Die Kolumne
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Es gibt eine Theorie unter Magazinmachern, dass die Zeitschrift als solche auf Papier überleben wird, aber nur als Trash- und als Luxusprodukt.
Im Prinzip sagt das den Tod des Konstrukts Großverlag voraus, weil Trashprodukte kaum Anzeigen verkaufen und deshalb ganze Abteilungen der heutigen Verlagsstrukturen nicht brauchen. Luxusprodukte darf man nicht missverstehen als Zeitschriften, in denen über Luxus berichtet wird, sondern gemeint sind hier solche Zeitschriften, die aufwendig und schön gemacht sind. Wenn sie funktionieren, finden sie eine kleine, feine Leserschaft, die bereit ist, einen hohen Copypreis zu bezahlen, aber auch das finanziert keine Verlagshäuser, in denen die Konferenzräume Profitcenter sind (es gehört zu den Perversionen der Medienkrise, dass es in manchen Verlagshäusern für die Chefredakteure budgetschonender wäre, sie würden ihre Konferenzen im Hotel gegenüber abhalten anstatt im eigenen Haus, aber das dürfen sie natürlich nicht). Außerdem profitieren sie wenig von Synergieeffekten: Weil die Auflage gering ist, sind es auch die Anzeigenpreise. Die Anzeigenverkäufer eines Großverlages, die mit einem ganzen Portfolio von Titeln zu Kunden und Mediaagenturen reisen, werden deshalb diese Titel immer als letzte anbieten, und das entsprechend lustlos.
Nebenbei kann man sich als normal denkender Mensch nicht ausmalen, was unsere heutigen Großverlage noch alles an Rentenansprüchen oder Vorruhestandsgehältern von ehemaligen (Chef-)Redakteuren vor sich herschieben. Ich meine das vollkommen wertfrei, aber Zeitschriften aus Großverlagen sind meiner ganz persönlichen Meinung nach eine aussterbende Gattung.
Womit wir endlich zur Zeitschrift der Woche kommen, und bei der habe ich einen Fehler gemacht, wie jedes Mal, wenn ich versuche, heimlich meine private Theorie zu einer These mit einer Heftkritik zu verbinden. Ich habe „Mare“ gekauft und gelesen, und das Mistding ist toll, und tolle Hefte sind viel schwieriger zu kritisieren als schlechte. Es ist eine Zeitschrift, wie sie sein soll: optisch und haptisch wunderschön, interessant, kreativ und intelligent. Wir könnten über Mischung reden, dieses komische Fabeltier, aber auch da – wenn man eine möglicherweise ganz persönliche Eigenheit von mir okay findet – nur positiv: Der Rhythmus aus langen und kurzen Geschichten, neuen und alten, unbekannten Details über bekannte Themen und Geschichten über Unbekanntes stimmt.
Die angesprochene Eigenheit sind die alten Themen: Ich kann jeden verstehen, der sagt, ihn interessieren letztlich Geschichten über Dinge nicht, die 150 Jahre her sind. Und ich würde sie auch nur auf Geschichtsheften aufs Cover packen (siehe den „Bahnhofskiosk“ von letzter Woche, als die Ausgabe des „Rolling Stone“ aussah wie „Rolling Stone History“). Aber die Geschichte eines britischen Marineoffiziers, der trotz offensichtlichen Irrsinns und bewiesener Unfähigkeit zum Befehlshaber großer Flottenteile aufgestiegen ist habe ich in der aktuellen „Mare“ sehr gerne gelesen.
Das Titelthema ist die südenglische Region Cornwall (mit der leicht „Neon“-esk klingenden Unterzeile „Warum wir von dieser Küste träumen“, um mal zumindest homöopathisch was kritisch Wirkendes zu sagen), und diese Sammlung aus Geschichten macht auf 33 Seiten alles richtig. Ich habe mal ein Jahr in Südengland gelebt, und dachte, ich wüsste ein bisschen was über die Gegend. Stimmte nicht.
Das für mich Überraschendste dabei ist, dass nirgends irgendeine Magie dabei ist. Bei „Mare“ wird nur mit Wasser gekocht, und aus Respekt davor, wie gut man bei „Mare“ mit Wasser kochen kann, spare ich mir irgendwelche „aber mit Salzwasser, haha“-Gags. Obwohl es gejuckt hat. Mit „Nur mit Wasser kochen“ meine ich, dass die Geschichten in „Mare“ zum Beispiel in der Regel gar nicht überragend gut geschrieben sind. Sie sind manchmal ungeheuer ernsthaft, ich habe nirgends gelacht oder geweint, und ich lache oder weine wirklich so leicht, dass es schon peinlich ist. Hier wird nicht Seite-3-der-„Süddeutschen“-gut geschrieben.
Ich habe natürlich eine Theorie dazu, was „Mare“ so schön und deshalb für mich zu einem nachhaltigen Titel in dem Sinne macht, dass ich glaube, dass es das Heft quasi für immer geben kann. Die Theorie steigert sich von steil zu wahnsinnig, weil ich glaube, dass man an „Mare“ exemplarisch zeigen kann, was die nachhaltig erfolgreichen „Zeitschriften“-Neuentwicklungen dieses Jahrhunderts gemeinsam haben. Wenn Sie mir also kurz folgen würden?
Der erste Punkt ist fast zu platt, um ihn aufzuschreiben, aber es ist Haltung. Es ist fast unmöglich, jemanden nicht zu mögen, der irgendetwas wahnsinnig liebt, und wenn eine Redaktion so offensichtlich verrückt nach Meer ist wie die von „Mare“, dann ist das allein schon sehr anziehend. (Ähnliches gilt zum Beispiel für die Redaktion von „Segeln“.)
Aber jetzt kommen wir zum wahnsinnigen Teil meiner Theorie: Ich glaube, die entscheidende Qualität jeder erfolgreichen Neueinführung in den letzten, sagen wir, zwanzig Jahren ist Poesie. Ich bitte, das als Arbeitsbegriff zu verstehen, obwohl man es bei „Mare“ wörtlich nehmen kann, denn das Heft leistet sich die grandiose Freiheit, tatsächlich Gedichte abzudrucken. Ja, Gedichte. Die kommerziell erfolgloseste Form von Wortreihungen auf Papier.
Ich wage es nicht, ihre Qualität zu beurteilen; ich bin einer von denen, die sagen, sie mögen Poesie, aber ich lese so gut wie nie neue Gedichte. Ich lese relativ sklavisch den „New Yorker“, eine andere Zeitschrift, die sich diese Freiheit nimmt, aber auch da lese ich wahrscheinlich nur jedes 15. Gedicht. Bizarrerweise liebe ich aber das Heft dafür, dass sie Gedichte abdrucken. Selbst für mich, der sie nicht liest, macht es das Heft besser.
Aber auch das meine ich nicht mit dem Arbeitsbegriff Poesie. Ich meine zum Beispiel die grandios erfolgreiche Lancierung von „Neon“ damals, die mit ihrem „eigentlich sollten wir erwachsen werden“ diese große, poetische Unfertigkeit des Lebens beschrieben haben, das einem zustößt, während man noch dabei ist, Pläne zu machen. Ich meine den Erfolg von „Landlust“, die mit ihrer konsequenten Anti-Hype-igkeit den Zauber des bukolischen Lebens verströmen.
Dabei muss Poesie nicht sanft sein, natürlich nicht – hallo, Allen Ginsberg! Wahrscheinlich hätte „Business Punk“ das Potenzial, poetisch und nachhaltig zu sein. „Brand Eins“ ist es, ein Wirtschaftsmagazin! „Cicero“ zum Beispiel hatte hingegen jede Gelegenheit und ist es nicht. Die Magazine von „Zeit“ und „Süddeutsche Zeitung“ haben Poesie*. Der „Stern“ hatte sie einmal.
Ich bin der festen Überzeugung, es gibt beim Lesen von Texten, die nicht reine Informationsweitergabe sind, eine einzige, unterschwellige Frage, die darüber entscheidet, ob man als Leser berührt wird oder nicht: Versteht der Autor etwas vom Leben?
Bei „Mare“, um das es eigentlich gehen sollte hier an dieser Stelle, verstehen sie etwas vom Leben, weil sie etwas von Sehnsucht verstehen. Das ist gar keine Frage des Handwerks, sondern relativ einfach: Man muss diese Sehnsucht haben. Und sie rauslassen.
In Wahrheit ist jedes verdammte Zeitschriftenthema, wenn es etwas taugt, ein Appell an die Sehnsucht, nur ist er verschlüsselt. Jede Diät-Geschichte ist ein Appell an die Sehnsucht, liebenswert zu sein und geliebt zu werden, was der inadäquate Ersatz dafür ist, sich selbst okay zu finden.
Das mal als Botschaft an jede und jeden Marketingfachfrau oder -mann im mittleren Verlagsmanagement, der heute irgendeinem Redakteur damit auf die Nerven gegangen ist, sein Heft bräuchte mehr „News to use“: Lies mal „Mare“, zuerst die Gedichte, und dann nimm dir den halben Tag frei, fahr ans Meer und denk an deine Jugendliebe. Und wie du dachtest, dass du werden würdest, als du 16 warst. Spür Sehnsucht. Iss Waldmeistereis. Rauch wie ein Franzose, mit der Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger und Fragen zu Camus im Kopf. Und mach dir klar: Ja, das fühlen alle. Zumindest alle, die gerne lesen. Da wäre der Markt gewesen. Und jetzt komme ich wieder runter und verspreche, nächste Woche gucken wir uns richtigen Trash an.
*) Offenlegung: Ich schreibe regelmäßig für das „Süddeutsche Zeitung Magazin“
Mare
Mareverlag Hamburg
9,50 Euro
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Meine Güte, schon wieder toll, danke.
Und um auch mal was Anderes zu schreiben als Lob und Dank: Ich bin ja ulkigerweise ziemlich genau so geworden, wie ich mit 16 dachte.
Kann man traurig finden, aber ich bin zufrieden. Und natürlich insgeheim ein bisschen stolz auf diese Abweichung von der wahrgenommenen Norm.
Und weil mir das im Nachhinein peinlich ist, schnell noch was Anderes: Warum ist das mit den Konferenzräumen eine Perversion der Krise? Waren die vor der Krise keine Profitcenter?
Danke dir!
Ich halte es für eine Perversion, weil an Inhalten und Mitarbeitern gespart wird, an solchen Stellen – von denen der Kunde/Leser gar nichts hat – dann aber nicht.
Das hatte ich durchaus verstanden, wenn auch vielleicht ohne vollständig zuzustimmen.
Unklar ist mir mangels Branchenkenntnis, inwieweit das ein Spezifikum der Krise ist. Also, waren die Konferenzräume vorher gar keine Profitcenter, oder waren sie billiger, oder war es egal, weil eh maßlos viel Geld da war, oder was hat sich da durch die Krise verändert?
Waren sie immer. Aber pervers finde ich, eher am Produkt zu sparen als hier (von den Mitarbeitern mal ganz zu schweigen…)
Schönes Intro. Leider wahr. Bemerkenswert auf den Punkt gebracht.
Bomobil
Danke, Michalis, für den wieder einmal wunderbaren Text. Du willst mal wieder ein Magazin kritisieren? Da kann ich „Hörzu Wissen“ empfehlen (Ausgabe Aug/Sept). :)
„Rauch wie ein Franzose, mit der Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger“
Das machen Leute? Warum? Das ist doch völlig unbequem.
Jetzt war es also doch Pantelouris, der mich dazu gebracht hat, endlich den Entschluss zum Übermedien-Abo in die Tat umzusetzen. „Es ist fast unmöglich, jemanden nicht zu mögen, der irgendetwas wahnsinnig liebt“ sagt er ganz richtig, und wenn jemand Zeitschriften so liebt, schreibt er eben tolle Texte darüber. Meine Mutter war Media-Einkäuferin in einer Frankfurter Werbeagentur, und so gab es bei uns zuhause jede Woche jede nur erdenkliche Zeitschrift. Es freut mich sehr, jemanden zu lesen, der diese alte Liebe teilt. Und der Rest ist die 3,99 Euro auch in jedem Fall wert.
Pragmatismus, Poesie und Haltung sind, wenn ich es richtig gelesen habe, die Zutaten für eine gute Zeitschrift. Ich schreibe extra nicht tolle Zeitschrift, weil eine gute Zeitschrift Superlative nicht nötig hat. Pragmatisch gute Texte, die nicht langweilen, die aber auch keinen Gags hinterher rennen, veröffentlicht Mare. Auf jeden Fall. Ich möchte anmerken, dass Bilder und oft auch die Themenauswahl poetisch sind. Poesie kann in ihren besten Momenten das Leben verstehen ohne tagesaktuell zu sein. Vielleicht der wichtigste Unterschied zu anderen Magazinen scheint mir die Haltung zu sein. Und das scheint mir über einen einfachen Slogan hinaus zu gehen. Mare ist mehr als „Wir lieben das Meer“, die Redaktion von Mare bemüht sich anständig zu sein. Das merke ich als Leser daran, wie die Autoren mit ihren Themen umgehen und mit den Menschen, die sie interviewen und portraitieren. Mit der selben anständigen Haltung gehen die Menschen in der Mare Redaktion auch mit mir als Autorin um. Mir scheint das für den Leser spürbar zu sein.