Podcastkritik (77)

„Der ganz formale Wahnsinn“: Meetings, Firmenfeiern und Flurfunk besser verstehen

"Der ganz formale Wahnsinn" überzeugt als Podcast. Das Bild zeigt das Logo des Podcasts: Ein Schwarz-Weiß-Bild eines verglasten Meetingsraums. Daneben ist die Illustration eines Podcast-hörenden Menschen zu sehen, der unter Kopfhörern zufrieden grinst.

 

Ein Podcast über Organisationen, Formalien und den Arbeitsalltag? Was erstmal furchtbar trocken-theoretisch und wenig einladend klingt, entpuppt sich beim Hören als informativ und unterhaltsam. „Der ganz formale Wahnsinn – was Organisationen zusammenhält“ ist der perfekte Podcast, um überhaupt zu erkennen, was Formalie und was Wahnsinn im Arbeitsalltag ist – und um besser damit umzugehen.

Das Format, in dem sich der Journalist Andreas Hermwille mit dem Organisationssoziologen Stefan Kühl unterhält, kommt ohne das übliche Berater*innen-Bullshit-Bingo aus. Stattdessen liefert es Denkanstöße für den Alltag im sozialen Gebilde einer Organisation – egal, ob es sich dabei um ein Unternehmen, eine Verwaltung, eine Partei oder einen Verein handelt. Vor allem in Zeiten, in denen Menschen langsam wieder in die Büros und Kaffeeküchen zurückkehren, sind Sie mit „Der ganz formale Wahnsinn“ bestens dafür vorbereitet.

„Egal, was man macht, man ist permanent Organisationen ausgesetzt, man kann ihnen nicht ausweichen. Freundschaften kann man ausweichen, bei Organisationen ist das extrem schwierig“, sagt Co-Host Stefan Kühl in der ersten Folge. Die Hörer*innen werden zum Perspektivwechsel eingeladen, sich selbst und die Umwelt durch das Mikroskop der Organisationssoziologie zu beobachten. Der Fokus liegt dabei auf dem Beschreiben und Analysieren. Wer schnelle Tipps für die Karriere sucht, ist hier falsch.

Den Podcast hat mir – wie sollte es anders sein – ein Arbeitskollege empfohlen (liebe Grüße an dieser Stelle!). Weswegen ich umso überzeugter bin: „Der ganz formale Wahnsinn“ ist die perfekte Grundlage dafür, sich entweder mit den Lieblingskolleg*innen über das gemeinsame Schicksal auszutauschen. Oder um sich besser, weil informierter aufregen zu können über die schlimmsten Kolleg*innen, Prozesse und Strukturen der eigenen Organisation. Aber Achtung: Dieser Podcast macht es schwer, die nächste Betriebs- oder Weihnachtsfeier nicht erst recht als Sozialexperiment beobachten zu wollen.

Der Sidekick und der Experte

Was mich beim Hören begeistert hat: Das Gespräch mäandert nicht dahin, sondern ist fokussiert. Der Journalist Andreas Hermwille ist der Sidekick, der Fragen und Steilvorlagen an den Organisationssoziologen Stefan Kühl liefert.

Die Gesprächssituation ähnelt eher einem klassischen Experteninterview, das erklärt und einordnet. In den zwanzig bis dreißig Minuten kurzen Episoden gibt es weniger ausführliche Plauderei, dafür mehr strukturierte Argumentation.

Trotz dieser eher steifen Konstellation und dem freundschaftlichen Siezen haben die beiden Podcast-Hosts eine angenehme Dynamik. Moderator Hermwille hält den Podcast zusammen, fragt die naiven Lern- und Verständnisfragen für Laien wie mich. Und hin und wieder fordert er Kühl heraus, indem er dessen theoretischen Betrachtungen scheinbar widersprüchliche Berufserfahrungen entgegensetzt.

Wenn Kühl beispielsweise ausführt, dass innovative Ideen meist daran gemessen werden können, wie viel Abwehr sie in der Organisation auslösen. Dann fragt Hermwille: „Kann man daran nicht eher die Renitenz einer Organisation messen? Es ist doch voll gesund für eine Organisation, Innovationen willkommen zu heißen, oder?“ Kühl zieht dann das Beispiel heran, dass selbst Unternehmen mit eigenen Innovationsabteilungen plötzlich mit Neuem hadern, wenn es von außerhalb der Spezialabteilung kommt.

Kühl hat in solchen Momenten erst recht hörbar Spaß an der Rolle, sein theoretisches Forschungsfeld in Praxis und Alltag zu übersetzen. Pointiert, meinungsstark, laienverständlich, aber immer um Kontext und Genauigkeit bemüht. Für diese Doppelrolle ist er gut geeignet: Kühl ist nicht nur Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld, er arbeitet auch als Organisationsberater.

Nüchtern und ohne Managementsprech

Keine Sorge: Dieser Podcast verkommt aber zum Glück nie zum Marketingwerkzeug, wie es die meisten anderen Formate in den Kategorien Wirtschaft und Management gerne tun. (Erkennbar auch am gepflegten Understatement des bescheidenen Podcast-Logos.)

„Der ganz formale Wahnsinn“ ist eine nüchterne Betrachtung aus wissenschaftlicher Sicht, ergänzt um den Erfahrungsschatz von Kühl als Berater. Eine abwechslungsreiche Kombination, ergänzt mit durchaus selbstkritischen und selbstironischen Untertönen, zum Beispiel, wenn sich der Podcast in einer Folge selbst fragt, ob das Reden und Wissen über Mechanismen von Organisationen am Ende nicht auch zynisch macht.

Außerdem geht Kühl transparent damit um, was der überprüfbare Stand der Forschung ist und was eher seine eigene Einschätzung ist. Besonders unterhaltsam wird der Podcast immer dann, wenn es um persönliche Erfahrungen geht. Beispielsweise, wenn Hermwille eine Anekdote aus seiner Wehrpflicht bei der Marine erzählt: Dass der Offizier in den ersten Wochen mit keiner noch so gründlichen Reinigung der Unterkunft zufrieden war und immer Dreck fand, der eine Strafe rechtfertigte.

Dann erklärt Kühl anhand des Beispiels Bundeswehr das Phänomen der sogenannten Normenfalle, und analysiert, welche „Waffen“ eine Organisation einsetzen kann, um mal mehr oder weniger subtil Zwang und Hierarchie auszudrücken. Kühl: „Ihr Vorgesetzter wollte Ihnen in dem Moment zeigen: ‚Egal wie ihr euch verhaltet, egal, wie perfekt ihr versucht zu sein – gegen irgendeine der formale Normen werdet ihr auf alle Fälle verstoßen und wenn ihr mir auf irgendeine Form dumm kommt, ich werde diesen Punkt finden und gegen einen Verstoß gegen die formale Ordnung machen.’“ Eine Situation, die – wenn auch in unterschiedlichen Organisationen – viele schon erlebt haben.

Grundkurs Organisationssoziologie für Klugscheißer

Trotz aller Unterhaltsamkeit rast der Podcast regelrecht durch das Fachgebiet, als eine Art „Organisationssoziologie für Dummies und Angeber“. Von Arbeitstreffen und Hierarchien, über Flurfunk, Meetings bis hin zu Workshops und Weihnachtsfeiern (mit die beste Episode). Es gibt kaum ein Phänomen der Arbeitswelt, das nicht mit einer Episode gewürdigt wurde.

Hermwille und Kühl haben ein sehr effizientes Format für sich gefunden: Ein übergreifendes Leitthema pro Staffel (bisher 3), mit jeweils 15 Episoden zu einzelnen Aspekten, die meist konkrete Leitfragen behandeln. Die sind wiederum so scharf fokussiert, dass sogar mehrere Episoden zu ähnlichen Themen möglich sind, ohne dass es nervige Wiederholungen gibt. So geht es in Staffel 2 um das Thema Interaktion; in den einzelnen Folgen sprechen die Hosts zum Beispiel darüber, wie man ehrlich und dennoch taktvoll kommuniziert, wie man mit peinlichen Situationen umzugeht oder warum Meetings oft so schrecklich bleiben, obwohl sich alle darüber beschweren.

„Der ganz formale Wahnsinn“ ist somit ein lehrreiches wie kompaktes Format. Was ich in der stetig wachsenden Flut von stundenlangen, oft eher suchenden Gesprächen in Podcasts sehr schätze.

Obwohl ich das entschleunigte und durchdachte Staffelkonzept mit seiner fast schon didaktischen Voraussicht und Struktur mag: Toll wäre, wenn die Durststrecken zwischen den Staffeln nicht so lang wären. Andererseits sind die Episoden so dicht mit Information bepackt, dass zumindest bei Laien wie mir selbst beim zweiten und dritten Hören noch keine Langeweile aufkommt.

Bitte weniger Radioklischee

Das Haar in der Suppe: Ich hadere bei diesem Podcast leider mit den An- und Abmoderationen. Denn ich bin nie sicher, ob mir eine Ironie-Ebene entgeht. Oder ob die Moderationen eingangs und am Schluss wirklich ernst gemeint sind. Sie wirken wie ein Fremdkörper und klingen in ihrer Formelhaftigkeit und übertriebenen Darbietung eher nach Radioklischee, als nach einem organischen Intro oder Outro. Was mir ohnehin nur so stark auffällt, weil die Episoden oft gefühlt mittendrin einfach abrupt zum Halten kommen. Dann platzt ein hastig klingender Hermwille herein. Zack, Bumm, Aus. Nun, man soll ja aufhören, wenn’s am schönsten ist. Mit diesem Bruch kann ich dennoch weitaus besser leben als mit der Lanz’schen Podcast-Pseudomoderation, die mit „Wo erreiche ich dich heute, Richard?“ anfängt und gerne mal abrupt endet mit „Lassen wir so stehen“.

„Der ganz formale Wahnsinn“ ist eine angenehme Mischung aus theoretischem Unterbau mit praktischen Service-Aspekten. Obwohl die beiden Hosts selber gerne über die schlimmsten Pseudo-Tipps der Ratgeber- und Beratungswelt herziehen und selten ein gutes Wort an Management-Literatur lassen.

Hermwille und Kühl ziehen mit ihrem Podcast den Theatervorhang ein Stückchen auf, schauen auf Strukturen, Muster, Inszenierungen von Menschen in Organisationen. Ihr Podcast ist halb Vorlesung, halb Therapiestunde. Der perfekte Soundtrack für den Moment, wenn die eigene Organisation mal wieder zum Haareraufen ist. „Der ganz formale Wahnsinn“ beleuchtet und hinterfragt, was passiert, wenn Menschen zusammen wirken. Er ist podcast-gewordenes Gegengift zur zwanghaften Selbstinszenierung unserer Arbeitswelt.


Podcast: „Der ganz formale Wahnsinn“ von Andreas Hermwille und Stefan Kühl

Episodenlänge: 20-30 Minuten, bisher 45 Episoden

Offizieller Claim: „Was Organisationen zusammenhält“

Inoffizieller Claim: „Herr Professor, gestern schien meine Arbeitswelt noch in Ordnung…“

Wer diesen Podcast hört, mag auch… die Serien „The Office” bzw. „Stromberg“ und „Severance“, den „Soziopod“ und „Anekdotisch Evident

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