Wenn bei RTL beste Voraussetzungen und auffälliger Ehrgeiz zusammenkommen
Als der Fernsehsender RTL vor sechs Wochen bekannt gab, dass sein neuer Internet-Auftritt „unverwechselbar“ sein würde, dachte ich noch, das sei nur eine leere Werbefloskel. Aber tatsächlich ist RTL.de einmalig.
Man ahnt das nicht sofort, wenn man auf der Startseite ist:
Der grüne Lokalpolitiker Boris Palmer fordert zwar gar kein Colaverbot, wie da steht, sondern hat nur die angebliche „Unverhältnismäßigkeit“ in der Debatte um Luftschadstoffe kritisiert: „Bewegungsmangel, Fettleibigkeit, Zucker, Tabak und Alkohol“ seien viel gefährlicher; deshalb würde ein (hypothetisches) „Verbot von Coca-Cola vieltausendfach mehr Leben retten als Fahrverbote für Dieselfahrzeuge“. Aber solche Verfälschungen zur Maximierung von Klicks und Aufmerksamkeit machen RTL.de natürlich nicht unverwechselbar.
Viel spannender wird es weiter unten und weiter hinten auf RTL.de, und eine meiner Lieblingsseiten ist „News Regional“. Auf der Ressortseite erscheinen alle paar Minuten neue Themen, die irgendwo lokal interessant sein könnten, jedes einzelne liebevoll auf der Übersichtsseite präsentiert:
Die graue Symboltapete ist der Platzhalter, wenn man bei RTL.de gerade kein Foto zur Hand hatte, um ein Thema zu bebildern. Aber natürlich gibt es auch Meldungen, die bildstark in Szene gesetzt werden. Auf großen Monitoren entstehen dank responsiver Darstellung so beeindruckende Cinemascope-Effekte:
Sicherheitshalber weist RTL.de unter dem Aufmacher aber häufiger nochmal auf denselben Artikel hin. Das hilft gelegentlich, um etwas mehr von dem zu sehen, was man auf dem Bild sehen könnte, wenn man es sehen könnte.
Diese Überschrift übrigens ist in ihrer rätselhaften Genügsamkeit die schönste, die ich in den vergangenen Tagen auf RTL.de gesehen habe: „Minister aber zufrieden“. Wenn man sie, warum auch immer, anklickt, stellt sich heraus, dass davor eigentlich noch der Halbsatz steht: „Weniger Bewerber für die Polizei:“
Die spannendsten Überschr
Natürlich könnte man sagen, dass hier eine längere Überschrift im Teaser dem Verständnis dienlich gewesen wäre. Andererseits hätte dann dort bestimmt auch nur so etwas gestanden wie: „Weniger Bewerber für die P…“, und damit wäre auch niemandem geholfen.
Die aus unerfindlichen Gründen mitten im Wort abreißende Überschrift ist eines der unverwechselbaren Elemente auf RTL.de. In Verbindung mit der Wir-haben-leider-kein-Foto-für-dich-Tapete ergibt das Flächen, die einem Kunstwerk näher sind als einem journalistischen Angebot. (Okay, sie sind allem näher als einem journalistischen Angebot.)
An anderen Stellen lässt RTL.de in den Teasern immer mal wieder das letzte Wort weg, was zu interessanten Cliffhangern führt:
Es ist übrigens nicht so, dass das nur auf dem Desktop so ist. Auch auf dem Smartphone überrascht RTL.de mit Überschriften wie „Mega-Kälte: Haare“, „Diese Senioren“ und „Bratwurstmuse in früherem“:
Das muss der Sender gemeint haben, als er in der Pressemitteilung zum Start schrieb: „RTL.de passt sich automatisch allen Endgeräten an.“ Der Satz ging allerding weiter: „… und ist konsequent für die mobile Nutzung optimiert“, was man leicht anhand der Seite mit dem RTL-Programm widerlegen kann:
Mit einem Klick auf eine einzelne Sendung landet man, je nachdem, auf einer Sendungsseite oder einer leeren Seite.
Neben den Quiz-Elementen im Nachrichtenbereich (Was will uns diese Überschrift sagen?) bieten die Macher den RTL.de-Nutzern so auch noch eine kleine Lotterie.
Weiß auf Weiß
Bei der Kennzeichnung von Anzeigen haben sich die Künstler von RTL.de offenbar von dem berühmten Werk „1965/1-∞“ von Roman Opalka inspirieren lassen. Opalka schrieb den größten Teil seines Lebens mit weißer Farbe fortlaufende Zahlen auf Leinwände, deren Untergrund immer heller wurde. Irgendwann waren die Zahlen, weiß auf weiß, nicht mehr sichtbar, aber Opalka malte weiter.
Bei RTL.de schreiben sie keine Zahlen, sondern das Wort „Anzeige“ klein und weiß in die Fotos von Anzeigen-Teasern. Und es ist immer dieselbe Stelle und dasselbe Weiß und es ist ihnen egal, ob man diese rechtlich vorgeschriebene Kennzeichnung von Werbeflächen mal nicht so gut lesen kann oder wirklich sehr schlecht lesen kann oder gar nicht lesen kann, weil sie mit weißer Farbe auf weißem Hintergrund steht: Sie wissen, dass das da steht, und das muss reichen.
Wetter De-EEEH!
Weil die Videos auf RTL.de automatisch beim Besuch einer Seite starten (was sich offenbar auch nicht abstellen lässt), habe ich in den vergangenen Tagen auf RTL.de auch viele, viele Werbespots gesehen.
Oder genauer: zwei. Einen für den RTL-Nachrichtensender n-tv. Und einen für die RTL-Wetterseite wetter.de.
Viele Dutzend Male habe ich diese beiden Spots gesehen und nie einen einzigen anderen. Was besonders dramatisch ist, weil der Spot für wetter.de so eine unangenehme Verzweiflung ausstrahlt. Während das Wort WETTER.DE in immer neuen Formen eingeblendet wird, sagt der Sprecher:
Okay, wir alle checken das Wetter. Natürlich bei Wetter.de. Bei Wetter Punkt De. Bei De-EEEH! Nirgendwo anders! We Eh Doppel-T Eh Er De Eh. Wenn Wetter, dann Wetter.de. Vorhersagen für Deutschland und die ganze Welt. Wetter.de. Deine Wetterseite im Netz.
Aus dem genervten De-EEEH kann man den ganzen Frust der RTL-Leute darüber hören, dass sie zwar der größte private Fernsehanbieter sind und ihnen die naheliegendste Internet-Adresse für eine Wetterseite in Deutschland gehört – aber der Konkurrent wetter.com von ProSiebenSat.1 um ein vielfaches erfolgreicher ist.
Aber die Dauerwerbung auf RTL.de wird das jetzt bestimmt ändern. De-EEEH! Nirgendwo anders!
Kind da!
Sollen wir noch kurz über die Inhalte von RTL.de reden? Aktuell macht die Seite mit einer Exklusiv-Meldung auf: Sophia Vegas, die als Sophia Wollersheim vor drei Jahren im RTL-Dschungelcamp war, hat ein Kind bekommen. (Andere einschlägige Seiten müssen sich zu diesem Zeitpunkt noch mit der Meldung begnügen, dass die „Furchtblase“ geplatzt sei.)
Gestern machte RTL.de mit einer zweifelhaften Exklusiv-Geschichte auf und ließ ein anonymes „Clanmitglied“ dem Rapper Bushido drohen: „Bushido muss auf jeden Fall sehr viel Angst haben. Selbst der Polizeischutz, den er hat, kann ihm nicht helfen. … Er wird auf jeden Fall gequält.“
(Bitte beachten Sie auch das lustige Logo mit dem Blitz und der Faust.)
Dazwischen gibt es Clips aus RTL-Seifenopern, Castingsendungen und Gameshows sowie eine sehr unoriginelle und uninspiriert aufgemachte Mischung von Meldungen, die man auch überall sonst findet. In den beiden Politik-Ressorts stehen alte, längst überholte Meldungen herum; in der Rubrik „Ratgeber“ kann man sich unter anderem anhand von Dschungelinsassen über Beziehungswarmhalte-Taktiken oder das Aufspritzen des G-Punktes informieren.
Für jemanden, der nicht gerade irgendetwas aus der RTL-Welt erfahren will, gibt es keinen guten Grund, auf RTL.de zu gehen.
700 Journalisten
Das wäre jetzt keine besonders überraschende Erkenntnis, wenn Sender und Fachpresse in den vergangenen Wochen nicht den gegenteiligen Eindruck erzielt hätten.
Jan Wachtel, der gerade vom „Chief Digital Content Officer“ der Mediengruppe RTL Deutschland zum RTL-Geschäftsführer für digitale Medien & journalistische Inhalte aufgestiegen ist, ließ sich im Dezember mit den Worten zitieren:
„Unser General Interest Angebot RTL.de ist neben unserem Streaming-Dienst TV NOW ein neues, zentrales Element im Digital-Portfolio der Mediengruppe RTL. Unser Ziel ist es, mit RTL.de die Menschen in Deutschland immer erstklassig und täglich besser zu unterhalten, zu informieren und zu bewegen. Wir haben die besten Voraussetzungen dafür, denn mit über 700 Journalisten verfügt die Mediengruppe RTL dabei über eine der größten Redaktionen in Deutschland.“
700 Journalisten! Diese erstaunliche Zahl wirkt ganz besonders unwahrscheinlich im Angesicht einer Internetseite, die vermutlich von einem Dutzend Studenten mit einem handelsüblichen Homepage-Baukasten kaum schlechter zusammengeklöppelt worden wäre.
„Spiegel Online“ hatte Mitte Dezember über den bevorstehenden Neustart von RTL.de als Nachrichtenportal berichtet und gemeldet, RTL habe „einiges an Geld investiert und eine eigene Redaktion aufgebaut“. Von 80 Redakteuren sei die Rede, rund Hundert sollten es werden.
Es las sich, als könne sich „Bild“ schon mal warm anziehen. Dazu passte die Meldung, dass RTL angeblich mit der früheren „Bild“-Chefredakteurin Tanit Koch verhandele: „Womöglich geht es … um den derzeit auffallend ehrgeizig betriebenen Ausbau des Digitalgeschäfts, den sich der Sender einiges kosten lässt.“
Da kann man RTL.de für die Zukunft nur viel
Ich musste so lachen!
Irgendwie ist RTL schon seine eigene Parodie.
Mal ehrlich: Geht wirklich jemand auf die RTL-Seite um sich dort über aktuelle Nachrichten zu informieren? Kann ich mir kaum vorstellen.
@ 2: Es geht bei den RTL-Nachrichten (das eher eine Phantom-Bezeichnung ist) nicht um Informationen, sondern um Unterhaltung, insofern ist RTL da konsequent (Trump-Schreck, Verbotsgrüne, Fress-Wettbewerbe etc. bieten hervorragende Klickshows), auch wenn die Seite noch nicht so super funktioniert.
Der Beitrag erinnert mich an die früheren Blog-Beiträge von Stefan Niggemeier auf seinem alten Blog. Mal nicht die ganz großen Themen, sondern eine Beobachtung am Rand, die wunderbar beschrieben wird. Hat richtig Laune gemacht, dass hier zu lesen! Und der letzte Satz ist natürlich großartig unvollendet. Habe gelacht. Danke!
Geiles Ende! Habe mir vor Lachen fast in die
Peinlich, dass ein Einzelkämpfer wie Herr Niggemeier RTL den Spiegel vorhalten muss. Denn RTL ist nicht nur Deutschlands größter Privatsender, sondern auch eine Tochterfirma des Weltkonzerns Bertelsmann.
Das ist nu‘ aber ein bisschen blöd…sitze grade in einem schlechten Hotel-W-Lan während gleichzeitig jede Menge Chinesen sich gegenseitig -natürlich Online- zum neuen Jahr gratulieren…und bin mir nicht sicher, ob der Artikel (vor allem die Screenshots) jetzt eigentlich vollständig geladen wurde…???
Realsatire in ihrer reinsten Form. Irrsinnig witzig geschrieben – vielen Dank!
Ist das „zusammengeköppelt“ eine zufällige Formulierung oder ist Peter Klöppel hier beteiligt und sozusagen „mitgeteilt“?
@Jub 68: Nee, den hab ich in keiner Weise mitgemeint.
Das Konzept von RTL Regional ist ja nicht gerade neu, auch Burda hatte sich daran probiert, außerhalb von FO aber schlimm Schiffbruch erlitten.
Was ich mich immer frage: Zahlen die eigentlich ehrlich für die dpa-Meldungen und Fotos, oder werden die irgendwo C&P „zitiert“?
Und die Bildformate sind mit den automatischen Ausschnitten/Skalierungen/Dummiebild nur noch peinlich.
Und wenn ich schon 1000% auf SEO schiele, kann ich vielleicht das CMS aus der URL nehmen? https://www.rtl.de/cms/daimler-…los-4288936.html
Das Lustigste: Davor hatten BILD und Springer Angst!
Qualitätsmedien eben, da braucht es keine Endkontrolle…
Schließe mich Nr. 4 (Jens) an. Genau das ist es, was
Sehr amüsant! Allerdings wäre mittlerweile wohl ein Update dieses Artikels fällig, da viele der technischen Fehler weitgehend beseitigt wurden. Jetzt kann man sich auch besser auf die Inhalte ;-) konzentrieren.
Och, so viele technische Fehler scheinen da nicht beseitigt worden zu sein. Aktuell auf der Startseite:
Aber tatsächlich scheinen die Anzeigen jetzt lesbar als solche gekennzeichnet zu sein.