Ostdeutschland ist mal wieder interessant: Querdenken-Demo in Leipzig, hohe Infektionszahlen in sächsischen Landkreisen und das politische Drama im Magdeburger Landtag – auch, aber nicht nur wegen des Rundfunkbeitrags.
Ostdeutschland ist also deswegen interessant, weil’s knallt und kracht. Mal wieder. Und natürlich auch, weil Ostdeutschland-Punchlines nie alt werden. Egal ob auf Twitter, dem „Spiegel“-Cover oder im „ZDF Magazin Royale“.
Ach, und da ist ja noch was: 30 Jahre Wiedervereinigung. Der Podcast „Keine Jungpioniere“ von Lucas Görlach schaut mit der Perspektive Ostdeutscher und Nachwendegeborener auf die DDR und das wiedervereinigte Deutschland. Und deswegen ist dieser Podcast ein geeigneter Startpunkt, um zum Jubiläum tiefer einzusteigen: in die gesellschaftlichen Fragen und Aushandlungsprozesse. Und davon gibt es viele.
Die Kolumne
Podcasts haben es verdient, so ernsthaft wie andere Medien besprochen, gelobt und kritisiert zu werden. Alle zwei Wochen machen das Marcus Engert und Sandro Schroeder hier abwechselnd: in der Podcast-Kritik.
Sandro Schroeder ist durch Podcasts überhaupt erst schleichend zum Fan des Mediums Audio geworden. Er berichtet seit 2016 regelmäßig über Podcasts und schreibt den Podcast-Newsletter Hören/Sagen. Nach seinem Journalistik-Studium arbeitete er als freier Journalist in Leipzig, unter anderem für das Onlineradio detektor.fm. Seit 2018 ist er bei Deutschlandradio in der Abteilung Multimedia insbesondere für Podcasts und Audio-Drittplattformen zuständig.
Ich – als ostdeutscher Nachwendegeborener, Jahrgang 1992 – finde es nicht schlimm, dass das Jubiläum der Wiedervereinigung im Pandemie-Jahr ein wenig untergegangen ist. Im Gegenteil. Ich halte diese oberflächliche Feiertags-Berichterstattung sowieso für verzichtbar. Mit all ihren Ostalgie-Bilderstrecken und Fußgängerzonen-Umfragen.
Dieser rituelle Stichtagsjournalismus kann nicht den historischen Ereignissen gerecht werden. Auch nicht den heutigen Lebensrealitäten. Weil er den komplizierten, langfristigen Debatten die Luft nimmt, sie regelrecht einschnürt auf vier, fünf Feigenblatt-Wochen rund um den 3. Oktober und den 9. November. Wer braucht das?
In der Gegenwart verankert – ohne geschichtsvergessen zu sein
Der Podcast „Keine Jungpioniere“ ist im Gegensatz dazu ein wohltuendes Gesprächs- und Diskussionsangebot. Weil er sich nicht mit düsteren Schlagzeilen über Ostdeutschland beschäftigt, sondern mit dem Selbstverständnis der Menschen dort. Und wie jeder gute Gesprächspodcast nimmt er sich die Zeit für freies Erzählen, Zuhören und Verstehen – und damit fürs Nachdenken.
Dabei ist er kein Geschichtspodcast, er stellt keine Erinnerungen an die Vergangenheit in den Vordergrund, wie es beispielsweise die Podcasts „Wie war das im Osten“ oder „Staatsbürgerkunde“ tun. Es werden stattdessen Gespräche geführt, die in der Gegenwart verankert sind, ohne geschichtsvergessen zu sein. Immer nah an persönlichen Eindrücken, ohne den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Aber von Menschen, die hörbar viel darüber nachgedacht haben, wie die DDR-Vergangenheit direkt und indirekt die Gegenwart prägt.
Zunächst die nüchternen Bestandteile: eine entspannte, intime Atmosphäre, die den Raum für ehrliche Ausführlichkeit schafft. Dazu ein Journalist als gut vorbereiteter, neugieriger Gastgeber. Der aber keine selbstdarstellende Rampensau ist, sondern angenehm zurückgenommen agiert. Der echte Lernfragen stellt und auch Eigenes preisgibt. Eben nicht nur als Moderator abfragt, sondern aus Interesse.
Die goldene Mitte zwischen Stakkato-Interview und Laberformat
Insgesamt ist es eine liebevolle Produktion, nichts Spektakuläres, aber mit professionellem Klang, mit ein wenig Mut zum Schnitt. Dadurch entstehen Episoden von meist rund 40 Minuten. Kurzweilig, weil arm an Gesprächsschleifen.
So feiert „Keine Jungpioniere“ die Stärken des Mediums Podcast und des Gesprächsformats. Ohne zum Formatradio-Interview zu verkommen oder sich kaugummiartig zu ziehen wie so manches Laberformat.
Aber: Kein Gesprächspodcast erklärt in jeder Episode alles nochmal neu – das ist ja der Witz am Podcast. Bei „Keine Jungpioniere“ ist es immerhin aufgrund der Kürze der Folgen realistisch möglich, das komplette Archiv des Podcasts nachträglich durchzuhören. Doch wer in einen bereits länger erscheinenden Gesprächs- oder Laberpodcast einsteigt, der startet (in den allermeisten Fällen) mitten im laufenden Film. Insiderwitze, Dynamiken und Eindrücke müssen erschlossen und dann zu einem subjektiven Höreindruck zusammengepuzzelt und dann bewertet werden. Das ist ein Teil des Magie dieser Gesprächsformate, die manche zu Fans und andere zu Aktiv-Vermeidern des jeweiligen Podcasts werden lässt.
Gespräche gegen DDR-Klischees
Bei „Keine Jungpioniere“ habe ich mich spontan so wohl und verstanden gefühlt wie selten bei einem Podcast. Es platzte bei mir jener Knoten in der Magengegend, der sich immer dann bildet, wenn ein Ossi-Witz überraschend viel innere Wut auslöst, weil er (nicht) traf. Oder wenn mal wieder das Neu in „die neuen Bundesländer“ überbetont wird. Oder wenn Gespräche so anfangen: „Sag mal, du als Ostdeutscher, …“
Ich führe diese Gespräche zwar gerne, weil ich sie wichtig finde. Weil ich es manchmal sogar schaffe, immer noch existierende Klischees wenigstens um ein paar echte Eindrücke zu ergänzen. Andererseits hasse ich es, den ostdeutschen Botschafter zu spielen, weil ich der gar nicht sein kann und will. Ich würde die Episoden von „Keine Jungpioniere“ gerne vorschicken, bevor ich diese Gespräche führe.
Dabei ist er explizit nicht dafür gemacht, wie Lucas Görlacher in einem der Gespräche erzählt:
„Mein Grundgedanke beim Podcast war weniger, dass es im Westen noch viel Bedarf gibt an Wissen, sondern mein Gedanke war diese Aussage: ‚Du hast ja [die DDR] gar nicht mehr miterlebt, du hast ja gar keinen Bezug mehr zum Osten.‘ Also auf der einen Seite bist du der Ossi, auf der anderen Seite bist du nicht Ossi genug.“
„Keine Jungpioniere“ ist also in erster Linie ein Podcast von Ostdeutschen für Ostdeutsche, für eine Generation der Nachwendegeborenen, die sich zunehmend mit der eigenen Identität beschäftigt, sie mit der Identität der Eltern abgleicht und deswegen Fragen an sich selbst stellt. Ich würde mir wünschen, dass dieser Podcast trotzdem nicht nur Ostdeutsche erreicht. Weil er hörbar macht, was meiner Erfahrung nach in nicht wenigen Köpfen vorgeht.
Generationenfragen, aber nicht zum Selbstzweck
Ein guter Einstiegspunkt und zeitgleich für mich das Highlight von „Keine Jungpioniere” ist die Episode aus dem November, mit der Journalistin Friederike Schicht. Die grundsätzliche Herangehensweise des Podcasts, das biografische Interview des Gasts mit gemeinsamer „Kennst du das auch“-Reflektion zu vermischen, geht hier besonders auf.
Schicht ist selber Podcasterin zu Ost-West-Klischees, im MDR-WDR-Podcast „Kohl Kids“, also bestens im Thema, und wahrscheinlich deswegen die ideale Gesprächspartnerin für Lucas Görlach. Schicht, geboren in Sachsen-Anhalt, war sich ihres Ostdeutschseins erst gar nicht bewusst. Bis sie – während des Studiums – in Köln von anderen plötzlich „zur Ostdeutschen gemacht“ wurde.
Es tauchen Leitmotive auf, die sich durch mehrere Episoden und Biografien ziehen: die DDR-Sozialisierung der Eltern, die Kinder auch über das Ende der DDR hinaus prägt; der oder die erste „Gesamtdeutsche“ in der Familie zu sein, mit mehr Möglichkeiten als die Eltern je hatten; die Privilegien; die mal gut oder böse gemeinten Ossi-Witze als Katalysator, bei denen meist das Ostdeutschsein bewusst wird, weil es von außen plötzlich zugeschrieben wird; der abstrakte Wunsch, irgendwie mehr Lebensrealität aus Ostdeutschland abgebildet zu sehen, ohne die wunden Punkte wie Rechtsextremismus aussparen zu wollen; und der Bedarf einer Generation, über all das zu reden.
Im Gespräch in der Episode mit Linh Tran zeigt sich aber beispielsweise, dass die Selbstidentifizierung als „ostdeutsch“ auch gar nicht nötig ist, um interessante Diskussionen im Podcast auszulösen: In dieser Episode geht es auch um Linh Trans Eltern, die als Vertragsarbeiter aus Vietnam in die DDR kamen und deren viet-deutschen Kinder in Ostdeutschland aufgewachsen sind. Eigentlich selbstverständlich, aber leider eben doch betonenswert: Das zeigt, dass der wütende, weiße, ostdeutsche Mann nicht einfach gleichzusetzen ist mit „Ostdeutschland“ als Ganzem. Dass es für Medien auch viele andere Perspektiven aus und über Ostdeutschland abzubilden gilt, die teilweise sogar deutlich mehr reale Diskriminierung erfahren, ohne die selbe mediale Repräsentation zu bekommen.
Ich kann verstehen, wenn das jetzt bei manchen nur Schulterzucken auslöst. Ostdeutschland löst oft Schulterzucken aus, wenn’s nicht gerade kracht und knallt. Bei mir haben all diese Gesprächsfetzen im Podcast heftiges Nicken und nahezu sofort das warme Gefühl des Verstandenwerdens ausgelöst.
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