Anti-Zeitgeist-Projekt: Eine Zeitschrift über Mensch und Maschine
„Es ist ein bisschen so wie mit der KI selbst: irgendwann verselbständigt sich das System und man kann nicht mehr zurück“, sagt Rebekka Reinhard. Bei ihr heißt das, jederzeit über die Risiken einer Neublattgründung referieren zu können – ob morgens beim Kaffee oder nachts um drei. Ein neues Magazin? In. diesen. Zeiten? Werden doch Magazine nicht nur wie Einzelhandelsgeschäfte in der Innenstadt geschlossen – es machen ganze Straßenzüge dicht. Gruner & Jahr hat das vermutlich traurigste Jahr seit Beginn der Verlagsgeschichte hinter sich: „Eltern“, „PM“, „Barbara“ – alle futsch beziehungsweise verkauft. Aber die Reinhard gründet ein Magazin. Und auch noch ein Printmagazin. Ohne Sponsor! Ja, spinnt die?
Vielleicht ist das die einzige Art und Weise wie man den Zeitschriftensterben begegnen kann: wacker gegen an gründen, Kleinredaktionen aufbauen und das Konzept so agil gestalten, als wäre es ein Startup. Vier Monate Gründungszeit, vier Mitarbeiter, viel Nachtarbeit, 100 Seiten.
Monothematisches Anti-Zeitgeist-Projekt
Am 17.7. erscheint das neue Magazin „human“, das sich konzeptionell ähnlich wie „mare“ oder „Brand eins“ einem Thema nähert und dieses aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. „human“ stellt die Künstliche Intelligenz in den Mittelpunkt, in der ersten Ausgabe sind die Schwerpunkte Gesundheit, Robotics und Finanzen. „Gerade weil KI nicht funktioniert ohne den Aspekt der Humanität, der Menschlichkeit, haben wir das Magazin so genannt“, sagt Reinhard. Die erste Ausgabe von „human“ erscheint in einer Auflage von 40.000 in der Holderstock Media GmbH.
Wenn das Heft angenommen wird, ist für November die zweite Ausgabe geplant und von da an soll es quartalsmäßig weitergehen. Für die kommenden Ausgaben wünscht man derzeit allerdings noch monetäre Unterstützer, also Sponsoren oder Multiplikatoren. So ganz wird es auf Dauer ohne Zuschuss nicht gehen können, wenn man Freie beauftragen will. Es ist ein ebenso wagemutiges, wie verrücktes Anti-Zeitgeist-Projekt.
Vielleicht ist es das auch deshalb, weil Reinhard selbst ein bisschen aus der Zeit gefallen ist. Sie weiß: Sie ist selbst eine Zeitgeistprovokation auf zwei Beinen. Als promovierte Philosophin ist sie es gewohnt, den ganz großen Bogen zu spannen. Nie im selben Jahrhundert verweilen, nie die eigene Kultur als einzige Referenz nehmen.
„Wir leben doch gerade in polykrisenhaften Zeiten“, sagt sie. Bei ihrem Sprechtempo hat man gerade so Zeit zu denken, „och, die sind aber auch in drei Zehntel-Sekunden wieder vorbei“, da redet sie schon weiter: „Gerade diese Krisen kann man mit den Mitteln der KI bändigen. Wir dürfen diese Entwicklung nur nicht ebenso verschlafen wie wir erst neulich die Entwicklung der Digitalisierung verschlafen haben.“
Zusammen mit ihrem Mann und Kollegen Thomas Vasek hat sie bis zum Winter 2022 noch bei „Hohe Luft“ (EMOTION Verlag) gearbeitet, bis sich Verlag und Reinhard/ Vasek, vermutlich aus Einzelhandelsschließungsgründen, siehe oben, entschlossen haben, künftig getrennte Wege zu gehen. Über die Details schweigen sich die beiden Schnellfeuergewehre – auch Vasek rattert rhetorisch, als würde es morgen verboten werden, den Mund zu bewegen – aus, sagen zu „Hohe Luft“ beide: nichts. Manchmal ist ein höfliches Schweigen beredter.
„Mach es – oder lass es.“
2023 stand der Plan fest: wir gründen. Rebekka Reinhard nahm Mut, Erfahrung und eine mittelhohe fünfstellige Summe und fing an, potenzielle Sponsoren abzutelefonieren. „Ich habe keine Kinder, ,human‘ ist jetzt meins“, sagt sie. Man ahnt, dass Kindermachen mitunter leichter und schneller geht als ein Magazin zu gründen.
In Deutschland gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg keine Presseförderung. Wer eine Zeitung, eine Zeitschrift gründen will, darf das gern tun, aber ohne Unterstützung vom Staat. „Wenn ich eine Schmink-App gegründet hätte, hätte ich einen guten Gründungszuschuss bekommen“, erzählt Reinhard, „und auch wenn wir eine Messe, einen Treffpunkt, eventuell Produkte (USB-Sticks, Laptop-Taschen, Firlefanz) zum Heft gegründet hätten, wäre es leicht gewesen, zusätzliche Gelder auch von Stiftungen oder Forschungseinrichtungen locker zu machen.“ So aber, nur als Heft, gebe es nur eine Option: „Mach es – oder lass es.“
Für Reinhard eine vertraute Wahl. Wer Philosophie studiert, wird quasi ab dem ersten Semester gefragt: „Ja, und wovon lebst du?“ Reinhard lebt ganz gut von Büchern, Speaker-Tätigkeiten und Artikeln, die sie schreibt. Sie hat sich eingerichtet als nicht-journalistische Journalistin, die noch vogelfreier als ein Freier für den monatlichen Unterhalt akquirieren muss. Und vielleicht erklärt das auch den Wagemut, ein Heft zu gründen und das Andersdenker-Prinzip publizistisch zu verwerten, das sich durch viele Themen im Heft zieht.
Keine Nerd-Themen
So gibt es ein Interview mit einer jungen Gründerin, Mina Saidze, die 2021 vom Magazin „Forbes“ zu den „30 under 30“ gekürt wurde. Die junge Afghanin kam in den 90er Jahren mit ihren Eltern nach Hamburg und erlebte, was es heißt, zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen. Heute transformiert sie diese interkulturelle „zwischen Baum und Borke“-Kompetenz auf moderne Bilderkennungsprogramme. Gebe ich „Arbeit und Hand“ in den Computer, wird fast automatisch dafür gesorgt, dass eine männliche, weiße Hand gezeigt wird. Ginge es nach Saidze, ist es höchste Zeit, auch eine dunkelfarbige, weibliche oder diverse Hand zu zeigen und nicht nur die per Algorithmus generierte, häufige, weiße Männerhand. Das ist der weite Bogen, den Reinhard in ihrem Heft spannen möchte: von der Erfahrung eines geflüchteten Mädchens zu einer Unternehmerin-Philosophie. Anders denken.
Und so sind die Themen im Heft auch keine Nerd-Themen, sondern zeigen eher, wie sehr diese neue Technologie unser aller Leben auch vereinfachen wird. Beispiel Krieg: Wie kann man KI einsetzen, ohne Soldaten gefährden zu müssen? Beispiel Medizin: Wie kann KI bei der Diagnostik helfen, so dass dem Arzt viel Zeit für die Arzt-Patientengespräche bleiben? Beispiel Schule: Wie kann man den Lehrer unterstützen, beispielsweise bei Schülern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche, ohne ihn zu ersetzen? (Es wäre nur ein bisschen absurd zu spekulieren, dass sie demnächst auch KI-Sextipps oder Schminken mit KI abdruckten.) All diese Themen werden im Heft behandelt, so dass schnell klar wird: „human“ will wirklich kein zweites „Technology Review“ werden.
Kollege ChatGPT
Genau das ist das Konzept von „human“: Keine Angst vor KI, sondern ran an das Potential. Reinhard möchte ein Heft machen, das ohne ubiquitärem Weltpessimismus auskommt, ohne Technik-Geschunkel und auch ohne die üblichen verdächtigen IT-Erklärbären. „Wir wollen ein Heft machen, das ohne die Sascha Lobos dieser Republik auskommt“, sagt Reinhard, „stattdessen fräsen wir uns in die junge Startup-Szene ein, die uns die Vorteile von KI erklären kann ohne zu bevormunden, aber auch ohne das sonst übliche Angst-Schüren. ,human‘ kommt gänzlich ohne Weltuntergangsstimmung aus, sondern versucht stattdessen Lust auf ein neues Zeitalter zu machen.“
Auch auf ein Zeitalter mit neuen Arbeitstechniken. Auf der Website von „human“ findet sich auf der Team-Seite der Hinweis, wie die Redaktion künftig mit dem neuen Kollegen ChatGPT umgehen möchte – nämlich wie mit einem besonders sorgfältig zu prüfenden Mitarbeiter.
Ist das jetzt der offizielle Beginn der KI-Kollegen?
„In der Startausgabe haben wir teils ChatGPT Version 3.5, hauptsächlich 4 als Lieferant für Anregungen und Ideen für Texte benutzt – aber nicht für faktische Recherche“, sagt Reinhard und führt aus, dass sie bislang auf KI-geschriebene Essays im Heft verzichten würden. „Natürlich haben wir alle KI-generierten Ideen auf Stringenz und Richtigkeit überprüft – in Einklang mit unserem Ethikkodex im Magazin. Wir haben keine Plugins und Web-Browsing-Funktion, also Bing, eingesetzt. In einem Fall haben wir ein ‚Interview‘ mit ChatGPT zum Thema Intelligenz geführt.“
Zielgruppe: White-Collar
Im Heft gibt es fünf Rubriken: Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Wissen und Kultur. Und wahrscheinlich würde es auch bald „die schönsten Spargelrezepte, erdacht von der KI“ geben, wenn es nicht zu profan wäre. Reinhard will kein Nerd-Heft machen und vielleicht liegt genau darin die Chance, zu funktionieren. Es geht um einen Weltblick auf dieses Thema, nicht um eine punktuelle Sensation oder Panikmache. „Damit nimmt man den Menschen, den Nutzen zu erkennen“, sagt Reinhard, „die Technologie wird ja nicht einfach so wieder verschwinden. Also machen wir das Beste daraus.“
„human“ ist ein Schritt auf dem Weg dorthin und gedacht für die Zielgruppe, die sich in den letzten Jahrzehnten vermutlich am wenigsten verändern mussten: Wirtschaftsentscheider, Zukunftsthemen-Interessierte, Gutbetuchte. Kurz: die White-Collar-Branche. Das große Experiment wird sein, ob es genau diese Zielgruppe ist, die diese Gedankentransformation hinbekommt – Künstliche Intelligenz und trotzdem ein Printmagazin. „Diese Zielgruppe will etwas in den Händen halten“, sagt Reinhard, „man liest nämlich genauer, gründlicher und angstfreier, wenn man etwas Haptisches in den Händen hält und nicht am Smartphone überfliegt. Und das wissen vor allem die jungen ITler und nutzen das.“
„Es ist keine Schande, nichts zu wissen, wohl aber, nichts lernen zu wollen.“ Sagt nicht Reinhard, sagt Platon. Aber Reinhard hat ihn genau studiert.
Die Autorin
Katrin Wilkens, Jahrgang 1971, hat Rhetorik studiert und beim Heidelberger „kress report“ volontiert. Dort hat sie noch vom Gründer des Branchenmagazin, Günther Kress, gelernt, dass man in Reportagen niemals „Bereich“ schreiben darf („Bettnässer-Rhetorik“) und dass „rasant“ das Gegenteil dessen meint, was man gemeinhin denkt. Seit 2000 schreibt sie als freiberufliche Journalistin u.a. für den „Spiegel“ und die „Zeit“.
Wow. Bewundernswert mutig, ich traue mich sowas nicht. Einen Käufer fürs Heft hat sie sicher.
Etwas stutzig macht mich, dass im gleichen Verlag ‚Tichys Einblick‘ erscheint. Aber ich werd’s trotzdem mal lesen.
Liest sich für mich ein wenig zu sehr wie Werbung: Tolle Unternehmerin, sehr mutig, studierte Platon. Ob ich deshalb regelmäßig ein Magazin über Kollegen ChatGPT lesen mag, weiß ich nicht. Vielleicht bin ich nicht white collar enough.
Nun ist die Digitalisierung ja nicht deshalb verpennt worden, weil es keine hyperoptimistischen Nischenprodukte aus der Startup Ecke gegeben hätte.
Sorry, aber ein Magazin, dass sich in einer Reihe mit „Tichy’s Einblick“, einem Asset Management Magazin und einem unjournalistischen Produkt wie „Wohlstand für alle“ (in Zusammenarbeit mit der Ludwig Erhard Stiftung) wohlfuehlt wuensche ich nun grad keinen Erfolg. Mag sein, dass Katrin und Rebekka sich kennen, aber ein Verlag der mit „Events und Services mit dem Fokus auf institutionelle Investoren, Vermögensverwalter, Private-Wealth-Manager und Finanzberater“ wirbt wird doch bei Uebermedien sonst eher kritisiert als beworben…
@5: Da ist sie wieder: die „Kontaktschuld“. Kann man „human“ nicht für sich bewerten?
Ich finde den Artikel für Übermedien-Verhältnisse auch irritierend unkritisch und werbeblockmäßig. Muss ja jetzt kein genialer Abriss á la Bahnhofskiosk-Pantelouris sein (miss him deeply), aber mehr Distanz und weniger Verherrlichung wünsche ich mir hier schon.
Die Agenda der Zeitschrift hört sich gut an, aber das Cover ist m.E. total unsexy.