Wachstum über alles: Der beschränkte Blick des Wirtschaftsjournalismus
Die Wirtschaft kann nicht endlos weiterwachsen. Die Erkenntnis ist nicht neu, doch die Wirtschaftsberichterstattung in deutschen Medien ist immer noch auf die Kerngröße Wachstum fixiert und vernachlässigt dabei Fragen der Nachhaltigkeit. Das müsste nicht so sein.
Die Wirtschaft kann nicht ewig weiterwachsen. So banal diese Erkenntnis sein mag, so viel Irritationen hat sie 1972 ausgelöst, als der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht hat.
Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.
So hieß es damals. Das ist zwar mittlerweile 47 Jahre her – aber so richtig scheint es bei so manchem Wirtschaftsjournalisten auch heute noch nicht angekommen zu sein.
Bei der Politik teilweise schon: Neuseeland hat in diesem Jahr erstmals seinen Haushalt nicht mehr danach ausgerichtet, was Wachstum treibt, sondern will fortan fünf Ziele erreichen. Dazu gehören die Verbesserung von psychischer Gesundheit, der Reduzierung von Kinderarmut und die Bekämpfung sozialer wie wirtschaftlicher Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen. Vor allem aber geht es auch darum, die Transformation der Wirtschaft in eine emissionsarme, nachhaltige Zukunft zu erreichen.
Spätestens mit der Publikation des Club of Rome wurde in der Wirtschaftswissenschaft darüber diskutiert, wie Wachstum auszusehen hat. Es gibt zwei Forschungsströmungen, die grundlegenden Wandel fordern: Die radikale Décroissance-Bewegung um den US-Forscher Tim Jackson will eine gänzliche Abkehr vom Wachstum; andere Forscher sind lediglich der Meinung, dass Wachstum nachhaltig gestaltet und weniger ressourcenausbeutend werden muss.
Beides sind relevante Stimmen in der Forschung, auch wenn das Wachstumsparadigma noch immer dominiert. Aber in der Wirtschaftsberichterstattung großer deutscher Medien findet fast nur diese eine Strömung statt – das differenzierte Bild aus der Forschung spiegelt sich in journalistischen Texten nicht wieder. Das habe ich in meiner Masterarbeit festgestellt.
Der Autor
Frederic Servatius hat Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation in Würzburg studiert. Seine Masterarbeit trägt den Titel: „Berichterstattung an den ‚Grenzen des Wachstums‘ – Wie Wirtschaftsjournalismus den Wachstumsbegriff verwendet und wie die Verwendung in Bezug auf Nachhaltigkeit aussehen könnte“.
Die Stichprobe
Betrachtet wurde die Berichterstattung über sechs Ereignisse im vergangenen Jahr: Veröffentlichungen von Forschern, zum Beispiel die Konjunkturprognose der Wirtschaftsweisen, oder die Bekanntgabe der Wachstumszahlen des Statistischen Bundesamtes. Zusammengekommen sind insgesamt 57 Artikel von FAZ, faz.net, „Focus Online“, „Handelsblatt“, Handelsblatt.com, ManagerMagazin.de, „Spiegel Online“, Süddeutsche.de, „taz“, taz.de, tagesspiegel.de, tagesschau.de, welt.de, wirtschaftswoche.de, „Zeit Online“, sowie AFP, DPA und Reuters.
In einer Inhaltsanalyse habe ich die Berichterstattung zu sechs Ereignissen untersucht, die mit dem Thema Wachstum zusammenhängen. Die Frage: Wie verhält sich die Berichterstattung zur Wirtschaftsforschung und berücksichtigt sie Aspekte der Nachhaltigkeit?
In 34 von 57 Artikeln wird „Nachhaltigkeit“ in irgendeiner Form erwähnt. Doch das bedeutet nicht zwangsläufig, dass Themen wie Umweltschutz oder Ressourcenausbeutung eine Rolle spielen – das ist nur in drei von 57 Berichten der Fall. Wenn sie von Nachhaltigkeit sprechen, meinen Medien Binnenkonjunktur, Grenzen der Kapazitätsauslastung oder von Staatsfinanzen. Das sind relevante wirtschaftspolitische Themen. Aber eben nicht die einzigen, wenn Ressourcenausbeutung ein Problem für das Fortbestehen der Wirtschaft ist.
Wachstum? Wachstum!
Der Wachstumsbegriff wird quasi durchweg positiv bewertet. So wird in einem FAZ-Bericht klar gemacht, dass nicht erreichtes Wachstum einem Versagen der wirtschaftspolitischen Maßnahmen gleichkommt; in einem Bericht des „Handelsblatts“ wird ein Wachstum von 1,3 Prozent vom Wort „nur“ begleitet. Wachstum wird als nicht nur als zwingend notwendig gesehen, es muss sogar immer größer werden.
Bei Artikeln, die sich mit den Auswirkungen von Wachstumsprognosen auf Börsen auseinandersetzen, wird die Logik übernommen, dass es (möglichst starkes) Wachstum braucht, schon weil die Börsen das verlangen. Da gibt es keinen Raum für Nachhaltigkeit.
Für Wirtschaftsjournalisten wäre es ein Leichtes, auf Begriffe wie „Wachstumseinbruch“ zu verzichten. Angenommen das Wachstum liegt im dritten Quartal bei drei Prozent und im vierten Quartal nur noch bei einem Prozent, dann ist das nur ein langsameres Wachstum, aber immer noch ein Wachstum und kein Schrumpfen.
Einen Artikel gibt es allerdings, in dem Wachstum wirklich kritisch betrachtet wird. Das aber steckt bereits im betrachteten Ereignis. Analysiert wurde die Berichterstattung zu einer Veröffentlichung der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. In dem Bericht geht es um Wachstum als blinden Fleck in der Klimawissenschaft. Allein: Zu dem Ereignis findet sich nur bei „Zeit Online“ ein Interview. Alle anderen Medien haben auf Berichterstattung verzichtet. Klar: Wenn eine parteinahe Stiftung einen Bericht veröffentlicht, ist es für Redaktionen kein zwingender Anlass, darüber zu berichten. Aber dass fast alle betrachteten Medien darauf verzichten, dürfte dann schon überraschen, weil der Bericht durchaus drastische Probleme rund um Klimapolitik formuliert.
Dabei muss man den Stiftungs-Bericht natürlich nicht unkritisch betrachten. Das tut auch „Zeit Online“ im Interview mit den Autor keineswegs. Im Gegenteil: Selbst hier wird Wachstum von Seiten der Interviewerin durchweg neutral bis positiv beurteilt. Kritische Beurteilungen gibt es nur vom Autor, der seine Thesen und damit Aspekte der Nachhaltigkeit verbreiten darf.
In der sonstigen Berichterstattung muss aber der Nachhaltigkeitsbegriff mit kritischer Einordnung rechnen: Anders als beim Wachstum sind die Beurteilungen hier nicht durchweg positiv, sondern sehr ambivalent. Häufig wird beispielsweise Nachhaltigkeit als Bedrohung beschrieben.
Nicht berichten als Option?
Bemerkenswert ist nicht nur, wie berichtet wird, sondern auch ob überhaupt. Dass das Magazin „Capital“ in seiner Print-Ausgabe auf die Berichterstattung zu tagesaktuellen Ereignissen wie Konjunkturprognosen verzichtet, mag nicht überraschen. Aber auch Online finden sich dazu nicht einmal Kurzmeldungen. Das scheint nicht allein an Sachzwängen zu liegen, sondern eine bewusste redaktionelle Entscheidung zu sein. Bereits 2014 formulierten Forscher in einem Gastbeitrag im Magazin die Forderung, dass sich die wirtschaftspolitische Agenda nicht mehr allein an Kennzahlen orientieren soll, sondern auch den Faktor Glück mit einbezieht. Eine Abkehr vom klassischen Denken in BIP und Wirtschaftswachstum. Und eventuell eine Alternative für Berichterstatter?
Keine Alternative ist es hingegen, sich in der Berichterstattung über solche Ereignisse ganz auf Agenturmeldungen zu verlassen, wie es Online-Medien wie Stern.de tun. Die breite Übernahme von Meldungen von Nachrichtenagenturen führt generell dazu, dass redaktioneller Pluralismus ein Stück weit verloren geht. Dieser Effekt wird dann verstärkt, wenn die Agenturen tendenziös berichten. Von 16 untersuchten Agenturberichten erwähnen lediglich fünf Aspekte der Nachhaltigkeit. Und selbst die tun das in keinem Fall, um über Umweltschutz oder Ressourcenausbeutung zu sprechen. Es geht dabei vielmehr um Staatsfinanzen oder Grenzen der Produktionskapazitäten.
Kaum Wachstums-Pluralismus
Eine Erkenntnis dürfte überraschen: Zwischen verschiedenen Redaktionen sind keine großen Unterschiede erkennbar. Die Redaktionen von „Handelsblatt“ oder „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichten nicht erkennbar wachstumsfreundlicher als „Zeit Online“ oder süddeutsche.de.
Auffällig über alle Redaktionen hinweg ist: Immer dann, wenn die Wissenschaftler von sich aus ganz spezifische Aspekte thematisiert haben, fanden diese auch in der Berichterstattung statt – auch wenn sich die realen Rahmenbedingungen kaum verändert haben. So ging es bei der Berichterstattung zum Ifo-Index vom 24. September 2018 in vielen Berichten um die Grenzen der Binnenkonjunktur, während diese Thematik bei der Berichterstattung zur neun Tage später präsentierten Wachstumsprognose des IWF außen vor bleibt. Die Situation der Binnenkonjunktur dürfte sich in dieser Zeit kaum gedreht haben.
Logisch, dass der IWF als international ausgerichtete Organisation den Fokus nicht auf einzelne Konjunkturräume oder die Binnenkonjunktur setzt – es geht ja gerade um die globale Entwicklung. Aber für deutsche Journalisten könnte es ja gerade deswegen interessant sein, die deutsche Binnenkonjunktur in ein Verhältnis zu den globalen Entwicklungen zu sehen. In den untersuchten Berichten findet das aber nicht statt.
Offenbar wird nicht nur die Themensetzung der Forscher übernommen, sondern auch ihre Argumentation. In unterschiedlichen Medien finden sich so deckungsgleiche Zitate zur IWF-Prognose – ohne Einordnung. So hat IWF-Chefsvolkswirt Maurice Obstfeld von „Schocks“ als Bedrohungsszenario gesprochen. Fünf Medien haben dieses griffige Wort als Zitat übernommen – was zunächst nicht weiter kritikwürdig wäre. Allerdings wird dieses Bedrohungsszenario an keiner Stelle kritisch betrachtet. Im Gegenteil, die Argumentation wird gestützt und durch eigene Punkte untermauert: So wird davon geschrieben, dass das Wachstum dadurch „beeinträchtigt“ ist oder „spürbar gebremst“ wird.
Wachstumsereignisse sind regelmäßig und eingängig
Ein Kernproblem bei der Berichterstattung ist, dass die Berichterstattung über Wachstum zumeist von wiederkehrenden Ereignissen getrieben wird. Die veröffentlichten Zahlen sind außerdem zumindest oberflächlich betrachtet leicht verständlich. Bei Aspekten der Nachhaltigkeit gibt es kaum eine wiederkehrende Dynamik und somit auch keinen wiederkehrenden Anlass zur Berichterstattung.
Das führt dazu, dass die Wachstumsereignisse einzeln betrachtet zwar nicht unbedingt eine außergewöhnlich hohe Aufmerksamkeit bekommen, aber konsequent wiederkehrend ins Gedächtnis von Mediennutzern gerückt werden. Themen um Nachhaltigkeit, insbesondere in Umweltaspekten, treten hingegen vor allem in besonderen, nicht unbedingt in regelmäßigen, häufigen Ereignissen zutage. Ein Beispiel sind die Klimagipfel. Dann ist die Aufmerksamkeit allerdings hoch und Berichterstattung findet über ein breites Spektrum an Medien hinweg statt.
Dazu muss aber fairerweise auch gesagt werden: Ein breites Medienecho gibt es zu den Ereignissen rund um Wachstum nicht zwangsläufig. Über den monatlich erscheinenden Ifo-Index wird zwar stets berichtet, aber keinesfalls von allen Medien. Nur wenn überraschende Ausschläge erkennbar sind, werden eigene redaktionelle Kapazitäten dafür aufgewendet. Sonst reichen vielen der untersuchten Medien auch Agenturberichte – oder es wird auch mal gar nicht berichtet.
Allerdings: Führt das nicht gerade dazu, dass Wirtschaftsforscher extreme Aussagen forcieren, um mehr Aufmerksamkeit zu erlangen? Nimmt man die oben angenommene Beobachtung dazu, dass die Wirtschaftsjournalisten dazu neigen, die argumentative Tendenz der Forscher zu übernehmen, dann scheint das Spiel für Forscher ein Leichtes zu sein.
Ein nachhaltiges Wirtschaftsmagazin als Vorbild?
Eine sinnvolle Marschroute für Medien könnte es sein, sich am Vorbild des nachhaltigen Wirtschaftsmagazins „enorm“ zu orientieren. Es will sich für eine Wirtschaft einsetzen, die „für den Ausgleich zwischen Arm und Reich sorgt“ und zugleich „die natürlichen Ressourcen erhält“. Die Berichterstattung ist dabei erkennbar nicht neutral, sondern „auf den Wandel bedacht“. Das Magazin geht an Themen heran, indem Nachhaltigkeit in vielen Facetten abgebildet wird, ohne dass dabei wirtschaftliches Handeln aus dem Blick gerät. Dabei geht es teilweise um fachliche Details wie die Finanzierung des Norwegischen Staatsfonds. So wird auch das kritische Spannungsfeld aufgezeigt, das zwischen Renditen und Nachhaltigkeit entsteht.
Nachhaltigkeit wird also nicht als einziges Ziel idealisiert, aber mit in den Fokus der Aufmerksamkeit genommen. Über die Breite der Berichterstattung wird die Möglichkeit genutzt, vielfältige Aspekte der Nachhaltigkeit zu thematisieren. Es geht nicht nur um Umweltschutz, sondern auch um Altersvorsorge, soziale Gerechtigkeit oder Gesundheit. Die Themen werden teilweise in breit angelegten Themenstrecken bearbeitet, aber auch immer wieder wiederkehrend und kleinteilig in Berichte miteingearbeitet.
Gerade im Vergleich zu klassischer Wirtschaftsberichterstattung berichtet „enorm“ häufig alltagsbezogen. So hat das Magazin als ein Ressort den Bereich Leben, in dem es auch um Konsum und Lebensmittel geht. Der Fokus liegt häufig auf betriebswirtschaftlichen Geschichten oder Einzelpersonen und rückt weniger das volkswirtschaftliche Gesamtbild in den Mittelpunkt.
GPI statt BIP?
Wenn es um die direkte Wiedergabe der volkswirtschaftlichen Gesamtstimmung geht, dann muss ein anderer Ansatz her. Doch auch hier gäbe es eine Möglichkeit: ein Index, der nicht nur Wachstum berücksichtigt, sondern vielfältige Aspekte. Eine Möglichkeit ist der Genuine Progress Indicator (GPI), also der Indikator des echten Fortschritts. Er bezieht das Wachstum der Wirtschaft als einen Faktor mit ein, berücksichtigt aber auch zahlreiche andere Aspekte wie den Ozon-Abbau, Verbrechen, Luftverschmutzung oder sogar den Zerfall von Familien. Er stellt also die Entwicklung des Wohlbefindens dar.
Warum nicht regelmäßig über diesen Indikator berichten, um eine Entwicklung aufzuzeigen? Genau wie beim BIP oder sonstigen Wachstumsprognosen ließe sich dann leicht ein kerniger Satz formulieren wie. „Im letzten Quartal ging es den Menschen um x Prozent besser als im Vorjahresquartal.“
Die Berichterstattung muss die jetzigen Berichte nicht ersetzen, könnte sie aber ergänzen. Insbesondere wenn kein besonderer Ausschlag bei den Indikatoren merklich ist, scheint es zudem sinnvoll, auf Berichterstattung gänzlich zu verzichten, wie es einige Redaktionen auch getan haben. Die frei werdenden Kapazitäten können an anderer Stelle genutzt werden, eben zum Beispiel für hintergründigere Berichte.
Mit solchen Anpassungen der Berichterstattung durchbricht Wirtschaftsjournalismus die Grenzen des Wachstums keineswegs – das kann und soll auch nicht sein Ziel sein. Aber die Berichterstattung würde die reale Entwicklung und den Stand der Forschung umfassender abbilden und relevante Aspekte besser als zuvor berücksichtigen. Wie auch immer die Wirtschaft der Zukunft dann aussehen mag.
21 Kommentare
47 Jahren, nicht 37.
Oh ja. Danke für den Hinweis!
Grenzenloses Wachstum findet man auch in der Natur, da führt es aber irgendwann zum Tod:
Krebswachstum, Virenvermehrung, Wucherung von Algen, Essigbakterien in Wein zum Beispiel. Irgendwann führt es zum Tod bzw. Kippen des Wirtes bzw. Mediums, in dem es sich befindet, und letzten Endes dann zum eigenen Tod, wenn kein neuer Wirt/Medium zum erneuten Ausbreiten und Ausbeuten mehr da ist.
Dass Wachstum so oft immer noch als einziger Maßstab für eine gesunde Wirtschaft angesehen wird, zeigt nur, welch perversen Auswüsche der Kapitalismus angenommen hat.
Wenn man sich mal durch die einschlägigen Online-Auftritte der großen Zeitungen googelt, finden sich ja schon einige wachstumskritische Artikel, die zum Teil durchaus überzeugend sind. Wenn es auch meistens Gastbeiträge sind und weniger aus den Wirtschaftsressorts stammen.
Aber ist das nicht ein ganz typisches Problem des heutigen Journalismus? Was würde denn passieren, wenn ein:e Wirtschaftsredakteur:in plötzlich auf Wachstums- und damit Kapitalismuskritik umschwenken würde? Würde so jemand in der Redaktion und dem Umfeld noch ernst genommen? Würde man damit nicht sämtliche Aufstiegsperspektiven verspielen? „Ah, da will wer die DDR zurück?“
Ich glaube wirklich, dass man so grundsätzliche Fragen besser nicht stellen sollte, wenn man es im Leben noch zu was bringen will. man denke nur an den Shitstorm, den Kevin Kühnert geerntet hat, als er mal ganz vorsichtig über Vergesellschaftungen nachgedacht hat. Das macht der bestimmt auch nicht nochmal.
@ Oasenhoheit (#3)
Dass Wachstum so oft immer noch als einziger Maßstab für eine gesunde Wirtschaft angesehen wird, zeigt nur, welch perversen Auswüsche der Kapitalismus angenommen hat.
Mit „perversen Auswüchsen“ hat das wenig zu tun. Es liegt schlicht in der Natur des Kapitals, dass es nur im dauernden Wachstum existieren kann. Geld – Ware – Mehr Geld (bzw. G-W-G‘) heißt die grundlegende Bewegung der Akkumulation bei Marx, und ohne das „Mehr“ würde sich der ganze ökonomische Prozess in ein Logikwölkchen auflösen.
Das ewige „Mehr“ ist auf die Dauer tödlich, aber man kann es nicht wegdiskutieren, indem man isoliert das Wachstum angreift und das BIP durch irgendwelche Glücks- oder Fortschritts-Indizes ersetzt – Wachstum ist nicht Ursache, sondern Symptom. Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Wachstum schweigen.
Wirtschaftsmagazine gehören meist zu privaten, pro-kapitalistischen Verlagen, daher ist eine derartig einseitige Berichterstattung kein Wunder. Wer mal einen anderen Blick haben möchte, für den gibt es die linke Wirtschaftszeitschrift „OXI“.
Sehr empfehlenswert sind auch die Wirtschaftssendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, wie „Plusminus“ oder „WISO“, leider konzentrieren sich diese Sendungen aber eher als Verbrauchermagazine – große wirtschaftspolitische Zusammenhänge sind dort selten ein Thema.
In erster Linie tödlich ist das unkontrollierte Bevölkerungswachstum. Beim Stand von vor 200 Jahren wäre Wirtschaftswachstum einfach nur nützlich. Der aktuelle Stand der Wirtschaftswissenschaften ist leider immer noch der von vor 200 Jahren und ebenso der Wirtschaftsjournalismus. Wirtschaft dreht sich nach wie vor ausschließlich um sich selbst und ignoriert konsequent ihren wachsenden, mittlerweile zerstörerischen Einfluss auf die Umwelt und die sozialen Strukturen.
Man kann leider nicht von Journalisten erwarten, dass sie schlauer sind als der Durchschnitt der Gesellschaft, auch wenn sie seinen nichtdurchschnittlichen Job machen bzw Beruf gewählt haben.
Es gibt viele Menschen, wohl der Durchschnitt der Gesellschaft, die Wachstum als das primäre Ziel sehen, da sie sich nicht vorstellen können, in der Rezession oder im Rückgang der Wirtschaftsleistung noch Glück zu finden.
Bei mir zum Beispiel ging die letzte globale Wirtschaftstkrise spurlos vorbei.
@ Civichief (#8)
Es gibt viele Menschen, wohl der Durchschnitt der Gesellschaft, die Wachstum als das primäre Ziel sehen, da sie sich nicht vorstellen können, in der Rezession oder im Rückgang der Wirtschaftsleistung noch Glück zu finden.
Nochmal (siehe Beitrag #5): Das Problem ist kein Mangel an Glaube, dass man auch ohne Wachstum glücklich sein könne. Das ist ein blinder Fleck bei der Wachstumskritik: Die stellt sich immer vor, wenn das Wachstum wegbliebe, dann bleibe halt alles, wie es ist. Und wenn das BIP um 10 Prozent fällt, dann wäre es halt so, wie es vor fünf oder sechs Jahren war – und das war doch auch nicht groß anders. Also müsse man den Leuten doch nur diese ungesunde Fixiertheit auf’s Wachstum abgewöhnen, oder?
Nee, denn so funktioniert das Ganze nicht. Solange Kapitalismus herrscht, geht es nur mit Wachstum, denn der einzige Zweck des Kapitalismus besteht darin, Geld in mehr Geld zu verwandeln – ohne Wachstum kein Kapitalismus. Bleibt das Wachstum über mehr als ein paar Jahre aus, bricht die gesamte Verwertungskette von der Produktion bis zum Finanzkapital in sich zusammen. Folge: Pleitewellen, Kreditklemmen, Massenarbeitslosigkeit, Kollaps des Sozialstaates, etc.
Das ist ein echtes Dilemma: Mit Wachstum zerstören wir die Natur, ohne Wachstum zerstört sich die kapitalistische Gesellschaft selbst. Das eine passiert schleichend, das andere schlagartig. Wie man da raus kommt weiß ich nicht. Der Vorschlag, statt des BIP lieber das „Glück“ zu messen, ist jedenfalls keine Lösung (zumal die Vorstellung, Glück sei quantifizierbar wie Geld, ohnehin durch und durch neoliberal ist).
Nachtrag @ Civichief (#5)
Bei mir zum Beispiel ging die letzte globale Wirtschaftstkrise spurlos vorbei.
Die Zahl der Hungernden ist 2008 weltweit um 100 Mio. Menschen gestiegen. Aber die waren wahrscheinlich ideologisch zu sehr auf’s Wachstum fixiert, um das Glück zu begreifen, das im Weniger liegt…
Glück ist nicht per se quantifizierbar, das ist natürlich wie beschrieben eine Krücke, aber eben eine notwendige.
Aber die soziale Marktwirtschaft ist durchaus ohne Wachstum realisierbar, das haben Tim Jackson und Co. schon intensiv ausgearbeitet. Insofern: Nein, das ist kein blinder Fleck. Niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt sagt, dass es reicht einfach nicht mehr zu wachsen und alles passt.
Fein, eine sehr gute Idee, das mal aufzugreifen.
@KRITISCHER KRITIKER
Wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass das Überleben der Menschheit von einer intakten Natur abhängt, sollten wir uns ernsthaft die Frage stellen, was von den „Errungenschaften“ des Kapitalismus (sinnfreier Konsum von unnützen Produkten und Dienstleistungen) wirklich notwendig oder auch nur nützlich ist und was wir verlören, wenn dieses System zusammenbräche. Und wir sollten uns klarmachen, dass nicht ein einziger Hungernder satt wird, wenn wir Autos und Computer kaufen und zwei mal im Jahr in Urlaub fliegen.
@Siegfried Schaupp
„In erster Linie tödlich ist das unkontrollierte Bevölkerungswachstum.“
Auch in absoluten Zahlen sinkt das Bevölkerungswachstum seit einigen Jahren. 2019 werden rund 10 Mio. weniger Kinder geboren als 1990.
Die globale Geburtenziffer liegt mit mit ca. 2,4 nur noch wenig über der Erhaltungsrate – das derzeitige Bevölkerungswachstum resultiert also vorwiegend aus der nahezu weltweit steigenden Lebenserwartung und nicht aus vielen Geburten.
@ Frederic Servatius (#11)
Aber die soziale Marktwirtschaft ist durchaus ohne Wachstum realisierbar, das haben Tim Jackson und Co. schon intensiv ausgearbeitet. Insofern: Nein, das ist kein blinder Fleck.
Jackson & Co. rechnen andere Modelle durch. Das funktioniert. Worauf sie notwendigerweise keine Antwort geben können, ist die Frage der Transformation – also wie man vom Kapitalismus zu diesem neuen Modell kommt. Denn der Kapitalismus beschränkt sich eben nicht auf die bloße Marktsphäre, die sich relativ einfach anders regulieren ließe; er ist ein globales Macht- und Gewaltverhältnis, dass die Menschheit in den letzten 200 Jahren vom Welthandel bis in die Psyche des Einzelnen durchdrungen hat.
@ Siegfried Schaupp (#13):
Sie betrachten die Sache als moralische Frage: Der Einzelne soll sich klar machen, dass er nicht immer mehr braucht, um glücklich zu sein. Das ist aber nicht das Problem. Der „Sinn“ des sinnfreien Konsums besteht einzig darin, den Motor des Kapitals am Laufen zu halten. Wer meint, man könne diesen Motor einfach abschalten, macht sich keine Vorstellung davon, was er alles antreibt.
Jede Lebensregung in der modernen Gesellschaft ist von seiner reibungslosen Arbeit abhängig. Gleichzeitig verbraucht dieser Motor Mensch und Natur – und der Verbrauch steigt exponentiell, während die Leistung tendentiell stagniert. Adorno schrieb einmal: „Der Prozess zehrt davon, dass die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken.“ Das ist das Dilemma, das ich meinte. Mit einer „Wir sollten uns mal überlegen, ob wir ständig neue Handys brauchen“-Haltung kommt man dem nicht bei.
@Kritischer Kritiker (#15)
Das ist mir zu abstrakt. Was soll ein „globales Gewalt- und Machtverhältnis“ sein und wo muss es geändert werden, damit Jacksons Modellierung funktioniert? Ich kann da beim besten Willen keinen blinden Fleck erkennen, auch wenn ich Jackson in vielem nicht zustimme.
@nr 14:
nur zur Klarstellung: das Wachstum sinkt – stagniert aber nicht. Die Weltbevölkerung steigt nach wie vor – nur nicht mehr so schnell.
@KRITISCHER KRITIKER
Das ist keine moralische, sondern schlicht eine Überlebensfrage. Die meisten Menschen machen sich nicht klar, dass genau die „moderne Gesellschaft“, von der sie glauben, sie sichere ihre Lebensgrundlage, genau diese zerstört. Dieses System generiert und garantiert gerade mal eine von vielen Lebensweisen. Den Leuten fehlt einfach das Vorstellungsvermögen, dass Leben nicht notwendig Konsum und Kapitalakkumulation bedeuten muss. Leben ist nämlich in erster Linie eine biologische Funktion und keine ökonomische. Ein Grund mehr, die Ökonomie nicht das Leben bestimmen zu lassen.
@TM
Es ist völlig unerheblich, ob die Zahl der Menschen, die diesen Planeten kahlfressen und vollscheißen, steigt, weil weniger sterben oder mehr geboren werden. Das Ergebnis ist das gleiche.
Ich selbst bin kein Fachmann auf dem Gebiet Wirtschaft oder Kapitalismus, aber folgendes hatte ich jetzt auch mal als gegeben vorausgesetzt:
„Niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt sagt, dass es reicht einfach nicht mehr zu wachsen und alles passt.“
Es leuchtet mir ein, dass das ständige Wachstum für das bestehende System Voraussetzung sein mag. Umso irrsinniger, dass man auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen ein System fährt, das auf unendliches Wachstum angewiesen ist.
Dass es früher noch gut funktioniert hat, liegt eben auch nur daran, dass wir es schon immer auf Kosten anderer tun und die Umweltschäden einfach ignoriert wurden. Aber die Realität holt uns nun schnell ein.
Bestes Beispiel allein schon, dass der brasilianische Regenwald abgeholzt wird, um den Gensoja anzubauen, mit dem die Rinder in Deutschland gefüttert werden, deren Milch ihre nur dank Subventionen überhaupt überlebensfähigen Bauern zu Spottpreisen an die Molkereien verkaufen müssen, damit diese sie als billigen Rohstoff überall reinmischen können und energieaufwändiges Milchpulver billig ins Ausland exportieren können, um auch noch die Kleinbauern in Afrika zu ruinieren, die mit den Billigpreisen aus europäischer Massentierhaltung nicht mithalten können.
Wenn man sich das Schritt für Schritt anschaut, wie viele dabei auf der Strecke bleiben und ausgebeutet werden, nur damit einzig und allein die Molkereien sich dumm und dusselig verdienen – das viele Tierleid und der enorme Schaden an unserem Planeten noch nicht einmal mit einbezogen – da möchte man nur noch im Strahl kotzen.
Eine Alternative zum aktuellen Wirtschaftssystem stelllt die Gemeinwohlökonomie nach den Vorstellungen von Christian Felber dar. (https://www.ecogood.org/de/). Die Idee der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) beschreibt eine alternative Wirtschaftsordnung zu Kapitalismus und Kommunismus. Sie versteht sich als liberale und ethische Marktwirtschaft, die nicht auf Gewinnstreben und Konkurrenz beruht, sondern auf Gemeinwohl-Streben und Kooperation. Erfolg wird nicht primär an finanziellen Kennzahlen gemessen, sondern mit der Gemeinwohl-Prüfung für Investitionen, mit der Gemeinwohl-Bilanz für Unternehmen und mit dem Gemeinwohl-Produkt für eine Volkswirtschaft. Ziel ist es, die Gesetze der Marktwirtschaft mit den Grundwerten demokratischer Gesellschaften in Übereinstimmung zu bringen. Diese Vision setzt die GWÖ-Bewegung auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene um.
47 Jahren, nicht 37.
Oh ja. Danke für den Hinweis!
Grenzenloses Wachstum findet man auch in der Natur, da führt es aber irgendwann zum Tod:
Krebswachstum, Virenvermehrung, Wucherung von Algen, Essigbakterien in Wein zum Beispiel. Irgendwann führt es zum Tod bzw. Kippen des Wirtes bzw. Mediums, in dem es sich befindet, und letzten Endes dann zum eigenen Tod, wenn kein neuer Wirt/Medium zum erneuten Ausbreiten und Ausbeuten mehr da ist.
Dass Wachstum so oft immer noch als einziger Maßstab für eine gesunde Wirtschaft angesehen wird, zeigt nur, welch perversen Auswüsche der Kapitalismus angenommen hat.
Wenn man sich mal durch die einschlägigen Online-Auftritte der großen Zeitungen googelt, finden sich ja schon einige wachstumskritische Artikel, die zum Teil durchaus überzeugend sind. Wenn es auch meistens Gastbeiträge sind und weniger aus den Wirtschaftsressorts stammen.
Aber ist das nicht ein ganz typisches Problem des heutigen Journalismus? Was würde denn passieren, wenn ein:e Wirtschaftsredakteur:in plötzlich auf Wachstums- und damit Kapitalismuskritik umschwenken würde? Würde so jemand in der Redaktion und dem Umfeld noch ernst genommen? Würde man damit nicht sämtliche Aufstiegsperspektiven verspielen? „Ah, da will wer die DDR zurück?“
Ich glaube wirklich, dass man so grundsätzliche Fragen besser nicht stellen sollte, wenn man es im Leben noch zu was bringen will. man denke nur an den Shitstorm, den Kevin Kühnert geerntet hat, als er mal ganz vorsichtig über Vergesellschaftungen nachgedacht hat. Das macht der bestimmt auch nicht nochmal.
@ Oasenhoheit (#3)
Mit „perversen Auswüchsen“ hat das wenig zu tun. Es liegt schlicht in der Natur des Kapitals, dass es nur im dauernden Wachstum existieren kann. Geld – Ware – Mehr Geld (bzw. G-W-G‘) heißt die grundlegende Bewegung der Akkumulation bei Marx, und ohne das „Mehr“ würde sich der ganze ökonomische Prozess in ein Logikwölkchen auflösen.
Das ewige „Mehr“ ist auf die Dauer tödlich, aber man kann es nicht wegdiskutieren, indem man isoliert das Wachstum angreift und das BIP durch irgendwelche Glücks- oder Fortschritts-Indizes ersetzt – Wachstum ist nicht Ursache, sondern Symptom. Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Wachstum schweigen.
Wirtschaftsmagazine gehören meist zu privaten, pro-kapitalistischen Verlagen, daher ist eine derartig einseitige Berichterstattung kein Wunder. Wer mal einen anderen Blick haben möchte, für den gibt es die linke Wirtschaftszeitschrift „OXI“.
Sehr empfehlenswert sind auch die Wirtschaftssendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, wie „Plusminus“ oder „WISO“, leider konzentrieren sich diese Sendungen aber eher als Verbrauchermagazine – große wirtschaftspolitische Zusammenhänge sind dort selten ein Thema.
In erster Linie tödlich ist das unkontrollierte Bevölkerungswachstum. Beim Stand von vor 200 Jahren wäre Wirtschaftswachstum einfach nur nützlich. Der aktuelle Stand der Wirtschaftswissenschaften ist leider immer noch der von vor 200 Jahren und ebenso der Wirtschaftsjournalismus. Wirtschaft dreht sich nach wie vor ausschließlich um sich selbst und ignoriert konsequent ihren wachsenden, mittlerweile zerstörerischen Einfluss auf die Umwelt und die sozialen Strukturen.
Man kann leider nicht von Journalisten erwarten, dass sie schlauer sind als der Durchschnitt der Gesellschaft, auch wenn sie seinen nichtdurchschnittlichen Job machen bzw Beruf gewählt haben.
Es gibt viele Menschen, wohl der Durchschnitt der Gesellschaft, die Wachstum als das primäre Ziel sehen, da sie sich nicht vorstellen können, in der Rezession oder im Rückgang der Wirtschaftsleistung noch Glück zu finden.
Bei mir zum Beispiel ging die letzte globale Wirtschaftstkrise spurlos vorbei.
@ Civichief (#8)
Nochmal (siehe Beitrag #5): Das Problem ist kein Mangel an Glaube, dass man auch ohne Wachstum glücklich sein könne. Das ist ein blinder Fleck bei der Wachstumskritik: Die stellt sich immer vor, wenn das Wachstum wegbliebe, dann bleibe halt alles, wie es ist. Und wenn das BIP um 10 Prozent fällt, dann wäre es halt so, wie es vor fünf oder sechs Jahren war – und das war doch auch nicht groß anders. Also müsse man den Leuten doch nur diese ungesunde Fixiertheit auf’s Wachstum abgewöhnen, oder?
Nee, denn so funktioniert das Ganze nicht. Solange Kapitalismus herrscht, geht es nur mit Wachstum, denn der einzige Zweck des Kapitalismus besteht darin, Geld in mehr Geld zu verwandeln – ohne Wachstum kein Kapitalismus. Bleibt das Wachstum über mehr als ein paar Jahre aus, bricht die gesamte Verwertungskette von der Produktion bis zum Finanzkapital in sich zusammen. Folge: Pleitewellen, Kreditklemmen, Massenarbeitslosigkeit, Kollaps des Sozialstaates, etc.
Das ist ein echtes Dilemma: Mit Wachstum zerstören wir die Natur, ohne Wachstum zerstört sich die kapitalistische Gesellschaft selbst. Das eine passiert schleichend, das andere schlagartig. Wie man da raus kommt weiß ich nicht. Der Vorschlag, statt des BIP lieber das „Glück“ zu messen, ist jedenfalls keine Lösung (zumal die Vorstellung, Glück sei quantifizierbar wie Geld, ohnehin durch und durch neoliberal ist).
Nachtrag @ Civichief (#5)
Die Zahl der Hungernden ist 2008 weltweit um 100 Mio. Menschen gestiegen. Aber die waren wahrscheinlich ideologisch zu sehr auf’s Wachstum fixiert, um das Glück zu begreifen, das im Weniger liegt…
Glück ist nicht per se quantifizierbar, das ist natürlich wie beschrieben eine Krücke, aber eben eine notwendige.
Aber die soziale Marktwirtschaft ist durchaus ohne Wachstum realisierbar, das haben Tim Jackson und Co. schon intensiv ausgearbeitet. Insofern: Nein, das ist kein blinder Fleck. Niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt sagt, dass es reicht einfach nicht mehr zu wachsen und alles passt.
Fein, eine sehr gute Idee, das mal aufzugreifen.
@KRITISCHER KRITIKER
Wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass das Überleben der Menschheit von einer intakten Natur abhängt, sollten wir uns ernsthaft die Frage stellen, was von den „Errungenschaften“ des Kapitalismus (sinnfreier Konsum von unnützen Produkten und Dienstleistungen) wirklich notwendig oder auch nur nützlich ist und was wir verlören, wenn dieses System zusammenbräche. Und wir sollten uns klarmachen, dass nicht ein einziger Hungernder satt wird, wenn wir Autos und Computer kaufen und zwei mal im Jahr in Urlaub fliegen.
@Siegfried Schaupp
„In erster Linie tödlich ist das unkontrollierte Bevölkerungswachstum.“
Das Bevölkerungswachstum sinkt seit Jahrzehnten.
https://ourworldindata.org/world-population-growth
Auch in absoluten Zahlen sinkt das Bevölkerungswachstum seit einigen Jahren. 2019 werden rund 10 Mio. weniger Kinder geboren als 1990.
Die globale Geburtenziffer liegt mit mit ca. 2,4 nur noch wenig über der Erhaltungsrate – das derzeitige Bevölkerungswachstum resultiert also vorwiegend aus der nahezu weltweit steigenden Lebenserwartung und nicht aus vielen Geburten.
@ Frederic Servatius (#11)
Jackson & Co. rechnen andere Modelle durch. Das funktioniert. Worauf sie notwendigerweise keine Antwort geben können, ist die Frage der Transformation – also wie man vom Kapitalismus zu diesem neuen Modell kommt. Denn der Kapitalismus beschränkt sich eben nicht auf die bloße Marktsphäre, die sich relativ einfach anders regulieren ließe; er ist ein globales Macht- und Gewaltverhältnis, dass die Menschheit in den letzten 200 Jahren vom Welthandel bis in die Psyche des Einzelnen durchdrungen hat.
@ Siegfried Schaupp (#13):
Sie betrachten die Sache als moralische Frage: Der Einzelne soll sich klar machen, dass er nicht immer mehr braucht, um glücklich zu sein. Das ist aber nicht das Problem. Der „Sinn“ des sinnfreien Konsums besteht einzig darin, den Motor des Kapitals am Laufen zu halten. Wer meint, man könne diesen Motor einfach abschalten, macht sich keine Vorstellung davon, was er alles antreibt.
Jede Lebensregung in der modernen Gesellschaft ist von seiner reibungslosen Arbeit abhängig. Gleichzeitig verbraucht dieser Motor Mensch und Natur – und der Verbrauch steigt exponentiell, während die Leistung tendentiell stagniert. Adorno schrieb einmal: „Der Prozess zehrt davon, dass die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken.“ Das ist das Dilemma, das ich meinte. Mit einer „Wir sollten uns mal überlegen, ob wir ständig neue Handys brauchen“-Haltung kommt man dem nicht bei.
@Kritischer Kritiker (#15)
Das ist mir zu abstrakt. Was soll ein „globales Gewalt- und Machtverhältnis“ sein und wo muss es geändert werden, damit Jacksons Modellierung funktioniert? Ich kann da beim besten Willen keinen blinden Fleck erkennen, auch wenn ich Jackson in vielem nicht zustimme.
@nr 14:
nur zur Klarstellung: das Wachstum sinkt – stagniert aber nicht. Die Weltbevölkerung steigt nach wie vor – nur nicht mehr so schnell.
@KRITISCHER KRITIKER
Das ist keine moralische, sondern schlicht eine Überlebensfrage. Die meisten Menschen machen sich nicht klar, dass genau die „moderne Gesellschaft“, von der sie glauben, sie sichere ihre Lebensgrundlage, genau diese zerstört. Dieses System generiert und garantiert gerade mal eine von vielen Lebensweisen. Den Leuten fehlt einfach das Vorstellungsvermögen, dass Leben nicht notwendig Konsum und Kapitalakkumulation bedeuten muss. Leben ist nämlich in erster Linie eine biologische Funktion und keine ökonomische. Ein Grund mehr, die Ökonomie nicht das Leben bestimmen zu lassen.
@TM
Es ist völlig unerheblich, ob die Zahl der Menschen, die diesen Planeten kahlfressen und vollscheißen, steigt, weil weniger sterben oder mehr geboren werden. Das Ergebnis ist das gleiche.
Ich selbst bin kein Fachmann auf dem Gebiet Wirtschaft oder Kapitalismus, aber folgendes hatte ich jetzt auch mal als gegeben vorausgesetzt:
„Niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt sagt, dass es reicht einfach nicht mehr zu wachsen und alles passt.“
Es leuchtet mir ein, dass das ständige Wachstum für das bestehende System Voraussetzung sein mag. Umso irrsinniger, dass man auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen ein System fährt, das auf unendliches Wachstum angewiesen ist.
Dass es früher noch gut funktioniert hat, liegt eben auch nur daran, dass wir es schon immer auf Kosten anderer tun und die Umweltschäden einfach ignoriert wurden. Aber die Realität holt uns nun schnell ein.
Bestes Beispiel allein schon, dass der brasilianische Regenwald abgeholzt wird, um den Gensoja anzubauen, mit dem die Rinder in Deutschland gefüttert werden, deren Milch ihre nur dank Subventionen überhaupt überlebensfähigen Bauern zu Spottpreisen an die Molkereien verkaufen müssen, damit diese sie als billigen Rohstoff überall reinmischen können und energieaufwändiges Milchpulver billig ins Ausland exportieren können, um auch noch die Kleinbauern in Afrika zu ruinieren, die mit den Billigpreisen aus europäischer Massentierhaltung nicht mithalten können.
Wenn man sich das Schritt für Schritt anschaut, wie viele dabei auf der Strecke bleiben und ausgebeutet werden, nur damit einzig und allein die Molkereien sich dumm und dusselig verdienen – das viele Tierleid und der enorme Schaden an unserem Planeten noch nicht einmal mit einbezogen – da möchte man nur noch im Strahl kotzen.
Eine Alternative zum aktuellen Wirtschaftssystem stelllt die Gemeinwohlökonomie nach den Vorstellungen von Christian Felber dar. (https://www.ecogood.org/de/). Die Idee der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) beschreibt eine alternative Wirtschaftsordnung zu Kapitalismus und Kommunismus. Sie versteht sich als liberale und ethische Marktwirtschaft, die nicht auf Gewinnstreben und Konkurrenz beruht, sondern auf Gemeinwohl-Streben und Kooperation. Erfolg wird nicht primär an finanziellen Kennzahlen gemessen, sondern mit der Gemeinwohl-Prüfung für Investitionen, mit der Gemeinwohl-Bilanz für Unternehmen und mit dem Gemeinwohl-Produkt für eine Volkswirtschaft. Ziel ist es, die Gesetze der Marktwirtschaft mit den Grundwerten demokratischer Gesellschaften in Übereinstimmung zu bringen. Diese Vision setzt die GWÖ-Bewegung auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene um.