In dieser Rubrik geben wir Autorinnen und Autoren die Gelegenheit, über ihr persönliches Hasswort zu schimpfen. Eine Redewendung oder Formulierung, die nervt, sinnlos ist oder falsch eingesetzt wird – die aber ständig auftaucht, in Texten, im Radio oder im Fernsehen. Alle Hasswörter finden Sie hier.
Erweiterter Suizid

Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Suizid. Unkomplizierte, schnelle Hilfe bei Depressionen und anderen Notlagen gibt es unter anderem bei der Telefonseelsorge, die rund um die Uhr unter den Rufnummern 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 zu erreichen ist.
„Vor einem Jahrzehnt schockierte ein Germanwings-Absturz mit 150 Todesopfern die Welt, ein erweiterter Suizid des Co-Piloten“, schrieb kürzlich die „Neue Zürcher Zeitung“. Viele Medien berichteten mit ähnlicher Wortwahl über den Jahrestag des Flugzeugunglücks am 24. März 2015 in den französischen Alpen.
Die „Frankfurter Rundschau“ stellte fest: „Generell sind sogenannte erweiterte Suizide durch Piloten Einzelfälle.“ Und der „Kölner Stadtanzeiger“ fragte, mit Bezug auf eine aktuelle TV-Doku zum Thema: „War es doch kein erweiterter Suizid?“ (Das „erweitert“ wurde offenbar später aus der Dachzeile gestrichen, inzwischen ist der Text nicht mehr online.) Auch Übermedien schrieb in einem kritischen Text über die boulevardeske Berichterstattung vor zehn Jahren vom „erweiterten Suizid“.
Was soll das eigentlich heißen?
Jedes Mal, wenn ich von einem „erweiterten Suizid“ lese, spüre ich großes Unbehagen. Was ein Suizid ist, ist klar: Ein Mensch tötet sich selbst. Ein erweiterter Suizid, so viel kann man sich denken, ist, wenn ein Mensch nicht nur sich selbst umbringt, sondern noch mindestens einen weiteren Menschen – so wie der Co-Pilot des Germanwings-Flugzeugs, der 149 Menschen mit in den Tod nahm. Doch klar ist an dem Begriff nichts.
Der Täter „erweitert“ seine Selbsttötung um die anderer Menschen. Was soll das heißen? Hat er sie gefragt, ob sie mit in den Tod kommen möchten? War die Tat einvernehmlich? So klingt es für mich. Aber die Germanwings-Passagiere haben den Entschluss des Co-Piloten natürlich nicht unterstützt – und auch nicht davon gewusst.
So ist der Begriff auch gar nicht gemeint. Sind sich mehrere Personen einig, sterben zu wollen, wird von einem „Doppel-Suizid“ oder „gemeinschaftlichen Suizid“ gesprochen, auch wenn ihn nur eine Person ausführt. Ein typisches Beispiel ist der Fall des Schriftstellers Heinrich von Kleist, der mit deren Einverständnis zuerst die tödlich erkrankte Henriette Vogel und dann sich selbst erschoss.
Beim erweiterten Suizid hingegen geht es gerade um solche Fälle, in denen es keinen gemeinsamen Beschluss gibt. Insofern suggeriert der Begriff auch noch das genaue Gegenteil dessen, was er tatsächlich bedeutet. Verwirrend.
Suizid ist keine Straftat, Mord schon
Der Suizid an sich ist kein Straftatbestand. Und auch der erweiterte Suizid kommt im Strafrecht nicht vor. Viele Strafrechtler*innen lehnen den Begriff sogar ab, wie der forensische Psychiater Klaus Foerster in einer umfassenden Erörterung des Begriffs schreibt. Überlebt der Täter oder die Täterin, muss entsprechend geklärt werden, ob es sich um einen Mord oder einen Totschlag handelt.
Die Autorin
Johanna Treblin ist Redakteurin bei der „taz“ und freie Journalistin unter anderem beim DLF. Sie hat Politikwissenschaft in Bonn, Buenos Aires und Berlin studiert. Sie beschäftigt sich vor allem mit Haftbedingungen in Gefängnissen sowie mit Arbeitsmigration. Seit einem Stipendium für Recherchen zu rumänischen Bauarbeitern in Deutschland ist Johanna Treblin Fellow des Programms „Reporters in the Field“ von n-ost und Robert-Bosch-Stiftung.
Dennoch, und obwohl absichtliche Flugzeugabstürze glücklicherweise selten sind, kommt der „erweiterte Suizid“ recht häufig in Medienberichten vor: nämlich wenn ein Mann oder eine Frau den oder die eigene*n Partner*in beziehungsweise die eigenen Kinder und sich selbst tötet.
„Zeit“, „Spiegel“, NDR, „Nordkurier“, „Stern“, „Ostsee-Zeitung“: Alle berichteten Ende November von einer traurigen Geschichte. Ein Mann in Rostock war aus dem zehnten Stock eines Hochhauses gesprungen, im Arm einen Säugling. Der Mann, mutmaßlich der Vater, starb. Auch das Kind starb wenige Tage später an seinen Verletzungen. Die Mutter des Mädchens wurde mit Stichwunden in der Wohnung aufgefunden und überlebte.
„Ein erweiterter Suizid ist aber laut Polizei nicht auszuschließen“, schrieb der „Spiegel“. „Auch ein möglicher, sogenannter erweiterter Suizid ist Gegenstand der Untersuchungen“, hieß es in der „Ostsee-Zeitung“, die immerhin ein „sogenannt“ vor den Terminus setzte. Auch in der dpa-Meldung, auf der die meisten der Texte beruhten, war von einem möglichen „erweiterten Suizid“ die Rede.
Täter*innen haben oft psychische Probleme
Ähnliche Geschichten gibt es immer wieder:
- „Erweiterter Suizid der Mutter? Drei Leichen in Wohnhaus gefunden“ (RTL)
- „Erweiterter Suizid von Königs Wusterhausen hat antisemitischen Hintergrund“ („Welt“)
- „Tote Mutter und Tochter: Erweiterter Suizid wahrscheinlich“ („Berliner Morgenpost“)
Warum töten Menschen ihre Familienangehörigen oder ehemalige Partner*innen, bevor sie sich selbst das Leben nehmen? Denken sie, dass sie ihnen einen Gefallen tun? Aus Rache? Aus Wut oder Hass?
Studien dazu gibt es wenige – weil man die Täter selbst nicht mehr befragen kann. Eine Untersuchung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf von zehn Fällen aus der Region ergab, dass die meisten Täter männlich sind. Ihre Opfer sind meistens ihre Partnerinnen. Frauen hingegen nähmen häufiger ihre Kinder mit in den Tod. Bei den zehn Fällen spielten Depressionen oder andere psychiatrische Auffälligkeiten eine Rolle, beispielsweise Narzissmus, emotionale Instabilität, aber auch Drogenmissbrauch. Anderen Untersuchungen zufolge hatten viele Täter*innen Persönlichkeitsstörungen, eine schizophrene Diagnose oder depressive Syndrome.
Bei Kindstötungen ohne Selbstmord oder wenn der Suizid scheitert und die Täter*innen befragt werden können, geben Mütter offenbar häufig altruistische Motive dafür an, ihr Kind getötet zu haben: aus Mitleid, um es vor dem gewalttätigen Vater zu schützen oder vor anderen Gefahren zu retten. Der Psychiater Foerster geht allerdings davon aus, dass viele Frauen, vor allem mit Persönlichkeitsstörungen, das Motiv nur vorgeben. Und natürlich ist es nicht altruistisch, jemanden ohne dessen Einverständnis zu töten, auch wenn der oder die Täter*in denkt, es sei zu dessen besten.
Opfer werden zum „Begleitumstand“
Für mich heißt das: Wer vom „erweiterten Suizid“ spricht, macht sich die Sichtweise des Täters zu eigen. Journalist*innen, die den Begriff verwenden, anonymisieren die Opfer und verharmlosen – sicherlich nicht absichtlich – den Mord. Um es mit Foerster zu sagen: Sie reduzieren die Opfer zum „Begleitumstand“ des Suizids.
Übrigens wurde der Begriff bereits im Jahr 2006 in der Schweiz zum Unwort des Jahres gekürt. Die Begründung der Jury: Er sei ein „klarer sprachlicher Missgriff“. Er verschleiere und verharmlose den Begriff des Mordes und sei ein Widerspruch in sich, da ein Selbstmord nur eine Person treffen könne.
Als Alternative für einen griffigen Terminus, der auch in eine Überschrift passt, eignet sich – in den meisten Fällen – der Homizid-Suizid. Der Begriff kommt aus dem Englischen, „Homicide“ bedeutet Tötung. Er ist neutral und bleibt bei den Fakten: Im Rahmen eines Suizids wurde noch mindestens ein weiterer Mensch getötet. Ob es sich um einen gemeinschaftlichen Suizid handelt, einen Mord oder etwas ganz anderes, das müssen Ermittlungen ergeben.
Sehr guter Artikel – danke! Dieser Ausdruck gehört wirklich abgeschafft.
„Homizid-Suizid“ mag neutral sein, ist aber sowas von nicht griffig. Vielleicht: Suizid-Mord?
(„Homizid“ kommt übrigens aus dem Lateinischen und nicht aus dem Englischen.)
„Homizid“ heißt nicht „Tötung“, sondern „_Menschen_tötung“.
Spontan käme mir „Selbstmordmord“ in den Sinn, analog zum Selbstmordattentat. Da spricht auch niemand vom „erweiterten Suizid“.
Für die seltenen Fälle, in denen wirklich ein gemeinschaftlicher Selbstmord geplant und durchgeführt wurde, braucht man vielleicht auch kein eigenes Wort.
Meistens handelt es sich um Mord und anschließenden Selbstmord. Möglich ist auch Tötung auf Verlangen im Sinne von Hilfe zum Selbstmord und danach Selbstmord. Erweiterter Selbstmord ist Beschönigung.
Der Logik nach könnte man bei einem Kamikaze Angreifer, ja selbst bei Hitler von „erweitertem Suizid“ sprechen. Er brachte viele Menschen um und sich selbst, im Zuge derselben Aktion, dem zweiten Weltkrieg. Darum, richtig, spätestens nach Abschluss der Ermittlungen, ist zB im Fall des GermanWings Absturzes: Das war ein Massenmord mit gleichzeitiger Selbsttötung.
@Mycroft und @Florian Blechschmied:
Der Begriff „Selbstmord“ ist falsch und wird in der Suizidforschung abgelehnt, da der Begriff „Mord“ mit entsprechenden Merkmalen wie niederen Beweggründen oder Heimtücke assoziiert ist. Richtig wäre also „Selbsttörung“ oder eben „Suizid“. Den Begriff „erweiterter Suizid“ halte ich aber ebenso für falsch und euphemistisch. Im Englischen gibt es die, m. E. zutreffende, Formulierung „suicide murder“, da bei diesen Taten bei der Tötung der anderen Menschen in aller Regel Mordmerkmale vorliegen.