Podcast-Kritik

„Shocking, Heartbreaking, Transformative“: Eine Podcast-Doku, die Podcast-Dokus hinterfragt

Jess Shane will alles anders machen und das Storytelling neu erfinden. Die Podcasterin hat vor, in „Shocking, Heartbreaking, Transformative“ (kurz SHT) die Lebensgeschichte von vier Menschen zu dokumentieren. Aber nicht so, wie wir das von all den StorytellingFormaten, die seit ein paar Jahren den Podcast-Markt fluten, gewohnt sind.

Shane ruft Menschen auf, sich mit ihren schockierenden, herzzerreißenden, bewegenden Geschichten bei ihr zu melden. Der Clou: Die Personen werden für die Teilnahme an der Doku bezahlt und sollen mitentscheiden, wie ihre Geschichte erzählt wird. Damit will Shane bewusst mit den Regeln der Storytelling-Ökonomie brechen, in der Protagonist*innen und ihre Geschichten nur noch als Rohmaterial behandelt werden, das die Podcast-Produzent*innen nach Gutdünken verwerten.

Die fünfteilige Serie SHT des US-Podcast-Netzwerks Radiotopia ist im Prinzip ein Making of: Es geht nicht nur um die Protagonist*innen, sondern auch Shanes monatelangen Doku-Prozess. SHT ist eine Podcast-Doku über das Podcast-Doku-Machen – und eine Kritik daran. Wer sich auf diese Meta-Ebenen einlässt, bekommt eine unterhaltsame wie lehrreiche Mini-Serie für Podcast-Fans – und erst recht für Podcast-Macher*innen.

Ob zufällig gewählt oder beabsichtigt: Die Abkürzung SHT könnte auch lautmalerisch verstanden werden. Es geht letztendlich um den Sh*t, der hinter den Podcast-Kulissen, über den – „shhht!“ – meistens nur leise oder gar nicht gesprochen wird.

Storytelling ist eine Machtfrage

Wie es sich in jedem guten Storytelling-Podcast gehört, kann Host Jess Shane selbst eine eigene Geschichte anbieten, in der ihre persönliche Motivation für diesen Podcast liegt. Shane ist eine renommierte Audio-Autorin, die nicht nur intime Geschichten anderer Menschen dokumentiert, sondern auch eine eigene autobiografische Geschichte in Podcasts veröffentlicht hat: darüber, wie sie das Tagebuch ihres Freundes gelesen hat, um sich anhand seiner Tagebucheinträge zu verändern.

Als sich eine Fernsehredakteurin aus Hollywood deswegen bei ihr meldet und sie als Protagonistin für eine Doku-Serie gewinnen will, sieht die Podcasterin die Storytelling-Welt plötzlich von der anderen Seite. Sie hört genau die Floskeln, die sie selbst immer benutzt: Erzähl doch deine Geschichte bei uns. Nein, du hast keinerlei Kontrolle, was wir daraus machen. Du gibst alle Rechte an deiner Geschichte ab und bekommst auch kein Geld dafür. Aber du könntest so viele Menschen erreichen. Es kann ja auch befreiend  für dich sein…

Jess Shane wird klar: Obwohl dokumentarische Formate gerne so betont kooperativ auf Menschen zugehen – Storytelling ist Kontrolle. Die Macht bleibt in der Hand des erzählenden Mediums. Das gilt für die Hollywood-Fernseh-Produktionsfirma genauso wie für die Indie-Podcasterin Shane.

Die endgültige Erleuchtung hat Shane dann, als sie mit einer  jungen Sportlerin spricht, über die sie einst ihre allererste Podcast-Doku gemacht hat. Für die Serie hatte Shane damals viel professionelle Anerkennung geerntet – mit ihrer Protagonistin hat sie aber seitdem nie mehr gesprochen. Das um Jahre verspätete Telefonat zwischen den beiden ist einer der schmerzhaftesten, ehrlichsten und unterhaltsamsten Momente des Podcasts. Denn das Feedback der Sportlerin fällt alles andere als schmeichelhaft aus.

Die Heldinnen-Reise ist perfekt: Unsere zweifelnde, unperfekte Reporterin will nun also die Storytelling-Doku-Welt verbessern. Nur stehen jetzt die altgedienten Traditionen und Regeln als Hindernis im Weg. Kann sie es schaffen, bessere Regeln zu finden oder wird sie scheitern?

Neue Regeln, neue Dilemmata

Auch solche vielbemühten Mechanismen und Erzähl-Strukturen wie die der Heldenreise führt Jess Shane in SHT immer wieder vor. Es sind die kleinen selbstironischen und humorigen Momente, die den Podcast davor bewahren, sich wie eine trockene Medienethik-Hausarbeit anzufühlen. Wobei, nebenbei bemerkt, Jess Shane eine lesenswerte Masterarbeit über ihren SHT-Podcast geschrieben hat.

Mit ihren eigenen Erfahrungen und dem frischen Perspektivwechsel will Shane ihren Protagonist*innen im Podcast nicht wieder nur ein abstraktes Versprechen geben, dass sich allein das Erzählen ihrer Geschichte am Ende schon irgendwie auszahlen wird. Um Aufwand und Nutzen für die Porträtierten also besser auszutarieren, zahlt Jess Shane ihren Doku-Teilnehmer*innen einen Stundenlohn: 20 Dollar für jede gemeinsam im Projekt verbrachte Stunde – egal ob bei Aufnahmen, Telefonat oder Treffen.

Die Podcasterin will ihre uneingeschränkte Storytelling-Macht über das Endprodukt abgeben. Aus den Objekten ihrer Doku sollen aktive Mitstreiter*innen mit klaren Rechten werden, die vor Veröffentlichung die finale Version ihrer Podcast-Episoden hören und freigeben müssen. So weit, so idealistisch.

Schleichend zeigt sich im Verlauf des Podcasts, dass die alten Regeln zwar schnell überwunden sind – das heißt aber nicht, dass die neuen Regeln sofort besser funktionieren. Die oft erstmal absurd anmutenden Regel- und Formatbrüche bei SHT demonstrieren, welche Schwächen die gängigen Doku-Prinzipien und journalistischen Gepflogenheiten in der Realität haben. Wie sich dokumentarischer Anspruch und dokumentarische Umsetzung widersprechen können. Und dass diese Widersprüche und Graubereiche selten so sichtbar wie in diesem Podcast werden – und das in einem Genre, das besonders transparent sein will.

Viele Storytelling-Formate heben zum Beispiel immer wieder Werte wie Nähe und Authentizität hervor. Sie sprechen weitaus seltener darüber, wie oft für authentische Audio-Momente manipuliert wird – von der Gesprächsanbahnung über die Interviewführung bis zum Schnitt. Das demonstriert SHT anschaulich in der zweiten Folge, in der ein und dieselbe Interviewstelle in drei verschiedenen Versionen abgespielt wird: als perfekt in das Narrativ eingefügte und stark geschnittene Fassung, als unperfekte und etwas langatmige Aufnahme in Originalversion und dann noch als bis an die Grenzen der Verfälschung produzierte Version mit komplett anderer Anmutung.

Ein erzählerisches Kunstwerk

Mit solchen Experimenten will SHT einerseits unironisch und ohne jede Meta-Ebene als spannende, unterhaltende, anspruchsvolle Storytelling-Doku gehört werden und dabei mit den gängigen Sound-Klischees ebensolcher Podcasts ironisch brechen. Andererseits soll ein Laienpublikum dieses Genres sensibilisiert werden für die ungeschriebenen Regeln und versteckten Mechanismen von Storytelling-Formaten.

Jede Folge setzt dabei einen eigenen medienkritischen Schwerpunkt: Folge 1 behandelt die redaktionelle Auswahl der Menschen mit ihren Geschichten, Folge 2 dreht sich um die Podcast-Aufnahmen sowie die gestalterischen Bearbeitungsprozesse, Folge 3 behandelt die persönlichen und professionellen Aushandlungsprozesse während der Entstehung des Podcasts. Passenderweise ist es Folge 4, ursprünglich als Serienende angelegt, in der die Vierte Wand durchbrochen wird: Wir hören dabei zu, wie die Teilnehmer*innen der Dokumentation zusammen mit der Podcasterin die ersten drei Folgen anhören.

Entgegen der ursprünglichen Ankündigung erscheint am 13. Februar noch eine fünfte Folge. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, aber erzählerisch gelingt SHT hier ein beeindruckendes Kunststück: Die letzte Folge verändert nachträglich die Folgen 3 und 4. Die vielen Schleifen und Ebenen des Podcasts treffen sich in einer spektakulären Folge, die auch ästhetisch die schönste ist. Endlich eine Serie, die mit dem großen Knall endet statt mit einem Knall anzufangen, um dann nur noch auszuklingen.

Storytelling – Wer profitiert hier wirklich?

Eine Kritik, die im Verlauf der Serie besonders deutlich wird: Jess Shane hadert damit, dass Lebensgeschichten und deren Dokumentation zunehmend als kapitalistisches Medienprodukt gesehen werden. Was verändert sich, wenn Redaktionen über den vermuteten Marktwert von Schicksalen urteilen und dann nur die besten Traumata als Erzählungen auf einem voyeuristischen Markt anbieten?

Die philosophischen Betrachtungen reduziert SHT auf die beliebte Frage: Wer profitiert mehr vom etablierten Tauschhandel mit Narrativen. Die Erzählenden? Die Porträtierten? Das Publikum? Jess Shane will mit SHT keine Antworten liefern. Aber sie wirft Fragen auf, die in den vergangenen zehn Jahren der Podcast-Branche viel zu selten diskutiert wurden.

Teils sind es alte Grundsatzfragen, die im Journalismus und im Doku-Genre immer wieder verhandelt werden. Neu ist aber, wie genau und trotzdem unterhaltsam Jess Shane die abstrakten Phänomene zeigen kann. Zum Beispiel die schwierige Balance zwischen menschlicher Nähe und professioneller Distanz.

In Folge 3 verliert sich Shane in Rollenkonflikten. Einerseits will sie als empathischer Mitmensch helfen, wenn sie die obdachlose Judy und ihre Probleme mit den Behörden poträtiert. Andererseits kann und darf die Podcasterin ihre Rolle als Dokumentarin und Autorin nicht komplett aufgeben. Judy macht es zur Bedingung, dass sie sich nur dokumentarisch begleiten lässt, wenn sie Hilfe bekommt. Wer benutzt hier womöglich wen? Ist Judys Geschichte nur ein Mittel zum Zweck für die Doku – oder lässt Judy die Doku nur zu, um Hilfe von der Podcasterin zu bekommen?

Belohnt auch beim zweiten Hören

Die größte Stärke von SHT liegt nicht in der Vermittlung von Medienkompetenz. Dafür setzen Inside-Gags, Anspielungen und Seitenhiebe wahrscheinlich zu viel Kenntnis und Hörerfahrung aus den vergangenen Jahren der Podcast-Branche voraus. Die Nabelschau ist hier trotzdem keine Schwäche. Sondern in genau dieser verkopften Selbstreferenz blüht der Podcast erst so richtig auf – zumindest für eine spitze „Irgendwas mit Medien“-Zielgruppe. Durch die vielen Ebenen und Grundsatzfragen wirkt der Podcast stellenweise sehr dicht. Weswegen die Episoden auch viel Aufmerksamkeit und Lust am Reflektieren einfordern – aber auch belohnen, selbst beim zweiten Hören.

Jess Shane blickt mit SHT schonungslos ehrlich auf ihr eigenes Tun, ihre Branche, ihr Medium. „Shocking, Heartbreaking, Transformative“ funktioniert deswegen viel eher als ein podcast-förmiges Essay für ein Fachpublikum aus Podcast-Macher*innen. Es ist eine desillusionierte, anklagende Kritik an einem der beliebtesten Genres der letzten Jahre: erzählte Audio-Dokumentationen wahrer (Lebens-)Geschichten. Also genau dem, was auch in Deutschland zur Zeit so gerne unter dem Label Storytelling-Podcast nachgefragt und produziert wird.

Gäbe es einen Storytelling-Führerschein – dann wäre „Shocking, Heartbreaking, Transformative“ eine Pflichtveranstaltung für alle Prüflinge.

4 Kommentare

  1. Es freut mich sehr, dass es die Kolumne (wieder/noch?) gibt, wenn auch mutmaßlich „in loser Folge“.
    Als Artikel, der Podcastkritik übt und der besprochene Podcast wiederum Mechanismen des Storytellings transparent macht zahlt er auch hübsch doppelt ein, aufs übermediale Konto.
    Persönlich finde ich, der Artikel könnte kürzer sein – aber das denke ich ca. von Zweidrittel der Übermedien-Artikel und sagt evtl mehr über mich aus als über die Artikel.

  2. So viele kluge Ansätze, die SHT hier verwebt.
    Danke für die tolle Analyse und Bewertung.
    Spannend, dass in diesem Versuchsaufbau auffällt, was bei vielen Storytellingformaten irritiert: weil eben simuliert, gestretcht und auch gebogen wird, alles für den Effekt.
    Must hear/must read für alle, die damit in irgendeiner Weise zu tun haben.

  3. Danke für den netten Kommentar, „lose Folge“ ist eine schöne Formulierung! Was die Länge des Textes betrifft, nehme ich das Feedback gerne an. Ich sage mal so: Meine Texte kommen meist noch ein ganzes Stück länger in der Redaktion an und das Übermedien-Team kürzt und redigiert hervorragend.

  4. Danke für den Hinweis. Sollte man als Podcastmensch auf jeden Fall gehört haben. Dass die Nabelschau keine Schwäche ist, habe ich allerdings nicht durchgängig so empfunden – streckenweise fand ich die Folgen auf unangenehme Weise larmoyant. Aber Folge 5 ist tatsächlich ein sehr gelungener Abschluss, der ja auch genau dieses Problem noch mal thematisiert.

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