Wie „Welt“ und „WamS“ die AfD groß machten
Der Publizist und Soziologe Andreas Kemper begleitet die AfD und das, was über sie berichtet wird, seit längerer Zeit kritisch. Anlässlich der Kontroverse um den Journalisten Günther Lachmann, der von der „Welt“ entlassen wurde, weil er sich der AfD als Berater angedient hatte, haben wir Kemper gebeten, über das Verhältnis von AfD und „Welt“ zu schreiben.
Dabei geht es auch um Konflikte von Unternehmerverbänden, bei denen sich die Springer-Blätter „Bild“ und „Welt“ unterschiedlich positioniert hatten. Diese Konflikte waren maßgeblich für die Entstehung der AfD. Und auch bei den Kontroversen innerhalb der AfD, etwa zwischen Hans-Olaf Henkel und Björn Höcke, spielt der Springer-Konzern eine wichtige Rolle.
Vorweg: Der Streit der Unternehmensverbände
Im Jahr 2010 brach zwischen den Unternehmerverbänden in Deutschland ein Streit aus, der in der Gründung einer Partei, der AfD, münden sollte. Es ging um Auswege aus der Wirtschaftskrise. Als verschiedene Lösungsvorschläge Gestalt annahmen, protestierte die Minderheitenfraktion der Verbände von Familienunternehmen gegen den „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM), der nicht nur von den Banken, sondern auch vom größten Unternehmerverband in Deutschland, dem Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), eingefordert und entsprechend von den Regierungsparteien umgesetzt wurde.
Ausgerechnet die Adenauer-Enkel Patrick Adenauer und Stefan Werhahn gingen als Vertreter der Familienunternehmen auf Distanz zur CDU. In Absprache mit seinem Cousin Patrick Adenauer, dem früheren Chef des Unternehmensverbandes „Die Familienunternehmer“, verließ Wehrhahn die CDU, um den neuen Bundesverband „Die Freien Wähler“ als Alternative zu etablieren. Ein Verbündeter Werhahns war seinerzeit Hans-Olaf Henkel, der schon 2009 bei der Gründungsversammlung der Bundespartei der „Freien Wähler“ diesen seine Vorstellungen ins Parteiprogramm diktierte.
Damit war der Boden bereitet für die Etablierung eines Vereins von konservativen und neoliberalen Ex-CDUlern (Bernd Lucke, Konrad Adam, Alexander Gauland) und einigen Professoren aus Thinktanks der Familienunternehmens-Verbände, die zunächst planten, mit den „Freien Wählern“ in den Bundestag einzuziehen. Startschuss für die Etablierung dieser Gruppe war Henkels Beitrag „EZB: Aus, aus, das Spiel ist aus“. Als sich abzeichnete, dass dies nicht funktioniert, wurde im Januar 2013 eine eigene Partei gegründet: die AfD.
Hans-Olaf Henkel und „Bild“
Hans-Olaf Henkel war Ende der 1990er Jahre Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI). Als der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl die große Steuerreform zugunsten der Großverdiener durchsetzen wollte, hatte er in Henkel einen Verbündeten. Doch die Mehrheit der SPD-regierten Länder blockierten im Bundesrat dieses Geschenk an die Reichen.
Aus dieser Zeit rührt Henkels Idee, dass die Parteiendemokratie in Deutschland bekämpft werden müsse, weil sie dem „Mut zur Ungleichheit“ im Wege stünde. Henkel forderte eine „Demokratie-Reform“ und wurde selbst für den BDI zu radikal, der ihn als Präsident absetzte.
In der BDI-Zeit begann auch Henkels Zusammenarbeit mit dem Journalisten Konrad Adam, der damals einen „notwendigen Rückbau des Sozialsystems“ pries. Henkel und Adam schrieben Anfang der 2000er beide für Springer: Henkel verfasste rund 100 Kolumnen für „Bild“, Adam schrieb als „Welt“-Chefkorrespondent seine Kolumne gegen „Die Macht der Schwachen“.
Henkels und Adams Kritik am Sozialstaat und der Parteiendemokratie wurde schärfer. 2006 stellte Adam zunächst in der „Welt“ die Frage, warum er als „Leistungsträger“ für „Unproduktive“ wie Arbeitslose, Studenten und Rentner bezahlen müsse und kritisierte in seiner Kolumne „Wer soll wählen?“ das allgemeine Wahlrecht, das verantwortlich dafür sei, dass die „Passiven“ die „Aktiven“ lähmten. Diese Artikel fanden sich nicht etwa in einer rechten Provinzzeitung, sondern, wie gesagt: in der „Welt“.
Henkels Positionen in „Bild“ waren nicht weniger radikal. Als er aber begann, Angela Merkel zu kritisieren, wurden seine Bücher von „Bild“ nicht mehr protegiert. Henkels neue Idee, die Spaltung der EU, war weder im Interesse der Großindustrie, noch in Merkels Interesse.
In den Thinktanks der Familienunternehmen wurden die Vorschläge wohlwollender aufgegriffen, wie auch in Thinktanks des Europa-Parlaments, zum Beispiel der Stiftung der ECR-Fraktion, jener Fraktion, in der Henkel später mit weiteren AfD-Mitgliedern aufgenommen wurde.
Spätestens dieser Auftritt in der Stiftung der ECR-Fraktion am 7. Dezember 2011, als Henkel seine Ideen zum Nord- und Süd-Euro vortrug, war der Beginn einer wundervollen Feindschaft. „Bild“ titelte am 9. Dezember 2011 über Henkel: „Ranschmeißer, Trittbrettfahrer, Wendehals. Keiner wechselt so schnell seine Überzeugungen wie er“. „Bild“ bekämpfte Henkels Ideen, und in der Folge auch die AfD. Die „Welt“ hingegen war am Aufbau der AfD maßgeblich beteiligt. Beide Zeitungen sind die Schlachtschiffe der Springer-Presse.
Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Familienunternehmen und „Welt-Währungskonferenz“
Einmal jährlich veranstaltet die „Welt“-Gruppe zusammen mit der Stiftung Familienunternehmen die sogenannte „Welt-Währungskonferenz“. Eine Nähe zu wirtschaftspolitischen Ideen zeigt sich an der Auswahl der Gäste: Mehrfach wurde zum Beispiel Thilo Sarrazin eingeladen, SPD-Mitglied mit AfD-Ideologie. Auch Stiftungschef Brun-Hagen Hernneckes zeigte laut „Welt“ bei der Konferenz im April 2013 Sympathien für die AfD.
Die „Welt am Sonntag“ druckte eine Woche vor dem konstituierenden Bundesparteitag der AfD Mitte April 2013 auf der Titelseite großformatig einen D-Mark-Schein ab. Die ersten drei Seiten kann man durchaus als AfD-nah interpretieren. Genau ein Jahr später, im April 2014, wurde Bernd Lucke, damaliger AfD-Vorsitzender, zur „Welt-Währungskonferenz“ eingeladen, wo er auf dem Podium saß – die WELT berichtete.
Die Kapitalfraktion der Familienunternehmensverbände hatte also bei der „Welt“ ein Stein im Brett. Die „Welt“-Gruppe war entsprechend den AfD-Gründern Hans-Olaf Henkel und Bernd Lucke wohlgesonnener als „Bild“. Hinzu kommt die Verbindung von AfD-Gründer Konrad Adam zur „Welt“.
Konrad Adam und Günther Lachmann
Als sich im September 2012 vier ehemalige CDUler trafen, um einer neuen konservativeren und neoliberaleren Partei den Sprung ins Bundesparlament zu ermöglichen, war es die „Welt“, die in einem umfassenden Artikel diesen kleinen Verein über Nacht bekannt machte. Autor des Artikels über die „Wahlalternative 2013“, aus der die AfD später hervorging, war Günther Lachmann, jener Redakteur, der unlängst von der „Welt“ entlassen wurde, weil er sich der AfD als Berater angedient hatte.
Lachmann, der auch als Herausgeber des rechtspopulistischen Blogs „Geolitico“ fungierte, wurde damals zum AfD-Reporter der „Welt“. Er schrieb zahlreiche Artikel über die Partei und war seinen Kollegen oft voraus, da er über interne Quellen zu verfügen schien. Die „Welt“ brachte die meisten Artikel über die AfD – und die wohlwollendsten, sieht man von Rechtspostillen wie der „Jungen Freiheit“ einmal ab. Lachmann konnte sich auf seine Verbindungen in den AfD-Bundesvorstand verlassen.
Allerdings fanden sich bereits 2013 Verletzungen seiner journalistischen Sorgfaltspflicht. So berichtete Lachmann über einen Angriff gegen einen Göttinger AfDler, dem das Haus mit Benzin übergossen worden sein sollte. Dieses Gerücht, das sich als falsch herausstellte, wurde von Lachmann als Tatsache wiedergegeben, was die Stimmung in der AfD aufheizte.
Lachmanns Artikel waren durchaus auch AfD-kritisch. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die AfD kein monolithischer Block ist. Eine Kritik an der AfD-Führung kann Teilen der AfD nutzen. Als sich der AfD-Vorstand unter Bernd Lucke durch meine Recherchen zum AfD-Rechtsaußen Björn Höcke beunruhigt zeigte, ergriff Günther Lachmann Partei gegen Lucke.
Meine Recherchen deuteten darauf hin, dass Björn Höcke unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ für NPD-nahe Magazine des vorbestraften Neonazis Thorsten Heise schrieb. Der AfD-Vorstand erwartete von Björn Höcke eine eidesstattliche Erklärung, dass er nicht für die NPD geschrieben habe. Zudem sollte er mich anzeigen, um die Sache aus der Welt zu schaffen.
Günther Lachmann bezeichnete den Vorstoß des AfD-Bundesvorstandes als „perfide NPD-Attacke“. Meine Recherchen wurden abgewertet, er sprach von „ungeprüften“ Ergebnissen eines „linken Blogs“. Von einem investigativen Journalisten hätte man erwarten können, dass er selber diese Angaben überprüft, statt in Parteiangelegenheiten rabiat Position zu beziehen.
Henkel und Lucke hätte eher auffallen können, wie Björn Höcke tickt. Henkel hatte 2008 seine Wirtschaftsvorstellungen in der „Jungen Freiheit“ dargestellt und betont, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gebe. Der damalige Lehrer Höcke widersprach Henkel in einem Leserbrief. Jenseits von Kapitalismus und Kommunismus gebe es einen dritten Weg.
Höcke propagierte – wie die Nazis – eine „organische Marktwirtschaft“, und dieser Leserbrief fand sich in einem der Artikel von „Landolf Ladig“, eben jenem Autoren, der Björn Höcke zu sein scheint, wofür eine Vielzahl von Indizien spricht. Höcke hatte also bereits 2008 Henkel widersprochen, dennoch finanzierte Henkel Höckes Wahlkampf in Thüringen mit einem großzügigen Kredit.
Statt Björn Höcke mussten bekanntlich Lucke und Henkel die Partei verlassen – das war das Ergebnis des Essener Parteitages im Sommer 2015. Auch Konrad Adam wurde damals entmachtet. Adam war Gründer und Sprecher der AfD. Er hatte zwar den Petry-Flügel unterstützt, sich also gegen Lucke und Henkel positioniert, gleichwohl ist er in Hessen auch gegen den ganz rechten Flügel vorgegangen. Beim Parteitag wurde er abgesägt, in mehreren Kandidaturen scheiterte er.
Direkt nach seiner Abwahl stieg Adam in den Blog „Geolitico“ von Günther Lachmann ein, wo er regelmäßig schreibt. Zu diesem Zeitpunkt müssen die Verhandlungen zwischen Lachmann und dem neuen Bundesvorstand stattgefunden haben. Kann es sein, dass Adam der Informant aus dem Bundesvorstand der AfD gewesen ist? Und dass Lachmann mit ihm seine exklusive Quelle verloren ging?
Es bleiben Fragezeichen
Unklar bleibt, warum der NRW-Landeschef der AfD Marcus Pretzell die Kooperation mit Günther Lachmann bekannt gemacht hat. Pretzells Version ist: Lachmann wollte die AfD inoffiziell, also neben seinem Job als „Welt“-Redakteur, beraten, für 4.000 Euro im Monat. Weil AfD-Bundessprecherin Frauke Petry das ablehnte, habe Lachmann begonnen, sie in der „Welt“ abzuwerten. Pretzell wollte das nicht länger hinnehmen, daher habe er die Sache öffentlich gemacht.
Interessanterweise wurde dieser Vorgang vom AfD-Bundesvorstandsmitglied Alexander Gauland kritisiert. Auch daraus lässt sich schließen: Die aktuelle Konfliktlinie in der AfD verläuft zwischen Gauland und Höcke als neurechte Strömung gegen Petry und Pretzell als vergleichsweise „gemäßigte“ Strömung. Hatte Lachmann vielleicht nicht einfach nur gegen Petry geschrieben, sondern auch Kontakt mit den innerparteilichen Kontrahenten von Petry und Pretzell aufgenommen?
„Welt“-Chefredakteur Stefan Aust hat nach der Entlassung Lachmanns angekündigt, dessen Berichte über die AfD nachträglich und kritisch zu überprüfen. Diese offenen Fragen zu klären, würde auch dazu gehören. Und vielleicht könnte die „Welt“ den Faden wieder aufnehmen, den Lachmann in den Dreck warf, und der von Höcke zur NPD führt.
Fazit
Die AfD wurde durch die „Welt“ und insbesondere durch Lachmann protegiert. Dies begann bereits, als sie sich noch in der Embryo-Form der Wahlalternative 2013 eine unbekannte Facebook-Seite war. Der Selbststilisierung der AfD als Opfer linker Gewalt wurde von Lachmann stärker bedient als von anderen Zeitungen. Lucke wurde ein Forum bei der „Welt“-Währungskonferenz geboten, ein Jahr später war Lachmann daran beteiligt, kompromittierende Rechercheergebnisse gegen Höcke als „ungeprüfte“ „perfide NPD-Attacke“ abzuwerten und so den Höcke-Flügel gegen den Lucke-Flügel zu stärken. Lachmann und der „Welt“ kommt die Rolle zu, die AfD bekannt gemacht und den ganz rechten gegen den rechten Flügel gestärkt zu haben.
Also Sätze die mit „Kann es sein, dass…“ beginnen, kennt man doch eher von Publikationen aus dem Kopp-Verlag und von Autoren wie Udo Ulfkotte. Kann es sein, dass wir alle Opfer einer großen Käseverschwörung sind? Man wird ja mal fragen dürfen.
„Groß“ machen die AfD vor allem die Unfähigkeit der Altparteien und deren radikale, gegen das eigenen Volk und gegen die Zukunft unseres Landes gerichtete Politik. Was WamS und WELT da berichten spielt kaum eine Rolle. Typisches klein-klein.
Ach ja, abgesehen davon ist das ein sehr erhellender und informativer Beitrag, das kann und soll Übermedien mMn leisten!
Täglich machen sich Linke und andere politisch korrekte Vorbilder über die angeblichen und/oder tatsächlichen Verschwörungstheorien von „Rechten“ lustig. Dieser Artikel ist keinen Deut besser. Krude Theorien und Verbindungen. Er weiteres Beispiel für die sehr engen Scheuklappen und das auf das äußerste beschränkte Weltbild Linker. Verschwörungstheorien ist hier noch fast zu milde ein Ausdruck.
Ach, ja, ein echter „Kemper“.
Vita des Autors nachlesen, dann ist alles geklärt.
hmm.
Also interessant finde ich das tatsächlich auch. Ob das jetzt, wie Peter Schwanen meint, an den Haaren herbeigezogen ist, kann ich schwer bewerten. Etwas konstruiert klingt es teilweise schon (z.B. Petry vs Höcke/Gauland).
Aber mal was anderes: Ich finde, wie Frank Reichelt auch, dass solche Artikel hier sehr gut aufgehoben sind!
Aber gefühlt sind bei Übermedien die meisten Journalisten eher links. Ohne dass ich darunter grundsätzlich etwas schlechtes sehe, aber gibt es Intentionen, hier auch konservative Journalisten gut recherchierte Artikel schreiben zu lassen? Das fände ich für den Titel der „Übermedien“ und auch im Sinne der angestrebten Neutralität sehr gut. Abgesehen davon, interessiert mich auch sehr, was diese Leute so an der Medienlandschaft kritisieren.
Ich weiß, das ist hier vielleicht der falsche Ort das zu diskutieren, aber ich finde hier keinen besseren…
Die Soziologe scheint noch immer nicht fähig zur werturteilsfreien Analyse. Oder zumindest dieser Soziologe. Da kann man auch einen Libertären um ein „Analyse“ der Linkspartei bitten. „Neoliberal“ , „Geschenke an Reiche“, etc. Gähn. Fragt doch mal etabliertere Wissenschaftler mit weniger Klassenkampf im Kopf.
Sehr interessanter Artikel, gut recherchiert und schlüssig verknüpft. Mehr davon!
ich möchte mich ICHBINICH anschließen
Schon die ersten Seiten dieses Artikels zeigen dass Ihr „Journalist“ mit dem kostbaren Gut der Wahrheit allzu sparsam umgeht. Hier sind nur drei Beispiele:
1. Henkel wurde nicht als BDI Präsident „abgesetzt“. Er war sechs Jahre Präsident des Verbandes und damit sogar länger im Amt als alle seine Nachfolger. Eine Wiederwahl war satzungsmäßig nicht möglich.
2. Henkel hat auch nicht mit Adam „zusammengearbeitet“, wie es der „Journalist“ versucht zu insinuieren. Henkel hat für viele Medien geschrieben, dass dabei seine Artikel, wie auch die Adams, in der Welt erschienen sind, heißt nicht, dass er mit ihm zusammengearbeitet hat. Das erfolgte erst Jahre später im Vorstand der AfD, den Henkel Mitte 2015 verließ.
3. Henkel hatte nie „die Spaltung der EU“ propagiert, sondern die Spaltung des Euro. Wäre das das gleiche, müsste Ihr „Journalist“ schon heute von einer gespaltenen EU schreiben, denn es gibt außer dem Euro noch 9 weitere Währungen in der EU.
Auf ein Weiterlesen dieses Pamphlets habe ich dann verzichtet.
„Aus dieser Zeit rührt Henkels Idee, dass die Parteiendemokratie in Deutschland bekämpft werden müsse…“
Das ist aber schon eine heftige Aussage, und der verlinkte ZEIT-Artikel gibt nichts dergleichen her (obwohl er selbst so tut als ob). Demnach hatte Henkel nur das Mehrheitswahlrecht befürwortet und wollte den Föderalismus abschaffen. Diese Ideen mag man für falsch erachten, aber es gibt genug (demokratische) Länder, die es genau so halten. Nichts an solchen Überlegungen ist per se den Prinzipien der Menschenrechte, des Rechtsstaates, der Freiheitlichkeit oder der Demokratie entgegengesetzt.
Dass man für eine Abschaffung des Föderalismus eine neue Verfassung bräuchte, mag wohl stimmen, ist deswegen aber nicht a priori illegitim.
Der Versuch, demokratische Bestrebungen hin zu einer anderen, aber ebenfalls freiheitlich-demokratischen und freiheitlichen Verfassung zu kriminalisieren wäre diktatorisch; er würde dem deutschen Volk das Recht absprechen, sich selbst in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Demokratie und unter Achtung der Menschenrechte eine neue Verfassung zu geben; er würde irgendwelche unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten eindeutig kontingenten Entscheidungen, die einmal getroffen wurden, allen späteren Generationen aufzwingen. Eine solche Position könnte, wenn überhaupt, allein rechtspositivistisch begründet werden – das heißt aber: überhaupt nicht.
Henkel allein aufgrund seiner entsprechenden Äußerungen in die Nähe rechtsextremer Verfassungsfeinde zu rücken, wie der verlinkte ZEIT-Artikel dies tut, ist daher grotesk.
Um es klarzustellen: Ich teile Henkels Position nicht. Aber eine mit den Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit grundsätzlich bestens vereinbare Veränderung rein positiv gesetzter Rechtsnormen als demokratiefeindlich darzustellen halte ich für illegitim.
„Verfassungsfeindlichkeit“ in irgendeinem stigmatisierenden Sinne kann immer nur heißen: gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu sein. Alles darüber hinaus sind Fragen, die man in einem freiheitlich-demokratischen Land kontrovers diskutieren können muss.
Zu einigen Kritikpunkten:
Henkel musste im Tarifstreit zwischen BDI und BDA zurücktreten. Er hatte das sogenannte Arbeitgeberlager gespalten.
Die Zusammenarbeit zwischen Henkel und Adam erfolgte im Sinne einer Arbeitsteilung: Adam machte deutlich, dass das Sozialsystem zurückgebaut werden musste, Henkel machte deutlich, dass das Sozialsystem nur zurückgebaut werden konnte, wenn das demokratische System entsprechend umgebaut würde.
Henkel ist ein Vertreter des Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Es gehört zu seiner Philosophie „rote Linien“ zu ziehen. Die Spaltung des Euro hätte die Spaltung der EU nach sich gezogen bzw. wäre nur über die Spaltung der EU möglich gewesen.
Henkel wollte ja nicht nur das Mehrheitswahlrecht einführen. Er forderte verfassungsfeindlich die Abschaffung des Bundesrates, die Direktwahl von Bundes- und Landespräsidenten, die Abschaffung der Parteienstiftungen usw. Es ging ihm um eine „Reform der Reformfähigkeit“, was übersetzt heißt: Wir müssen erst das demokratische System ändern um dann das Sozialsystem ändern zu können.
Der Artikel hat einen lobenswert investigativen Ansatz.
Aber ich würde mir generell eine nüchternere Ausdrucksweise wünschen, weniger reißerisch, weniger protzig und mit weniger semi-bewertenden Metaphern.
Das hier sollte sprachlich nicht das Niveau von Übermedien sein. Ich denke, dass der Anspruch von Übermedien höher liegt.
@ KannManMalSoSagen, #13
Reißerisch? Protzig? Beispiele?
Hier geht’s nicht um Nachrichten, sondern um Medienkritik, und Kritik bedeutet immer auch Bewertung. Den Stil finde ich absolut angemessen, denn ich möchte Meinung erkennen, wenn ich sie sehe, und mir dann eine eigene bilden.
Dieser Artikel ist ein Beispiel für genau das, was ich in Übermedien lesen möchte und weswegen ich sie abonniert habe. Mehr Tiefe, mehr Verknüpfungen, deutliche Analysen wer mit wem. Danke dafür.
Sehr aufschlussreicher Artikel, danke dafür! Noch aufschlussreicher wird er durch die hektisch geposteten Kommentare und Autoren-Schmähungen im „besorgte Bürger“-Duktus…
„Henkel wollte ja nicht nur das Mehrheitswahlrecht einführen. Er forderte verfassungsfeindlich die Abschaffung des Bundesrates, die Direktwahl von Bundes- und Landespräsidenten, die Abschaffung der Parteienstiftungen usw.“
Immerhin gut, dass hiermit geklärt ist. was Verfassungsfeinde sind:
Alle, die meinen, das Grundgesetz in seiner (momentan vorliegenden) Fassung könnte geändert werden.
Da in Artikel 146 ausdrücklich die Abschaffung des GG berücksichtigt ist, bleibt freilich der Verdacht, dass das GG durch Verfassungsfeinde ausgeknobelt worden ist.
Was hauptsächlich zur Frage führt – Was sagt die Schmähung des politischen Gegners als „Verfassungsfeind“ noch aus, wenn sie so billig zu haben ist? Zum Beispiel über menschliche Integrität, demokratische Prinzipien usw…. (Illu300 hat auf wesentliche Punkte hingewiesen)
Du meine Güte. Gemessen an der Schneidigkeit von Überschrift und Fazit fällt die Präsentation von Belegen ganz schön schmalbrüstig aus. Die investigative Pose einerseits und die realitätsferne und naive Vorstellung davon, wie’s in Redaktionen zugeht, finde ich hier bei Übermedien eher unangebracht. Gut: Da steht Gastbeitrag. Die Qualitätsprobleme dieses Textes sind aber offensichtlich. Muss man nicht bringen, so ein Geraune.
Als „Geraune“ würde Ihr Leserbrief, Stephan, prototypisch durchgehen. Gut: Da steht Kommentar. Trotzdem: Muss man nicht bringen ;-)
Der Artikel ist interessant, aber ich mag nicht die teils sehr spitzen Anmerkungen des Autors in den Kommentaren nicht.
Die „Welt“ bringt also im April 2013 eine AfD-Story. „Die ersten drei Seiten kann man durchaus als AfD-nah interpretieren.“ Echt jetzt? Ein AfD-Porträt, in dem es heißt: „Es sind diese, die komplexe Lage der Dinge in Europa ziemlich grob vereinfachenden Phrasen, die die Alternative für Deutschland erfolgreich und angreifbar zugleich machen.“ Und ein Stück über die britische UKIP: „Ein Verein von „Spinnern, Irren und Besenkammer-Rassisten“, wie Premier David Cameron die radikalen Euroskeptiker einst nannte, die selbst in pessimistischen Umfragen zwei-stellige Popularitätswerte einheimsen.“ Macht die Beweisführung eher nicht leichter, möchte man meinen.
Noch mal zu #geraune:
Das wäre natürlich eine klasse Geschichte: Die „Welt“, deren Redakteur und AfD-Reporter Günther Lachmann sich der AfD als Berater und Programmschreiber andiente, förderte die AfD. Doppelter Boden. Lügenlügenpresse, quasi. .
Lässt sich nur nicht belegen. Und das ist der Punkt, an dem es ohne ideologische Verkrampfung besser läuft. Anders als in diesem Artikel.
Da heißt es: „Die „Welt“-Gruppe war entsprechend den AfD-Gründern Hans-Olaf Henkel und Bernd Lucke wohlgesonnener als „Bild“. Hinzu kommt die Verbindung von AfD-Gründer Konrad Adam zur „Welt“.“ „Wohlgesonnener“, weil es eine Berichterstattung gegeben hatte? (An der die AfD-Fanboys irgendwie doch nicht beteiligt waren, siehe Kommentar xx..) Und Adam: Der war zu diesem Zeitpunkt seit sieben Jahren im Ruhestand und schrieb nicht mehr für die „Welt“.
Und genau das ist #geraune. Herr Kemper verknüpft Fakten mit Vermutungen und stellt so ohne Nachweis (oder Plausibilität) Kausalitäten her. Macht Ken Jebsen auch.
Mal im Ernst: Dass ein Medium über eine Partei berichtet, heißt nicht, dass dieses Medium sich deren Position zu eigen macht. Wenn ein Medium 2013 einen 100-Mark-Schein auf der Titelseite bring, heißt das nicht: Wählt AfD. Auch nicht, wenn’s die „Welt“ ist; auch nicht, wenn die Geschichte so schön wäre; auch nicht, wenn man immer noch sauer ist, weil niemand größer auf die selbstgeschriebenen Blogneiträge eingestiegen ist.
#geraune ist keine bessere Medienkritik.