Wo man ja wohl noch was sagen dürfen wird: Dem „Tatort“ Münster zum 30.
Im Jahr 2002 wurden auf der „Tatort“-Landkarte drei Schauplätze markiert, die es vorher nicht gegeben hatte. Der NDR erfand Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) für Hannover und Niedersachsen, der SWR verortete Klara Blum (Eva Mattes) in Konstanz am Bodensee, und der WDR schickte Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) in Münster an den Start. Alle drei Teams gibt es bis heute, auch wenn sie eine unterschiedliche Entwicklung genommen haben.
Die des Bodensee-„Tatorts“ (SWR-Redaktion: Ulrich Herrmann) ist bald abgeschlossen, Ende des Jahres wird das Duo Blum und Perlmann (Sebastian Bezzel) mit der 31. Episode aufhören. Es dürfte im imaginären Museum der Sendereihe einen Platz in der Nachbarschaft der Frankfurter Jahre (1985 bis 2001) unter Edgar „Fliege“ Brinkmann (Karl-Heinz von Hassel) bekommen: im Reich der grauen Routine, die an der Vorstellung von so etwas wie „Sehgewohnheit“ vor allem die drei letzten Silben geschätzt hat. Positiv gesprochen haben sich die Blum-„Tatorte“ in eine ambitionslose Unauffälligkeit geschickt, die keine starken negativen Gefühle provoziert und es anderen Filmen der Reihe leicht macht, gut da zu stehen.
Maria Furtwängler ist als Charlotte Lindholm (NDR-Redaktion: Doris Heinze seinerzeit, Christian Granderath heute) seit einiger Zeit in einer Art Altersteilzeit unterwegs: die Zahl der Folgen hat sich reduziert (23 bislang), zugleich haben die Auftritte an repräsentativem Gewicht gewonnen (Doppelfolge, Jubiläumsfolge). Aus einer politischen Perspektive betrachtet ist Furtwängler/Lindholm vom Testimonial der Gleichstellungspolitik Ursula von der Leyens als Familienministerin in den Kabinetten Merkel I und II zu so etwas wie der Bundespräsidentin des im „Tatort“ abgebildeten deutschen Fernsehföderalismus aufgestiegen. Deshalb muss sie natürlich den Feierlichkeiten der 1000. Folge am 13. November beiwohnen (gemeinsam mit Axel Milbergs Borowski aus Kiel).
Münster (WDR-Redaktion: Helga Poche damals, Nina Klamroth heute) ist derweil zum unangefochtenen Darling innerhalb der „Tatort“-Reihe geworden. Der Titel des 30. Falles von Thiel und Boerne, „Feierstunde“, der an diesem Sonntag ausgestrahlt wird, dürfte also auch die runde Zahl selbst meinen. Wer es küchenpsychoanalytisch mag, kann in der Geschichte vom Angriff auf Boerne durch einen zu kurz gekommenen Neider gar die Verarbeitung der erfolgreich abgewendeten Til-Schweiger-Konkurrenz der letzten Zeit erkennen.
Denn die Bundesliga-Ähnlichkeit, die dem „Tatort“ in seiner Gesamtheit Reiz verleiht (und so was wie den Bodensee als Mittelmaß integriert) verleiht, kommt in den hochgerechneten Zuschauerzahlen am deutlichsten zum Ausdruck (auch wenn die für ein nicht von Werbung abhängiges öffentlich-rechtliches Fernsehen eigentlich nicht relevant sind). Beim Eintritt des Kinostars Til Schweiger in die „Tatort“-Sphäre wurde 2013 der vorangegangene Rekordwert aus Münster („Das Wunder von Wolbeck“, 12,19 Millionen Zuschauer) mit 12,57 Millionen übertroffen. Während die Filme aus Münster ihren Fame danach steigerten (geschätzte 13,63 Millionen bei „Schwanensee“), ging es mit der Zuschauergunst für Nikolas Tschiller rapide bergab; für die vierte Episode „Fegefeuer“ wurden im Januar 7,69 Millionen Zuschauer gemeldet, ein Wert aus dem Bereich, in dem die Nervosität steigt bei Redaktionen. Denn – Nachteil des Föderalismus, wenn nichts anderes als Quoten zur Orientierung dienen – letzter will keiner sein.
Für den „Tatort“ auf dem Peak seiner Popularität lässt sich daraus schließen, dass die Addition mit einem Startum wie dem Schweigers nicht zwangsläufig zu noch mehr Popularität führt. Vielleicht funktionieren auch nur gewisse Genres im deutschen Film nicht, also die tiefe Sehnsucht Schweigers nach einem National Action Hero deutscher Zunge, die er über die garantierten Zuschauermengen beim „Tatort“ erneut zu stillen versuchte. Kein Mensch weiß, wie die „Tatort“-Hitlisten aussähen, wenn Nick Tschiller nicht die harte Sau, sondern ein knuffeliger Patchworkpapa wäre, der nach „Honig im Mord“ oder „Zweiohrtätern“ fahnden würde.
Münster unterscheidet sich von den anderen „Tatort“-Schauplätzen zuerst wegen seiner komischen Anteile. Das ist die Innovation, die das Duo Thiel/Boerne zur Reihe beigetragen und die reichlich Nachahmer gefunden hat (Weimar, Saarbrücken, Dresden). Wobei sich an den Epigonen der – in Deutschland grundsätzlich prekären – Idee einer „Krimikomödie“ gerade zeigt, dass allein mit dem Witzemachen noch keine Topquote zu machen ist. Entscheidender ist die politische Kodierung, und insofern ist die eigentliche Innovation von Münster, den Kulturkämpfen, die seit Beginn der neunziger Jahre mit dem Kampfbegriff der „Politischen Korrektheit“ von Konservativen geführt werden, im „Tatort“ ein Zuhause gegeben zu haben.
Die Drehbuchautoren Jan Hinter und Stefan Cantz, die den Schauplatz entworfen und geprägt haben, wussten die Hundepfeife dosiert zu blasen, so dass dem Publikum rasch klar war: Wenn man im „Tatort“ ja noch etwas wird sagen dürfen, dann in Münster. Und zwar auf eine viel elegantere Weise als im Hamburg unter Robert Atzorns Kommissar Jan Casstorff (2001-2008), einer ziemlich mühsamen Type, die grobschlächtig und miesgelaunt die Welt mit ihren Gedanken zur Zeit behelligte. Die Vorfreude auf „Tatort“-Folgen aus Münster wird für Leute, deren größtes Problem „selbsternannte Tugendwächter“ sind und denen der Schweiß den ausbricht, wenn zwei Frauen Protagonisten sind und Witze auf Kosten eines Mannes gemacht werden, genährt von dem Wissen, dass hier alles so ist, wie es immer schon war und doch auch bleiben soll.
Interessanterweise hat sich Münster im Laufe der Jahre nicht radikalisiert – anders als der parallel laufende Diskurs; dass „Gutmensch“ mit der Verspätung von 20 Jahren „Unwort des Jahres“ geworden ist, dürfte die Zeit, die es braucht, damit der verschwiemelte Bocksgesang zum ungeniert völkisch Rumgehate anschwillt, ganz gut beziffern. Das hat einerseits mit der Autorenvielfalt und Apparatgröße zu tun, die „Tatort“-Produktionen von Kolumnen oder Facebook-Post unterscheidet. Andererseits mit den prägnanten Charakteren, die wie auf Autopilot schon Sendboten ihres Auftrags sind, ohne den durch Anspielungen markieren zu müssen; in „Feierstunde“ (Buch: Elke Schuch) gibt es gerade einen Witz eine Bemerkung Boernes über die Körpergröße Frau Hallers (ChrisTine Urspruch).
Das ist die Markenstabilität, die sich Münster in 30 Filmen erarbeitet hat: Es müssen keine sogenannten Inkorrektheiten mehr ausgeteilt werden, um als „inkorrekt“ wahrgenommen zu werden.
„Tatort“: Feierstunde
heute, 20.15 Uhr, Das Erste
Matthias Dell hat 2013 über die kalkulierten Verstöße des Münster-„Tatorts“ gegen die angebliche „Political Correctness“ ein Buch geschrieben: „Herrlich inkorrekt“.
Hmmm, was will uns dieser Artikel sagen ? Mir sagt er nichts, was -zugegebenermaßen- daran liegen könnte, dass ich bereits seit Ende des letzten Jahrhunderts kein TV-Gerät mehr besitze und folglich auch keine ‚Tatorte‘ schaue.
Ein schrecklicher Artikel
Merkwürdige Welt, in der ein Münster-Tatort schon als „inkorrekt“ gilt.
Hmmm, was will uns dieser Kommentar (1) sagen ? Mir sagt er nichts, was -zugegebenermaßen- daran liegen könnte, dass ich mich schon länger darüber wundere, dass Menschen ohne Fernseher unter Artikeln über Fernsehthemen posten, sie könnten damit nichts anfangen, da sie ja schon lange keinen Fernseher mehr hätten. Haben diese Menschen nichts anderes, ja, besseres zu tun? Vermissen sie das Fernsehen gar?
Nikolas, Nicklas, ach, egal wie der richtig heißt, ist ja nur ne kleine Website für Medienkritik hier…
Und auch sonst: ist das Lektorat im Urlaub?
Da hat sich aber jemand redlich Mühe gegeben. Leider machen Satzungetüme allein einen Artikel noch nicht lesenswert. Sonst könnte dieser Artikel groß rauskommen: „Die Vorfreude auf „Tatort“-Folgen aus Münster wird für Leute, deren größtes Problem „selbsternannte Tugendwächter“ sind und denen der Schweiß den ausbricht, wenn zwei Frauen Protagonisten sind und Witze auf Kosten eines Mannes gemacht werden, genährt von dem Wissen, dass hier alles so ist, wie es immer schon war und doch auch bleiben soll.“
So aber leider nur Zeitverschwendung.
@Max: Danke für den Hinweis.
Wie war das nochmal? „Der Schreiber soll sich quälen und nicht der Leser.“ Wird in verschiedenen Abwandlungen Wolf Schneider zugeschrieben.
Bis zum vorletzten Absatz interessant zu lesen, dann ein überraschendes Ende des Artikels, das den Eindruck hinterlässt, man hätte lediglich eine launige Einleitung für eine tiefergehende Analyse des Phänomens »Münster«, »Tatort« oder zumindest des Sprachgebrauchs im Münster-Tatort gelesen und sei dann unsanft um den Rest gebracht worden. Es fühlt sich ein bisschen an wie sechstausend Zeichen Clickbait ;-)
@Rinaldo Rinaldini
Ich würde ja mal mutmaßen, daß Ihr Nickname hier sich einer Serie, die Sie in den späten 60ern oder frühen 70ern in der ARD gesehen haben, verdankt. Also, einer Zeit, als kindlicher TV-Konsum Ihrerseits noch nicht vollends verpönt war.
So inhaltsreich wie Sie könnte ich jederzeit wahnsinnig wichtige Statements zur marx’schen Mehrwerttheorie absondern, obwohl ich da TROTZ Lektüre gewisse Verständnisschwierigkeiten habe.
Hat so was von subtilem Öffentlichkeitsbedürfnis von jemanden, der im HBF FFM einen ziehen läßt und sich darüber ärgert, daß es keiner mitbekommt.
Was treibt Menschen wie Sie eigentlich immer wieder an, in spezialisierten Foren Interessierten mitzuteilen, daß Sie den Inhalt eines Eintrags (In diesem Fall beliebige TV-Themen) sowieso nicht wahrnehmen/wahrgenommen haben? Sie sind ja nun kein Einzelfall. Ist es ein falsch verstandenes Diogenes-Faß-Sonne-Syndrom?
Echt schwer zu lesen …
tl;dr:
Münster Tatort ist erfolgreich, weil er den gesellschatlichen Diskurs PC vs. PI abbildet und dabei ohne Vorfürfe in beide Richtungen auskommt.
Jetzt wäre es doch mal schön gewesen, wenn ich als nicht-so-regelmäßiger Tatortgucker gesagt bekäme, welche Sachen man so beim Münsteraner Tatort noch sagen darf. Dazumals beim Duisburger war’s noch „Scheiße“, das ist es demnach wohl nicht.
Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass die regelmäßigen Tatortgucker wissen, was gemeint ist, und dem Rest kann’s eh‘ egal sein, aber unter der Rubrik „Bahnhofskiosk“ z.B. erfahre ich tatsächlich Dinge über Zeitungen, die ich nie gelesen habe, hier nicht.
@Mycroft: «Man» darf beim Münsteraner Tatort noch alles sagen. Wie kommen sie denn auf die gegenteilige Idee?
@Anderer Max: Fast. Er pfeift schon in die eine Richtung, also gegen „PC“, eher so „PIC“. Beim nächsten Mal wird alles leichter
@9. Philipp
War der Versuch zu beschreiben, wo Münster heute steht. Der „inkorrekte“ Sprachgebrauch hat es groß gemacht, hat aber abgenommen – bei steigenden Quoten. Und einer begleitenden Kritik, die meint, dass es nicht mehr so schön ist wie früher bzw der Münster-„Tatort“ tot ist, wie die gestern die WamS
@MikefromFFM: Die Überschrift suggeriert, dass „man“ beim Münsteraner Tatort (noch) etwas sagen dürfe, das man an (allen?) anderen Stellen nicht (mehr) sagt/sagen darf/soll.
Schimanskygeprägterweise, oder wenn ich raten müsste, wäre „man“ eine oder beide der Hauptfiguren.
Ansonsten wird mir nicht klar, was die Überschrift sonst aussagen soll. *ratlos guck*
@Matthias: Mhm, mir war gar nicht bewusst, dass das solch ein vieldiskutiertes Thema ist (und WamS lese ich auch nicht – leider!). Vielleicht erschien mir dein Artikel daher etwas abrupt beendet, weil ich ihn nicht als Replik auf derartige Kritiken gesehen habe.
Mir ist übrigens auch nie aufgefallen, dass der Münster-Tatort besonders nicht-»pc« sei – mir erschienen selbst die dauernden Sticheleien gegen Dr. Haller eher als Form des Humors, insbesondere da ja schon von Anfang an klar war, dass ihre Körpergröße nun eben kein Maß für ihre Fähigkeiten ist. Aber vielleicht ist es ohnehin müßig, Sachen ernsthaft in die Kategorien »pc« und nicht-»pc« einzuordnen; handelt es sich doch, wie du im Artikel schreibst, um einen Kampfbegriff der Neuen Rechten, der ohne diesen Kontext eigentlich keine Bedeutung hat.
Kann mir jemand erklären, welchen ästhetischen Mehrwert der Autor erzielt, indem er Bedeutungen, für die es deutsche Worte gibt („Gipfel“) durch englische ersetzt (die für mein Dafürhalten ein doch sehr ähnliches Bedeutungsfeld abdecken?). Habe ich schon bei den Tatort-Artikeln im Freitag nie kapiert.
Die „komischen Anteile“ eine „Innovation“ der Tatorte aus Münster?
Sind die Wien-Tatorte von Fritz Eckhardt schon vergessen? Die waren seit 1971 eher Komödie als Krimi (zugegeben: der Humor war von einer anderen Art).
Und selbst zwischen Haferkampf und Kreutzer (1974-1980) gab es (mehr oder weniger) witzige Wortgefechte.
@18. Maike: Ähnlich – ja, gleich – nein. Also: spezifischeres „Bedeutungsfeld“. Aber: was treue Leser wie der Onkel doch registrieren dürften: it gets deutscher every day
@19. Djones
Sind sie nicht, aber wie Sie schreiben: schon ein anderer Humor, auch ein anderes Fernsehen (abgefilmtes Theater). Wenn wir schon in der Geschichte sind: Folge 96, „Der King“, der letzte Fall des Frankfurter Kommissars Konrad (Klaus Höhne), hat einen interessanten Witz, ist gute Komödie (wenn auch anders als Thiel-Boerne jetzt, nämlich nicht nur lustige Sprüche, sondern tatsächlich Form)
@20 Matthias Dell,
alles klar, dann ist Ihr Sprachgefühl einfach feiner. Und yes, it really got deutscher, i assumed that this might have been caused by a strengeres Lektorat.
…irgendwann wird man all dessen überdrüssig. Am gleichen Tag kann ich ja mühelos den(die) Schauspieler(in) in diversen Rollen auf diveren Kanälen sehen. Langweilig…
Immerhin wird Einsplus und ZDFKultur am kommenden WE abgeschaltet.
Den Guido Knopp/Hitler-Kanal lassen sie allerdings, naja.