Die Podcast-Kritik (47)

Mr. Investigativ­journalist, wie haben Sie das gemacht?

Podcastkritik: "The Tip Off" mit glücklichem Gesicht

Wenn ich früher, als wir noch Menschen treffen durften, erzählt habe, was ich beruflich mache, war die Reaktion oft sowas wie: „Das ist ja spannend!“

Auch wenn ich mit seit vielen Jahren mit Podcasts beschäftige, hauptberuflich bin ich Reporter in einer Investigativ-Redaktion. Und irgendwie glauben die Leute: Investigativer Journalismus sei ein großes Abenteuer und etwas Glamouröses. Das mag Filmen und Serien geschuldet sein und ist auch nicht schlimm (die meisten von uns finden es vermutlich sogar schmeichelhaft), nur: mit der Realität hat es wenig zu tun.

Wie der Alltag investigativ arbeitender Journalistinnen und Journalisten tatsächlich aussieht, das behalten wir gern für uns. Zum Beispiel, weil wir große Teile unserer Zeit mit Dingen verbringen, die zu nichts führen. Und würden wir allen von unseren Themen, Hinweisgebern, Arbeitsweisen, Tricks und Kniffen erzählen, könnten wir den Job ja auch lassen.

Die breite Öffentlichkeit sieht von unserer Arbeit deshalb meist nur das Ergebnis – die Recherchen, Texte, Dokumentarfilme, Reportagen und Features – aber nicht den Weg dahin. Und auch wenn es gute Gründe dafür gibt, ist das schade. Denn wie in anderen Disziplinen auch kann man aus den Dingen, die nicht geklappt haben, oft das meiste lernen. Über den Weg zu einem Ergebnis und auch über Fehler zu reden, schafft außerdem Vertrauen. Und bei vielen beeindruckenden Recherchen will man, nachdem man sie gelesen, gesehen oder gehört hat, ohnehin wissen: Wie haben die das geschafft?

Der Podcast „The Tip Off“ von Maeve McClenaghan gibt Antwort auf diese Fragen. Er stellt beeindruckende investigative Recherchen aus aller Welt vor – und ihre Macher.

Maeve McClenaghan ist selbst Reporterin und arbeitet beim britischen „Bureau of Investigative Journalism“, einer NGO, die ihre (mitunter atemberaubenden!) investigativen Recherchen frei online zur Verfügung stellt.

Oft ist es ein Problem, wenn Fachleute mit Fachleuten sprechen, hier nicht. Weil Maeve weiß, wovon sie spricht, welche die richtigen, die klugen Fragen sind und weil sie ihren Gästen Raum lässt, ist „The Tip Off“ mehr als nur ein Nacherzählen. Maeves langsame, sanfte, geradezu tastende Erzählweise sorgt dafür, dass die Podcast-Episoden für sich stehen, auch dann, wenn man die Recherche dazu gar nicht kennt.

Kein Schmuck, kein Effekt

Rein handwerklich ist „The Tip Off“ keine große Sache: Ein Host, der eine Geschichte (nach-)erzählt, eingespielte Interviewteile aus Gesprächen mit den Machern – das war’s. Hier ist nichts überfrachtet, kein Schmuck und kein Effekt spielt sich in den Vordergrund. Der unaufgeregte, sanfte Ton steht so nicht selten im krassen Kontrast zu den schockierenden, ungeheuerlichen Inhalten, die man da hört.

Da ist die Doppelfolge Nr. 15 und 16. Darin erzählt ein Investigativ-Team aus dem Londoner Büro von BuzzFeed News (Offenlegung: Kollegen von mir), wie sie 14 Todesfälle in London recherchierten, die von den Behörden als Selbstmord, Unfall oder natürlicher Tod eingestuft wurden. Darunter ein Mann, der als Problemlöser für Putins schärfste Kritiker reich geworden war und der, obwohl sehr groß und kräftig, durch ein Fenster von einem halben Meter Breite in die Tiefe stürzte, an dessen Sims sich noch Kratzspuren vermutlich von Fingernägeln finden. Und ein Geheimdienstmitarbeiter, der zum Thema Russland arbeitete, dessen verrottender Körper in einer Sporttasche in seiner Badewanne gefunden wurde und von dem die Behörden sagten, sein Tod sei „wahrscheinlich ein Unfall“ gewesen.

Ja, das klingt nach Abenteuer. Die Wahrheit aber sieht so aus, dass sich das Team dafür in öde, temporäre, hässliche Büros außerhalb der Stadt einmieten musste und ein junger Reporter monatelang nichts anderes tat, als Dokumente einzuscannen – 250 Kisten voller Dokumente.

Seltene Einblicke in alle Facetten

Wir hören den Fall einer Frau, die sechs Monate lang entführt und mehrfach vergewaltigt und dann in einer britischen Spezialklinik behandelt wurde – bis eines Tages Polizisten kamen und sie aus der Klinik holten, weil sie als Nicht-Britin unter das Einwanderungsgesetz fällt.

Wir hören Omar Radi (Folge 47), der in Marokko recherchierte, wie sich korrupte Netzwerke aus Politik und Wirtschaft mit geraubtem Land bereichern – und dafür nach und nach die ganze Härte des unterdrückerischen Regimes zu spüren bekam: Inhaftierung, Dauerüberwachung, Verleumdung über die Staatsmedien, stundenlange Befragungen durch den Sicherheitsapparat.

Und wir hören Jim DeRogatis, der über zwei Jahrzehnte an einer Recherche drangeblieben ist. Als er sie veröffentlichte, führte das zu einem Erdbeben in der Musikindustrie, katapultierte die MeToo-Bewegung auf ein neues Level und gab den erschütternd vielen Opfern des Musikers R. Kelly einen Teil ihrer Würde zurück: Missbrauchsvorwürfe von einer Tragweite, die man sich nicht hat vorstellen können.

In „The Tip Off“ bekommt man seltene Einblicke in alle Facetten dieses Berufs. In die Arbeit mit großen Daten und unendlich vielen Dokumenten. In das schwierige Feld der Verdachtsberichterstattung, der Arbeit mit traumatisierten Opfern und Fällen, in denen es keine Zeugen gibt. In Recherchen im Lokalen und im Globalen, im reichen Westen und in den armen, zerrütteten, vom Krieg gebeutelten Gegenden dieser Welt. Der Podcast beschränkt sich nicht auf den amerikanisch-europäischen Teil der Welt, nicht auf weiße Männer, nicht auf die Reichen und Mächtigen.

Realitätschecks

Obwohl „The Tip Off“ das gar nicht will, zeigt uns dieser Podcast auf eindrückliche Weise, was diesen Job so einsam macht und so großartig. Und was Recherche so teuer macht – und so wertvoll. All die gemieteten Büros, Autos und Wohnungen, all die Sicherheitsvorkehrungen, die Reisen, die Übersetzer, Fact-Checker, Fotografen, Fixer vor Ort.

Und ab und zu zwingt uns „The Tip Off“ auch, unsere eigenen Glaubenssätze in Frage zu stellen. Das passiert hier nicht mit dem erhobenen Zeigefinger und nicht im Vorlesungsstil, aber auch die großen, berufsethischen Fragen des Journalismus werden hier behandelt – und einem Realitätscheck unterworfen. Wenn du die grausamsten Geschichten hörst, kannst du da wirklich neutral bleiben? Wenn du in ein Kriegsland wie Syrien nicht einreisen und nicht selbst vor Ort recherchieren kannst, aber dort von Folter und Mord in einem staatlichen Krankenhaus hörst: Sollst du die Geschichte dann ignorieren? Wenn du Material über minderjährige Missbrauchsopfer von R. Kelly erhältst: Wie willst du dann mit der eisernen Regel umgehen, dass Redaktionen ihr Material nicht an Ermittlungsbehörden geben?

Vieles, was man hier hört, bringt einen ins Grübeln. Anderes ist Inspiration. Und Ansporn. Der eigentliche Wert dieses Podcasts aber besteht in etwas ganz anderem: „The Tip Off“ zieht die Perspektiven gerade. Weil uns die Recherchen und vor allem die eindrücklichen Gespräche mit den Macherinnen und Machern vor Augen führen, wie viele Privilegien wir genießen dürfen. Und weil diese Gespräche nicht selten auch ein ganz gutes Gegenmittel gegen das Imposter-Syndrom sind.

Große Kunst entsteht nicht, weil jemand immerzu über Kunst redet. Große Küche nicht, weil jemand ständig Essens-Fotos teilt. Und auch hier merkt man: Dieser Job ist Arbeit. Klar, es gehört auch Glück dazu, wichtiger aber ist: Fehler machen, Instinkt haben, Verbissenheit, Konzentration, solides Handwerk, ein gutes Team, stoisches Dranbleiben.

Knapp 50 Folgen sind bereits erschienen. Man hört sie, und danach liest man: Die Recherchen, die Reportagen, die Bücher, und man fragt sich, was aus den Leuten geworden ist und wie ihre Geschichte weiterging. „The Tip Off“ bringt einen durch den Lockdown und den Winter.


Podcast: „The Tip Off“ von Maeve McClenaghan

Episodenlänge: ungefähr eine halbe Stunde

Offizieller Claim: The stories behind some of the most compelling investigative journalism

Inoffizieller Claim: Wie haben die das nur gemacht?

Wer „The Tip Off“ mag, hört auch: vielleicht den einen oder anderen der deutschen Recherche-Podcasts, die wir hier besprochen haben

3 Kommentare

  1. „Wenn du Material über minderjährige Missbrauchsopfer von R. Kelly erhältst: Wie willst du dann mit der eisernen Regel umgehen, dass Redaktionen ihr Material nicht an Ermittlungsbehörden geben?“

    Wie ist das denn rechtlich? Ärzte und Anwälte machen sich ja ab einem gewissen Punkt strafbar. Im Netz habe ich da auf die Schnelle §138 und §139 im StGB gefunden. Journalisten sind in §139 auch gar nicht aufgeführt. (Erschreckend finde ich, dass Priester in §139 die größte Sonderrolle kriegen.)
    Etwas genereller: Es besteht wahrscheinlich auch für Investigativreporter die Gefahr, sich über das Gesetz zu stellen, um vermeintlich höheren Zielen zu dienen.

  2. Das ist wirklich eines der ganz schwierigen Themen. Ich bin kein Jurist und wer immer in diese Situation kommt, dem kann ich nur raten, sehr schnell einen solchen anzurufen.

    Ich habe das ungefähr so gelernt bzw. mir angelesen:

    Ja, es gibt eine Anzeigepflicht von Straftaten, aber nicht für jede x-beliebige, sondern für besonders schwere Straftaten (Die Liste hier: https://www.lawblog.de/archives/2016/07/25/nichtanzeige-geplanter-straftaten/).

    Das gilt aber „nur“, wenn die Straftat noch nicht begangen ist oder man davon ausgehen muss, dass die Behörden davon noch nichts wissen. Ist die Tat objektiv nicht mehr abwendbar, gibt es keine Anzeigepflicht. Schon damit erledigen sich 99% aller Fälle, weil unsereins ja i.d.R. erst ins Spiel kommt, wenn etwas geschehen ist. Zudem muss man „glaubhafte“ Kenntnis von einem Tatvorhaben oder der Ausführung der Tat erlangen, bloße Gerüchte führen nicht zu einer Anzeigepflicht.

    Man muss auch nicht ein großes Bündel Details mitliefern, also zB die Identität des Täters. Es genügt eine gewisse Konkretisierung. Das ist wichtig im Hinblick auf Informantenschutz, Schutz der Redaktionsräume vor Durchsuchung und Zeugnisverweigerungsrecht – man wird im Einzelfall in einem konkreten Verfahren prüfen müssen, ob ein Reporter mehr hätte mitteilen müssen. Aber vor allem der Quellenschutz hängt hier schon sehr sehr hoch.

    Hat man, um ein Beispiel zu geben, monatelang in einem extremistischen Bereich recherchiert und erfährt deswegen (glaubhaft) von einem bevorstehenden Anschlag, so müsste man das anzeigen. Von wem man den Hinweis erhalten hat, müsste man in der Anzeige nicht mitliefern.

    Natürlich gibt es Grenzbereiche. Eine anhaltende Entführung mit Lebensgefahr oder Kindesmissbrauch zum Beispiel. Würde man im Zuge einer Recherche solches Material erhalten und könnte sich nicht sicher sein, dass das alt ist, schätze ich, die meisten würden das nach intensiver Rücksprache mit der Redaktion und den Juristen übergeben…

    Es ist übrigens richtig, dass Seelsorgern hier deutlich erweiterte Ausnahmerechte zugestanden sind. Kann man im 21. Jahrhundert und mit Blick auf jüngere Skandale finden, wie man will…

  3. Dankeschön. Das war ja eine rasend schnelle Antwort, und das am eigentlich freien Tag.
    Dann kann ich auch gleich noch anbringen, dass ich schon einige von den hier empfohlenen Podcasts mir angehört habe, auf die ich sonst nie von alleine gekommen wäre. Und bisher noch nie bereut :-) Danke auch dafür.

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