In dieser Rubrik geben wir Autorinnen und Autoren die Gelegenheit, über ihr persönliches Hasswort zu schimpfen. Eine Redewendung oder Formulierung, die nervt, sinnlos ist oder falsch eingesetzt wird – die aber ständig auftaucht, in Texten, im Radio oder im Fernsehen. Alle Hasswörter finden Sie hier.
Reifeprüfung
Wenn Journalist:innen Zeilen machen, wie sie es nennen, wenn sie Artikel mit Überschriften versehen, haben sie ein hohes Bedürfnis nach Wortwitzen. Sogar die Zeitschrift „Test“ der Stiftung Warentest, bierernst in der Notengebung, haut in ihren Überschriften gerne mal einen raus. In der aktuellen Ausgabe des Monats April finden sich gleich mehrere wortspielerische Titel. Wo über wassersparende Duschköpfe berichtet wird, steht „Duschen mit Köpfchen“, über den Buchsen für Laptops steht „Anschluss gesucht“ und über den Rasenmähern „Abschnittsgefährten“.
Sehr häufig finden sich Überschriften, in denen die das Wort Lehre durch Leere ersetzt wird. So sei die „Forschung und Leere“ in der „Westfälischen Rundschau“ 2020 die beste Überschrift des Jahres gewesen, behauptet der sich mit diesem Urteil selbst unglaubhaft machende Verein Deutsche Sprache. Er würde hier aus Gründen der Bedeutungslosigkeit nicht erwähnt, wäre der Preis nicht mit der Begründung verliehen worden, das Wortspiel sei zwar „nicht neu“, habe aber „noch nie so gut gepasst“.
Nicht neu, aber nie so passend – das denken sich womöglich auch alle Redakteurinnen und Redakteure, die einem Artikel die Überschrift „Die Reifeprüfung“ geben. Und diese sind zahlreich. Sehr zahlreich. So zahlreich, dass es unmöglich ist, all diese Überschriften zu zählen.
Zu Käse passt’s immer
Laut der Pressedatenbank Genios wählte zuletzt etwa die Schweizer Zeitschrift „Style“ die Überschrift „Reifeprüfung“ (30. März 2023), da ging es um Schauspielerinnen, die schon etwas älter sind. Im Berliner „Tagesspiegel“ ging es am 7. März 2023 um die die Band „Die Sterne“ und in den „Nürnberger Nachrichten“ um die Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux (24. Januar 2023). Ebenfalls aus diesem Jahr: ein Artikel in der Zeitschrift „Bella“ (es ging um Bananen), und im „Lifestyle“-Magazin „Rondo Exklusiv“ wies der Titel „Reifeprüfung“ im Inhaltsverzeichnis auf einen Artikel über Käse hin.
Allein mit Käsetexten, die den Titel „Reifeprüfung“ tragen, ließe sich eine sehr lange Liste schreiben.
Kaum eine Qualitätszeitung hat in den vorigen Jahren auf die Überschrift „Die Reifeprüfung“ verzichtet . Auch nicht die „Zeit“, für die ich schreibe. „Die Reifeprüfung“ passt zu oft scheinbar gut oder sogar bestens, weil fast alles und alle im Laufe der Zeit älter und damit potentiell reifer werden – auch Karpfen, Greta Thunberg oder die drei Frauen Claudia Schiffer, Bärbel Bohley und Nadja Benaissa gemeinsam. Alle diese Beispiele stammen aus der „Süddeutschen Zeitung“.
Auch die Zeitschrift „Test“ benutzte die Überschrift einmal, als es um Oliven ging, und man kann ihr zumindest zugute halten, dass da wirklich geprüft wurde. Ansonsten ist eine Prüfung nicht unbedingt Voraussetzung für die Wahl der Überschrift. Beim „Spiegel“ finden sich 14 Artikel mit exakt der Überschrift „Die Reifeprüfung“. Mal geht es um Schüler während der Pandemie, mal um einen Kollegen, der den Führerschein noch mal machen wollte, mal um Obama, mal ums Älterwerden, im Jahr 2004 auch mal um die Ukraine und ihr Verhältnis zu Russland, 2001 um eine Kritik eines Films über einen liebeskranken Zivi.
Reifeprüfungen vom Kap bis in die Arktis
So um die Jahrtausendwende erlebte die „Reifeprüfung“ als Überschrift ihren Durchbruch, vielleicht spielte der digitale Journalismus eine Rolle (wegen des größeren Überschriftenbedarfs und größerer Lockerheit). Und seither gibt es kein Halten mehr: Es finden sich im „Spiegel“ auch Varianten mit geografischen Ergänzungen, die „Reifeprüfung in Afrika“, „Reifeprüfung am Polarkreis“, „Reifeprüfung für die Türken“, „Reifeprüfung am Kap“. Auch Individuen mussten Reifeprüfungen absolvieren: „Lena besteht die Reifeprüfung“ (2010, gemeint: Lena Meyer-Landrut), „Dolls Reifeprüfung“ (2006, gemeint: Fußballtrainer Thomas Doll), „Bibis Reifeprüfung“ (2009, gemeint: Benjamin Netanjahu). Eine „Reifeprüfung im Fass“ gab es und auch eine „Reifeprüfung durch Handauflegen“.
Der Autor
Matthias Stolz, 49, arbeitet als Autor beim „Zeit Magazin“. Er hat die „Zeit“-Rubrik „Deutschlandkarte“ ins Leben gerufen und promoviert derzeit über Daten im Journalismus.
Bestimmt will nicht jeder Journalist, der „Reifeprüfung“ titelt, seine Leser:innen, hihi, an die sexuelle Reife denken lassen. Auf dieser Wortbedeutung, weil da ein junger Mann etwas mit einer älteren Frau hatte, beruhte der deutsche Titel „Die Reifeprüfung“ für den Film, der 1967 im amerikanischen Original „The Graduate“ hieß. Auf dieses Ur-Wortspiel weisen alle Zeilenmacher:innen hin, selbst wenn sie weniger den Film im Kopf haben, sondern nur das Foto auf dem ersten Filmplakat, auf dem Dustin Hoffman als Benjamin Braddock zu sehen ist, wie er auf das Bein von Mrs. Robinson starrt.
Ob überdurchschnittlich viele der „Reifeprüfung“-Überschriften von Männern stammen, erkennt man nicht, da in den Redaktionen meist nicht die Autor:innen die Überschriften machen. Es kümmern sich oft Kolleg:innen, die sich darauf spezialisiert haben, weil sie das gut können. Oder weil sie glauben, das gut zu können.
Einmal, das ist Jahre her, hatte mich mein Vater gefragt, was ich heute so gearbeitet hätte im Büro. Als ich antwortete: „Ich hab Überschriften gemacht“, fand er, der beruflich Häuser baute, dieses Tageswerk so bemerkenswert, dass er mich später noch öfter am Telefon damit aufzog: „Na? Haste wieder Überschriften gemacht?“ Tatsächlich begreifen viele Journalist:innen das Machen einer Überschrift als etwas Glanzvolles. Zeilenmachen – das klingt ja schon wie Filmemachen oder Theatermachen, wie etwas, das den Artikel jedenfalls vollendet, nur weil es oft ganz zum Schluss passiert. Im Lehrbuch „Stilistik für Journalisten“ aus dem Jahr 2010 steht:
„Die Überschrift sollte, wo immer es angeht, nicht bloßes Handwerk, sondern Kunsthandwerk, ja, als Ausdruck von abstrahierender Denkformulierung und von Kreativität, gelegentlich Kunst selber sein.“
Das Originalitäts-Paradox
Möglicherweise sehen das die Zeilenmacher:innen genauso. Sie wollen so unbedingt originell sein, dass ihnen entgeht, dass ein Wortwitz, der schon hunderte Male gemacht wurde, nicht mehr originell ist. Es ist das Originalitäts-Paradox, wie es auch von Friseurläden bekannt ist. Vielleicht sagt sich ja auch ein Friseur, der seinen Laden „Haareszeiten“ nennt, zu sich selbst: nicht neu, aber so gut hat es noch nie gepasst.
Bemerkenswert ist, dass die „Reifeprüfung“ im Sportteil der Zeitung längst eine Heribert-Faßbender-Preis-würdige Floskel geworden ist. Dort taucht sie, anders als im Politikteil oder im Feuilleton, auch in den Artikeln selbst immer wieder auf als ein Begriff, der hier gar nicht mehr als Wortwitz wahrgenommen wird, sondern als eine Umschreibung: für ein Wettkampf, bei dem sich zeigt, ob vergleichsweise junge oder so noch nicht lange zusammen spielende Sportler:innen ihrer Aufgabe gewachsen sind. Trotz der Floskelhaftigkeit in der Sportberichterstattung führt dasselbe Wort an anderer Stelle, über den Artikeln, eine Existenz als eine Hammer-Überschrift, für die man sich selbst oder einander auf die Schultern schlägt. Ein ziemlich erstaunliches Doppelleben. Keine andere Sportlerfloskel hat es so weit nach oben geschafft.
Was die Kirche sagt
Ich kann nicht ausschließen, nicht selbst mal eine Reifeprüfung-Überschrift hervorgebracht zu haben. Eine Zeitlang, Anfang der Nuller Jahre, habe ich regelmäßig Artikel des Gastrokritikers Wolfram Siebeck mit Überschriften versehen, da ging es oft um Käse. Die Gefahr war groß. Auch wenn ich mich, ganz ehrlich, nicht selbst ertappen konnte in den Archiven: Es würde mich nicht wundern, wenn es mir auch mal passiert wäre. Es kann jedem mal passieren. Aber inzwischen, nach mehr als 20 Jahren, wäre es auch nicht so schlimm, wenn durchsickern würde, dass „Die Reifeprüfung“ schon mal da war.
Wer sein berufliches Selbstbewusstsein aus Originalität und Wortwitz schöpft, darf auch mal auf die Kirche hören. Auf der Seite Pfarrbrief-Service.de, eine Initiative der Bistümer mit dem Ziel, bessere Pfarrbriefe hervorzubringen, steht zum Thema Überschrift: „Wortspielereien eignen sich nur, wenn sie auch wirklich originell sind“. Nur. Wirklich. So sei es.
Schön, dass es mal wieder eine Hasswort-Kolumne gibt. Aber „Reifeprüfung“? Für mich ist das zuerst ein aus der Mode geratener Begriff für „Abitur“, der öfter mal in Überschriften auftaucht. Ausgelutscht, zweifellos. Aber hassenswert? Naja, ist halt Geschmackssache.
Jetzt habe ich die ganze Zeit Mrs. Robinson im Kopf, Jesus liebt sie mehr, als sie vermutlich weiß.
Aber ich freue mich trotzdem auf viele weitere Hasswörter! Kann es nie zu viel von geben!
Herr Stolz, die haben die unsäglich oft missbrauchte Wortwitzabwandlung dieser Floskel vergessen, die (mindestens zweimal pro Jahr) hauptsächlich im Schenkelklopfer-Headline Blatt „Auto, Motor und Sport“ vorkommt: Die Reifenprüfung.
@Mycroft:
„Jetzt habe ich die ganze Zeit Mrs. Robinson im Kopf“
Na, besten Dank auch. Das werde ich jetzt drei Tage lang nicht mehr los. Ich empfehle übrigens die Version von den Lemonheads.
Mist Mist Mist, ich jetzt auch. Seufz.
Ist die Verwendung des Begriffs für eine Abschlussprüfung (Abitur) nicht das ursprüngliche Wortspiel? Immerhin gibt es das ja bei Käse, Obst und Gemüse. Eine andere Frage ist natürlich, ob das noch originell ist.
Als Lehrer stehe ich ja bisweilen vor der Aufgabe, die „angemessene Überschrift“ der Schüler_innen zu bewerten. Die neigen zu plakativen Wortspielen und Verkürzungen. Leider kann man heute nur selten sagen, so eine Überschrift sei unpassend, da im Internet, wo dann auch noch Artikel mit mehreren Titeln lanciert werden, der Flachwitz im Titel offenbar geworden ist.
@Patrick Sonnenberg:
„Ist die Verwendung des Begriffs für eine Abschlussprüfung (Abitur) nicht das ursprüngliche Wortspiel?“
Kein Wortspiel, einfach ein (veraltetes) Synonym.
@Alex
Absolut richtig! „Reifenprüfung“, diese Überschrift findet sich alleine bei Genios 124 mal in Überschriften. In der Tat meistens in automobilem Zusammenhang. „ADAC Motorwelt“ ist eine Quelle, aber auch viele, viele Nicht-Autozeitschriften. „Reife Prüfung“, das findet Genios 132 mal. „Unreifeprüfung“: zehn Treffer.
Nun ja, das mag alles für Print gelten, aber Online ist doch der Tod der Zeilen-Wortspiele. Wer googelt Reifeprüfung, wenn es um Bananen, ums Älterwerden oder um Sport geht? Online-Zeilenmacher gucken eher auf Google-Trends als darauf, was den Leser möglicherweise schmunzeln lässt oder ihnen bei den Kollegen Hochachtung angesichts eines gelungenen Wortspiels einbringt. Das finde ich persönlich schade, muss mich aber beim Zeilenmachen dieser Tatsache beugen. Hauptsache, die Keywords sind drin, Witz oder Kreativität sind online nicht gefragt.
Das Hairziehen über Friseursalonnamen missfällt mir aushaarordentlich. Dieser Abschnitt schmälhairt den sonst schnittigen Text. Kamm man machen aber Föhn ist das nicht.
@Orangutanklaus
Haarhaarhaar!
Mein erster Gedanke war der Tatort mit Nastassja Kinski, aber der hiess leider Reifezeugnis…
@Philipp
Für Filme gilt anders als für einzelne Artikel der Titelschutz. Auch Bücher, da gilt der Schutz auch, wurden vergleichsweise selten „Reifeprüfung“ genannt. Eine Ausnahme ist die Autobiographie von Petra Gerster (2007).