischen Strafgesetzbuchs zurück. Der wird nun in Verbindung mit einem Notstandsgesetz von 1936 (AN 376/1936 „Über Sicherheitsmaßnahmen von befestigten Stellungen“) angewendet.

Das Gesetz sieht ein umfassendes Fotoverbot vor, nicht nur für militärische Anlagen oder Militärangehörige, sondern auch für zivile Einrichtungen wie Häfen oder Flughäfen – selbst dann, wenn die nur im Hintergrund sind. Es betrifft auch fast alle Einrichtungen, in den Flüchtlinge untergebracht sind, weil sie vom Militär betrieben werden.

Man könnte den Artikel 149 mit „Landesverrat“ übersetzen. Wer von einer Behörde (das kann Polizei, Grenzpolizei oder auch Militär sein) in einem unerlaubten Gebiet aufgegriffen wird, wird verhaftet. Als unerlaubt werden „Befestigungen, Geschäfte, Straßen, Einrichtungen oder andere Anlagen oder militärische Bereiche“ genannt. Wer diese Orte heimlich oder mit Täuschung betritt, kann schon deswegen mit bis zu sechs Monaten Haft bestraft werden. Wer dort dann auch noch Bilder oder Skizzen anfertigt, dem drohen bis zu zwei Jahre. 

Mit anderen Worten: Wo immer Flüchtlinge und Staat zusammenkommen, kann man eigentlich nicht filmen, ohne sich strafbar zu machen. Das kann Auslegungssache sein, doch kommt man in die Situation, darüber diskutieren zu müssen, ist es ohnehin zu spät.

Vorzeige-Lager

Natürlich können Journalisten den offiziellen Weg gehen: um Erlaubnis fragen, eine Drehgenehmigung beantragen. „In den meisten Fällen aber wird keine Erlaubnis erteilt“, sagt Giorgos Christides, der für den „Spiegel“ aus Griechenland berichtet. „Die Regierung erlaubt einem dann in der Regel nur, ausgesuchte Camps zu besuchen, wo die Bedingungen ganz gut sind.“ Journalisten bekommen dann kleinere Vorzeige-Lager präsentiert, die mit der brutalen Realität der Hotspots wenig gemein haben.

Hinzu kommt eine verworrene Bürokratie, in der sich nicht nur ein Reporter verliert, sondern auch Verantwortung.

Die Lager haben zwar eine zivile Leitung, Betrieb und Logistik aber übernehmen Militär und Polizei. Je nachdem, welche Einrichtung man besuchen will, kann das Ministerium für Migration zuständig sein, ebenso gut eine andere Regierungsstelle oder lokale Behörden. Es ist von außen nicht zu durchblicken. Früher oder später jedenfalls landet jeder ausländische Journalist beim „Foreign Correspondents Office“, einer Art Koordinierungsstelle der Regierung.

Panajotis Gavrilis, der für den Deutschlandfunk aus den griechischen Lagern und dem Grenzgebiet berichtet hat, fasst seine Erfahrungen so zusammen: „In Griechenland geht alles über dieses Foreign Correspondents Office. Selbst wenn du mit einem Dorf-Sheriff sprechen möchtest, musst du das erst an die schicken. Die geben das an die Polizeiführung in Athen zum Beispiel. Die leiten das an die Polizei im Bezirk, und vor Ort, und so weiter – und dann geht das die Kette wieder zurück. Wenn du keine Connections hast, ist das unheimlich schwierig. Am Ende hab ich’s dann auch aufgegeben.“

Ob die ARD anklopft oder ein Blogger, das Resultat ist meistens das gleiche: „Die wollen halt keine Aufmerksamkeit dort“, sagt Panajotis.

Einfach reinschleichen

„Spiegel“-Reporter Christides meint, man solle die Bedeutung dieser Beschränkungen nicht überbewerten. In Lagern und anderen „verbotenen“ Gebieten sei es oft recht einfach, reinzugehen und zu arbeiten. „Im berüchtigten Moria Camp auf Lesbos zum Beispiel gibt es viele Zaunlöcher und man kann sich nachts oder sogar einfach tagsüber reinschleichen“, sagt er. „Ja, die Regierung will Journalisten die Arbeit hier nicht unbedingt leichter machen, aber nein, das hat die Medien nicht davon abgehalten, zahlreiche Geschichten zu veröffentlichen, Fotos eingeschlossen. Und die Strafen, wenn man erwischt wird, sind minimal, wenn überhaupt. Sie können zum Beispiel verlangen, dass man Fotos von der Kamera löscht, aber ob man das tatsächlich getan hat, wird nicht sehr gründlich überprüft. Als ich das letzte Mal in Lesbos war, hat die Polizei mich und den Fotografen, der Bilder im Lager gemacht hat, erwischt. Sie brachten uns zum Revier und ließen uns einige Stunden später gehen. Im Übrigen ist es das Einfachste auf der Welt, Flüchtlinge selbst dazu zu bekommen, einem Videos und Fotos aus dem Camp zu geben.“

Nichts davon ist falsch. Als wir für BuzzFeed News einen systematischen Psychopharmaka-Missbrauch im Lager Vial recherchiert haben, ging es uns genauso. Doch ist all das eben ein Kompromiss. Frei arbeiten lässt sich dort nicht. Schon mit zwei erhobenen Armen und einem Handy auf Gesichtshöhe fällt man auf. Und Militär, Polizei und Behörden sind meist nicht weit:

Fotografierverbote, Spionage-Paragraphen – für Flutura Kusari, Legal Advisor des European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF), ist klar: mit freier, unabhängiger Presse hat das nichts zu tun. „Gemäß internationaler Rechtsprechung ist das Sammeln von Informationen ein wesentlicher Bestandteil der journalistischen Arbeit und ein inhärenter und rechtlich geschützer Teil der Pressefreiheit“, sagt Kusari. „Foto- und Filmaufnahmen zu machen, ohne vorher eine Erlaubnis eingeholt zu haben, ist gestattet, wenn dies im öffentlichen Interesse geschieht. Die Berichterstattung über Flüchtlinge ist ein höchst wichtiges Thema öffentlichen Interesses.“ Weil das immer öfter nicht alle so sehen, hat man am ECPMF sogar ein rechtliches und finanzielles Hilfsprogramm für Journalisten aufgelegt, die sich juristisch wehren müssen, weil sie ihre Arbeit gemacht haben.

An der Grenze

Was Evros betrifft, wo die ARD-Kollegen aufgegriffen wurden: „Das ist eine andere Geschichte“, findet Giorgos Christides. „Man braucht die Genehmigung des Militärs, um Evros zu besuchen. Aber man muss fairerweise sagen: Das ist eine Grenzzone zwischen zwei Ländern, die in der Vergangenheit mehrmals kurz vor einem Krieg standen, und die bilateralen Beziehungen sind jetzt so schlecht wie seit Jahren nicht.“ Überall auf der Welt – abgesehen von den EU-Binnengrenzen – dürfe man sich nicht frei in Grenzgebieten bewegen, in denen Militär patrouilliert. „Und Evros wird auch deshalb streng bewacht, weil es eine Passage für Flüchtlinge und Schmuggler bleibt, und darum haben die Behörden hier wenig Spielraum. Selbst griechische Touristen, die ins Evros-Delta reisen wollen, brauchen eine Genehmigung. Übrigens auch aus Gründen der eigenen Sicherheit, denn der Fluss kann ziemlich tückisch sein. Sogar erfahrene Fischer haben hier ihr Leben verloren.“ Das Fazit des „Spiegel“-Mitarbeiters: „In Evros will die Regierung eher nicht etwas verbergen, sondern ein gefährliches Gebiet kontrollieren.“

Deutschlandfunk-Reporter Panajotis Gavrillis wurde bei seiner Reportagereise durch das Grenzgebiet bewusst: „In Deutschland kennen wir die klassische Grenze ja so nicht mehr. Und militärisches Sperrgebiet kennen wir nur, wenn es irgendwelche Übungsplätze oder so sind. Wir können uns das nicht vorstellen. Aber das ist eben eine Außengrenze. Auf der anderen Seite ist die Türkei. Und das ist schon eine ziemlich angespannte Situation gerade.“

Dennoch stellt sich natürlich auch hier die Frage, in welchem Maße sich die Presse aussperren lassen darf. Es müsste wenigstens die theoretische Möglichkeit geben, überhaupt Genehmigungen für Dreharbeiten zu bekommen, zur Not in Begleitung. Auch die ARD hatte sich im Vorfeld darum bemüht.

Eine Richterin entließ die beiden festgenommenen NDR-Reporter aber ohne Auflagen. Das Grenzgebiet sei nicht ausreichend beschildert gewesen, urteilte sie. Die Journalisten hätten glaubhaft erklären können, dass sie nicht gewusst hätten, bereits in einem verbotenen Bereich gewesen zu sein.

Sie kamen frei, weil ihnen kein vorsätzlicher Verstoß nachgewiesen werden konnte. Aber es gilt auch: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Man kann sich in Griechenland als einfacher Tourist in einer Polizeizelle wiederfinden. „Zuwiderhandlungen werden – auch gegenüber EU-Bürgern – strafrechtlich verfolgt“, warnt das Auswärtige Amt, und das ist keine Panikmache. 2002 wurde eine Gruppe von sogenannten „Plane Spottern“ verhaftet und zu teils mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, weil sie auf einer Flugzeugschau Militärflugzeuge fotografiert hatten. 2014 bekam ein Deutscher, der für die Türkei eine griechische Militärbasis fotografiert haben soll, 14 Jahre Haft.

Nachdem auch für einheimische Journalisten in den letzten Jahren die Situation mitunter erheblich erschwert wurde, steht Griechenland inzwischen auf auf Platz 88 der „Rangliste der Pressefreiheit“ von „Reporter ohne Grenzen“ – hinter Togo, dem Kosovo und Armenien.

3 Kommentare

  1. Der DLF berichtet auch über erhebliche Differenzen zwischen den von der EU bereitgestellten Geldern und den Geldern, die tatsächlich in den Lagern eingesetzt werden. Erhebliche Summen versickern demnach irgendwo in Griechenland. Interviews mit Zuständigen in Griechenland gelangen nicht.
    Da ergeben sich für mich zwei Fragen:
    1.
    Wenn dem so ist, wäre das ein starkes Motiv für die errichteten Hürden bei der Berichterstattung vor Ort. Warum beschäftigt sich der Artikel damit nicht?

    2.
    Wenn sich in Griechenland niemand findet, der als Zuständiger dazu Auskunft geben kann, müsste dann nicht versucht werden , Zuständige in der EU zu finden, die Auskünfte geben können, wie die Verwendung der Gelder eigentlich kontrolliert wird?

  2. Als Definition, was ein unerlaubter Bereich ist, steht in dieser Text: „Als unerlaubt werden ‚Befestigungen, Geschäfte, Straßen, Einrichtungen oder andere Anlagen oder militärische Bereiche‘ genannt.“

    Nach dem Wortlauf dieses Satzes wäre also nicht nur der Aufenthalt in militärischen Bereichen unerlaubt, sondern generell der Aufenthalt in irgendwelchen Geschäften oder auf Straßen. Nun kann ich mir nicht so recht vorstellen, daß ganz allgemein der Aufenthalt in Geschäften und auf Straßen unerlaubt sein soll. Auch die Bürger Griechenlands kaufen in Geschäften ein und bewegen sich auf Straßen fort. Entweder ist das also eine Klausel, die der Polizei die Festnahme beliebiger Menschen erlauben soll, oder es fehlt in dem Text etwas zu dem genauen Anwendungsbereich dieses Satzes.

    Bemerkenswert finde ich allerdings auch den Hinweis am Ende des Textes, daß bereits Menschen dafür ins Gefängnis gekommen sind, daß sie auf einer Flugschau die Flugzeuge photographiert haben. Eine Flugschau ist ja gerade dazu da, die Flugzeuge der Öffentlichkeit vorzuführen. Da gehört das Photographieren des öffentlich gezeigten Materials doch unmittelbar dazu.

    Unsofern ist es vielleicht doch nicht so überraschend, wenn die Rechtslage tatsächlich so sein sollte, daß man für das bloße Betreten eines Geschäftes oder einer Straße verhaftet werden kann.

  3. Hallo Daniel Rehbein,

    tatsächlich ist das die Übersetzung des entsprechenden Paragraphen. Man wird das so verstehen können, dass zivile Einrichtungen bzw. Orte nur dann unter das Verbot fallen, wenn sie als wichtig im Sinne von Spionage-relevant eingestuft werden (wie z.B. Flughäfen und Häfen, Wasser- und Elektrizitätswerke oder eben Flüchtlingslager), aber der Wortlaut ist so wie oben beschrieben.

    __

    Hallo JUB68,

    über Korruption in Griechenland wurde/wird sicher an anderen Stelle berichtet. Hier beschäftigen wir uns mit Arbeitsbedingungen für JournalistInnen und KorrespondentInnen in Griechenland und der Frage, welche strukturellen Ursachen es dafür geben könnte, dass so viele Geschichten in den Medien hierzulande unerzählt bleiben (müssen).

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