Skandalöser WM-Ausrichter

Grau malen statt schwarz: Medien sollten nicht ausblenden, was sich in Katar gebessert hat

Wie die Sache läuft, war zu erwarten. Sie läuft ja bereits seit 2010 so. Katar ist böse, ruchlos und menschenverachtend. Korrupte Scheichs, fiese Bosse, schmutziges Geld.

Seit 2018 war ich vier Mal in Katar. Ich habe mehrere Filme gedreht. Und ich sollte mich nun wohl auf vehementen Protest einstellen, weil ich zu meiner eigenen Überraschung nicht nur Sigmar Gabriel beipflichte, der die „deutsche Arroganz gegenüber Qatar“ zum Kotzen findet. Sondern auch – in Teilen – Uli Hoeneß, der meint, man möge „endlich mal akzeptieren“, dass es „den Arbeitern in Katar durch die WM besser und nicht schlechter“ geht.

Verstörend. Wie konnte es soweit kommen?


Jeder, der mit Katar zu tun bekommt, der nach Katar reist, dürfte mit einer ordentlichen Ladung Vorurteile starten. Katar ist ein Land, von dem jeder gehört hat, aber das keiner wirklich kennt. Alle, die noch nie in Katar waren, müssten eigentlich ein Interesse an ausgewogener, fairer Information haben. Interessanterweise war das bei Katar von Anfang an anders.

Das hat mich neugierig gemacht, denn Dinge sind sehr, sehr selten schwarz oder weiß, sondern grau. Grau wie Katar. Doch allein das zu behaupten, sorgt schon für Rechtfertigungsdruck.

Schmieren und geschmiert werden

Mann zieht Karte mit der Aufschrift "Qatar" aus einem Umschlag.
Fifa-Boss Blatter verkündet 2010 die Entscheidung für Katar Foto: IMAGO / Ulmer

2010 bekam Katar den Zuschlag für die WM. In den Augen der meisten Fußball-Fans unmöglich. Ein unwirtlicher Wüstenstaat, Temperaturen von bis zu 50 Grad im Sommer, keine Fußball-Kultur, so wie wir uns das vorstellen. Die Vergabe des Turniers erfolgte unter kuriosen Umständen. Man darf wohl sagen, ein steinreiches Emirat hat sich mit viel Aufwand ein Weltereignis gekauft. Schnell kam deshalb die Forderung nach Boykott auf.

Alles im Prinzip okay, kann man alles so sehen, hat Empörungspotenzial. Nur: Wenn es um fragwürdig vergebene WM-Turniere geht, dürfte die Fairness gebieten, auch die Turniere in Südafrika, Russland und Deutschland ähnlich harsch zu beanstanden. Das passiert aber in der Regel wesentlich kleinlauter und weniger aufgebracht. Wahrscheinlich hat Katar noch mehr Geld fließen lassen als die anderen, aber dass Katar macht, was offenkundig üblich ist, und dass die FIFA den Deal durchwinkt, kann nun wahrlich nicht überraschen. Das ist empörend, aber allen Zorn darüber nun auf Katar abzuladen, erscheint mir ziemlich wählerisch.

Und: Wenn man Katar wegen seiner geographischen Lage und der vermeintlich artifiziellen Fußball-Begeisterung nicht für würdig hält, WM-Gastgeber zu sein, schließt das automatisch weite Teile der Welt aus dem Kreis potenzieller WM-Gastgeber aus. In Frage kommen dann streng genommen nur Staaten aus Europa, Amerika und Teilen Afrikas.

Ich finde eine solche Sichtweise ziemlich egozentrisch. Weshalb sollte man Katar verbieten, sich um eine WM zu bewerben? Man kann natürlich andere Länder für geeigneter halten. Man konnte im Fall der WM 2022 für die Mitbewerber USA, Südkorea, Japan oder Australien sein. Doch wenn die FIFA abstimmt – und wenn man nicht so konsequent ist, das FIFA-Gebaren aus Schmieren und Geschmiertwerden rundheraus abzulehnen – dann kann ich Katar nicht das Ergebnis der Abstimmung vorwerfen.

Fortschritte beim Arbeitsschutz

Schnell richtete sich der öffentliche Fokus dann auf die Situation im Land selbst. Völlig zu Recht werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitsmigrant:innen, insbesondere der Gastarbeiter auf den Baustellen, aufs Schärfste verurteilt. Es besteht kein Zweifel, dass die Situation für Hunderttausende Gastarbeiter:innen, meist aus Bangladesch, Indien und Nepal, in den Jahren rund um die WM-Vergabe katastrophal war. Damals galt noch das Kafala-System, das die Arbeiter quasi zu Leibeigenen ihrer Arbeitgeber machte. In diesem Kontext war das berüchtigte Beckenbauer-Statement, er habe keine Sklaven gesehen, ein Skandal – erst recht wenn man bedenkt, wie sorgfältig sich Katars Staatsführung um ehrenwerte Gäste kümmert.

Was aber hindert Journalist:innnen heute daran, die unbestreitbaren Fortschritte in punkto Arbeitsschutz, Mindestlohn und Mitbestimmung wenigstens zu benennen? Das Tempo dieses Fortschritts mag aus westlicher Sicht dürftig sein; vielleicht ist es das auch tatsächlich, wenn man die schier grenzenlosen wirtschaftlichen Möglichkeiten Katars bedenkt.

Fakt aber ist: Die Bedingungen haben sich für die meisten Arbeiter:innen vor Ort substanziell verbessert. Sie können nun ohne Erlaubnis ihres Arbeitgebers den Job wechseln – und tun das auch zu Hunderttausenden. Es gibt einen Mindestlohn, wenn auch einen schmalen. Es gibt gewählte Arbeitnehmervertreter. Es gibt Arbeitsschutzvorschriften, was das Arbeiten bei Hitze betrifft. Arbeiter:innen haben auch de jure die Möglichkeit, ihre Rechte einzuklagen, auch wenn das de facto (noch) zu oft an verschiedenen Barrieren scheitert. Eine Menge funktioniert also bereits sehr ordentlich; auch wenn es mancherorts noch an der Umsetzung der Vorgaben hapert. Es gibt leider noch zu wenige Kontrolleure, die es schwarzen Schafen schwerer machen.

Bauarbeiter vor der Kulisse von Doha
Bauarbeiter vor der Kulisse von Doha: Szene aus dem Film Mythos Katar – Wüstenstaat der Gegensätze unseres Autors Foto: NDR

Ganz Katar ist eine Baustelle

Übrigens arbeiten von den über zwei Millionen Gastarbeiter:innen in Katar nur weniger als eine Million im Baugewerbe. Statistisch sind mehr als acht von zehn Menschen in Katar Gastarbeiter:innen, das heißt sie sind überall, in allen Jobs, in allen Einkommensgruppen: bei der Polizei, in der Gastronomie, in den Behörden, in der Armee. Hotelmitarbeiter:innen, Banker:innen, Verkäufer:innen, Orchestermusiker:innen, Kamelpfleger:innen. Von all diesen Gastarbeiter:innen mit „normalen“ Jobs ist aber selten die Rede, es wird so gut wie nie differenziert. In der Regel ist von „den Gastarbeitern“ die Rede, bebildert mit verhüllten WM-Bauarbeitern in der gleißenden Sonne.

Es mag ein legitimer journalistischer Reflex sein, das Problematische zu zeigen und nicht das Unbedenkliche, doch die Schieflage ist offenkundig, wenn die Fundamentalkritik an der Hälfte der Gastarbeiterin:innen vorbei zielt.

Darüber hinaus entsteht der verquere Eindruck, die Bauarbeiter im Land seien einzig wegen der WM vor Ort. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Ganz Katar ist eine einzige große Baustelle, das Emirat lässt sich von seinen Gastarbeitern gewissermaßen gerade seine Zukunft bauen für eine Zeit, wenn Öl und Gas alle sind. Die WM kam dann gewissermaßen noch on top und hat die Entwicklung allenfalls beschleunigt. Schätzungsweise zwei bis drei Prozent der Arbeitsmigranten arbeitet auf WM-Baustellen.

Kürzlich tauchte in der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) wieder die mittlerweile schon berüchtigte Zahl auf: 6.500. Sie geht zurück auf Recherchen der britischen Tageszeitung „Guardian“, wonach zwischen 2010 und 2021 rund 6.500 Niedriglohnmigranten in Katar ums Leben gekommen seien. Wer „6.500 Tote Katar“ googelt, stößt auf unzählige Berichte in ungezählten Medien. So wie einst im „Guardian“ und jüngst in der SZ sind die meisten dieser Artikel versehen mit Baustellenbildern. „Auf den Baustellen sind viele Tausend Arbeiter gestorben“, heißt es im SZ-Text. Tatsächlich aber sind die Zahl und die Schlussfolgerungen, die daraus abgeleitet werden, höchst umstritten.

Die Skandalzahl von 6.500 Toten

Der „Guardian“ hatte öffentlich zugängliche Quellen ausgewertet, etwa Sterbestatistiken sowohl aus Katar als auch aus den Heimatländern der Gastarbeiter:innen. Sie lassen jedoch allesamt keine Rückschlüsse auf Todesursachen zu. Mitnichten dürfte es sich immer um Arbeitsunfälle gehandelt haben. Die Zahl soll sich auf einen Teil der südasiatischen Bevölkerung in Katar beziehen, insgesamt 1,4 Millionen Menschen, von denen weniger als die Hälfte im Baugewerbe arbeitet.

Auszug auf einem "Gzardian"-Bericht, Überschrift: "Revealed: 6.500 migrant workers have died in Qatar since World Cup awarded"
„Guardian“-Artikel vom 23.2.2021 Screenshot: „Guardian“

Gerd Nonneman, Professor für Internationale Beziehungen und Golfstudien an der Georgetown University Qatar, sagt: „Wenn man diese 6.500 Toten ins Verhältnis setzt mit irgendeinem einem anderen Land mit einer Bevölkerung von 1,4 Millionen Menschen“, dann dürfte die „Sterblichkeit dort vermutlich wesentlich höher“ sein. Nonneman ist angestellt bei der Georgetown University Washington/USA. Er ist sozusagen abgeordnet an die Zweigstelle in Doha, deren Betrieb in Zehn-Jahres-Vereinbarungen zwischen der Georgetown University und Qatar Foundation ausgehandelt wird; die akademische Freiheit ist im Abkommen verankert.

Ähnliche Angaben wie die von den 6.500 „WM-Toten“ dominieren die Berichterstattung schon seit Jahren. Bereits 2015 hat der internationale Gewerkschaftsbund ITC prognostiziert, dass bis zur WM 7.000 ausländische Arbeiter in Katar sterben werden, hochgerechnet auf der Grundlage von Todesraten, die die katarische Gesundheitsbehörde 2013 veröffentlicht hat. Auch diese Zahl hätte dringend interpretiert gehört, stattdessen wurde sie in den Medien nur skandalisiert.

Der „Guardian“ nennt seine Zahl 6.500 selbst eine „konservative Schätzung“. Man habe zudem niemals behauptet, dass es sich bei den Toten in den zehn Jahren nach der WM-Vergabe allein um Bauarbeiter handle. Doch die Art und Weise der Berichterstattung legt genau diese Deutung nahe. (Die „Süddeutsche Zeitung“ hat inzwischen auch einen Faktencheck veröffentlicht, in dem sie die Zahl einordnet.)

Verbesserte Lage, alte Bilder

Ohne Frage waren die Bedingungen auf katarischen Baustellen grotesk und menschenunwürdig, vermutlich sind sie es mancherorts immer noch. Das macht die Berichterstattung aber nicht weniger irreführend. Zahlen wie die 6.500 sind reine Spekulation. Man darf, man muss Katar dafür kritisieren, dass es in der Dekade seit 2010 keine exakten Zahlen geliefert und Todesfälle von Gastarbeiter:innen unzureichend dokumentiert hat, was sich übrigens auch gerade ändert. Das entbindet aber niemanden von der Pflicht, Zahlen und Bewertungen seriös einzuordnen.

Darüber hinaus sind sich Expert:innen, Wissenschaftler:innen und nicht zuletzt Menschenrechtsorganisationen einig, dass die über 20 Millionen Gastarbeiter:innen in den Nachbarstaaten im Mittleren Osten meist unter eklatant schlechteren Bedingungen arbeiten als die Expats in Katar.

Und die Lage in Katar hat sich verbessert. Nur zwei Beispiele: Die Unterbringungen in Zimmern mit mehr als vier Betten ist verboten. Und das Arbeiten auf Baustellen ist in den Sommermonaten zwischen 11.30 Uhr und 15 Uhr verboten. Das ist ein Fortschritt, der vielen Leser:innen und Zuschauer:innen vorenthalten wird. Stattdessen laufen aktuell wieder Filme und Dokumentationen, die offenkundig Bilder nutzen, die zum Teil einige Jahre alt sind – was okay wäre, würde es korrekt benannt. Aber oft wird ein verfälschender Eindruck leichtfertig in Kauf genommen.

Wie frei kann man berichten?

Ich will nicht den nächsten Beckenbauer machen, doch mit wirklich wenigen Ausnahmen habe ich in diesem Frühjahr auf keiner der unzähligen Baustellen im Land Arbeiter gesehen, die in dieser Zeit malochen mussten. Dazu muss man wissen, dass ich mich bei meinen vier Besuchen in Katar immer frei bewegen und beobachten konnte, was dort passiert.

Das steht den Erfahrungen von anderen Dokumentarfilmern offensichtlich fundamental entgegen – woran das liegt, weiß ich nicht. Ich habe die katarischen Behörden immer sehr frühzeitig darüber informiert, was wir vorhaben und dass wir natürlich auch die beträchtlichen Vorwürfe, den Umgang mit Menschenrechten und Minderheiten etwa, in den Fokus nehmen werden. Ich erinnere mich, dass ich 2018, vor den ersten Dreharbeiten, erwartet habe, dass man mich bei meiner Arbeit behindern würde – und war dann überrascht, dass es nicht so war.

Natürlich gibt es in Katar keine echte Pressefreiheit. Formal muss jeder Fernsehjournalist vorab unterschreiben, tausend Dinge zu unterlassen. Theoretisch bedeutet das, dass jede einzelne und belanglose Straßenaufnahme von jeder Person autorisiert werden müsste, deren Eigentum (Haus, Auto, Turnschuhe) im Bild zu sehen ist. Praktisch sind meine Filme natürlich voll solcher Aufnahmen, ohne Autorisierung.

Zur Wahrheit gehört auch, dass es selbstverständlich Orte gibt, an denen man entweder leicht einen Eklat provozieren kann oder aber verdeckt drehen (lassen) muss. Sämtliche Regierungsgebäude und Ministerien zählen dazu, auch der opulente Palast des Emirs mitten in Doha. Wer sich auffällig mit seinem Kamerateam davor positioniert, wird mit ziemlicher Sicherheit sehr bald am Drehen gehindert. Dasselbe gilt für die Unterkünfte der Gastarbeiter:innen, für die industriellen Gas- und Ölförderanlage, und es galt für die Stadionbaustellen.

Das aufwändige Genehmigungsprozedere in Katar nervt kolossal, die offiziellen Hürden sind in den meisten Fällen auch völlig unverständlich und nicht selten meldet sich nie jemand auf offizielle Anfragen. Unterm Strich aber ist es schließlich so wie vielerorts: Es gibt Mittel und Wege. Und es gab zumindest in meinem Fall keine Aufpasser oder unangenehmen Bewacher, jedenfalls habe ich niemanden bemerkt.

Fortschritte werden weggewischt

Zurück zu den Arbeiter:innenrechten und Arbeitsbedingungen: Auch hier gehört zu einer ausgewogenen Berichterstattung der Hinweis, dass Katar Anstrengungen unternimmt, sich unter anderem mithilfe der International Labour Organization (ILO) der Vereinten Nationen Problemen zu stellen. Die ILO hat gerade erst einen Bericht vorgelegt, der auflistet, was sich schon getan hat und was noch zu tun ist. „Die Maßnahmen haben die Arbeits- und Lebensbedingungen von Hunderttausenden Arbeiten schon verbessert“, schreibt sie, „obwohl dringend zusätzliche Bemühungen nötig sind, um sicherzustellen, dass alle Arbeiter davon profitieren.“

Es erstaunt mich, mit welcher Vehemenz von vielen in den Medien von vornherein ausgeschlossen wird, dass die Variante „Katar kümmert sich“ stimmen könnte. Belege jedenfalls, dass Katar sich nicht kümmert, dass den Scheichs das Schicksal der Gastarbeiter:innen weiter egal ist – oder nur deshalb nicht egal ist, weil schlechte Arbeitsbedingungen der Imagepflege im Wege stehen – fehlen jedoch auch. Dem kommt zupass, dass solche Belege nicht einmal mehr eingefordert werden, weil das Framing vieler Katar-Storys sie offenbar nicht mehr erforderlich macht.

Für mich ist völlig unstrittig, dass es den Gastarbeiter:innen in Katar gerade wegen der WM besser geht. Nicht unbedingt wegen der WM an sich, aber durch den Fokus der Weltöffentlichkeit, in den Katar sich selbst gerückt hat. Klar ist auch, dass es natürlich noch Luft nach oben gibt, es ist ein Prozess. Aber rechtfertig eine klaffende Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit, sämtliche Fortschritte einfach wegzuwischen?

Mir geht es nicht darum, die Verhältnisse in Katar zu beschönigen. Ich wünschte mir nur, dass Medien ein seriöseres, eben ein graues Bild von diesem Land zeichnen und kein automatisch pechschwarzes, wie das in vielen europäischen Medien derzeit passiert. Es geht mir darum, hinzuschauen, was ist – und nicht schon von vornherein zu wissen, dass alles nichts ist.

Apropos Europa: Ich habe in Katar mit Momodu gedreht, einem Gastarbeiter aus Gambia. Momodu hatte, bevor er nach Katar ging, zwei Mal versucht, mit einem Boot von Libyen nach Europa zu kommen. Europa will Leute wie Momodu nicht. In Katar ist er wenigstes willkommen. Wie Hunderttausende anderer Gastarbeiter:innen verdient er dort ein Vielfaches von dem, was er in seiner Heimat verdienen könnte. Auch das gehört zur Realität.

Schwulsein als „geistiger Schaden“

WM-Botschafter Khalid Salman im ZDF-Interview Screenshot: ZDF

Der andere Hauptvorwurf, mit dem Katar sich abseits des Gastarbeiter-Komplexes auseinandersetzen muss, ist der Umgang mit Homosexuellen. Einer von Katars WM-Botschaftern, Khalid Salman, hat das jetzt durch sein Interview im ZDF wieder neu befeuert. Seine kruden Thesen über Schwulsein als „geistigem Schaden“ sind verachtenswert und absurd; es ist ein Segen, dass die große Mehrheit der Deutschen und der Europäer:innen sich darin einig ist. In Katar ist das sicher anders. Mutmaßlich größere Teile der Gesellschaft sind extrem konservativ und stehen einem Fortschritt, der für uns indiskutabel ist, erstmal entgegen. Insofern dürfte Salman mit seiner Meinung nicht alleine sein.

Es leben aber auch in Katar queere Menschen. Professor Nonneman sagt, im Privaten sei das „de facto kein großes Problem“. Jeder habe Freunde, die nicht heterosexuell sind; die gelebte Realität sei da sehr normal. „Die Hauptsache ist, dass du es nicht in der Öffentlichkeit zeigst, damit die zum Teil immer noch sehr konservativen Kreise in der Gesellschaft sich davon nicht beleidigt fühlen.“ Darüber kann man sich nun erregen, und fraglos wünschte man sich, das wäre anders, auch Nonneman wünscht sich das.

Er vermutet aber, „wenn jetzt jemand auf Biegen und Brechen darauf drängt, die Gesetze zu ändern, würde das Problem eher verschlimmert und hätte negative Konsequenzen für die LGBTQ-Community“. Wohingegen es im Alltag im Moment viel Raum gebe, sein Leben zu leben. Aktuell hieße das: Nach außen kuschen und gute Mine machen, sexuelle Selbstbestimmung nur im Privaten. Und auf sukzessiven Wandel hoffen.

Was für eine Zumutung! Einerseits. Aber wenn für uns handlungsleitend sein sollte, wie wir den nicht-heterosexuellen Menschen in Katar am besten helfen können – wie verhalten wir uns jetzt? Ich bin selbst unsicher. Ich habe nur verstanden, dass Maximalforderungen womöglich nur gut sind für unser Gewissen.

Nun kann man sagen, dass all diese Fragen und Maßstäbe nicht verhandelbar sind, nicht relativierbar. Man würde dann strikt gesinnungsethisch argumentieren. Menschenrechtsorganisationen machen das, und es ist vermutlich auch ihre Aufgabe. In der Praxis finde ich das fragwürdig. Denn hätte man das getan, schon 2010, hätte man Katar die Fußball-WM verweigert, hätte Katar sich nicht wegen der WM permanent öffentlich verhalten müssen, dann wäre das Emirat heute mit Sicherheit noch konservativer, noch verschlossener. Und insbesondere vielen Gastarbeiter:innen würde es schlechter gehen als es ihnen heute geht.

Guter und schlechter medialer Druck

Und welche Rolle spielen die Medien in diesem Spiel? Man könnte ihnen zugehalten, all die (oft einseitige) Berichterstattung über Katar, die heftige mediale Kritik hätte erst dazu beigetragen, dass sich die Dinge im Land verbessert haben. Und tatsächlich, das stimmt sogar bis zu einem gewissen Punkt.

Sobald sich aber berichtete Wirklichkeit und die im Land zu beobachtende Wirklichkeit zu sehr voneinander unterscheiden, wirft das kein gutes Licht auf Journalist:innen. Sobald die mediale Realität dieses Landes unverändert pechschwarz bleibt, obwohl sich vor Ort viele graue, mancherorts sogar weiße Flecken auftun, werde ich skeptisch. Mich überrascht, wie dumm die Katarer von manchen Journalist:innen gemacht werden – oder für wie dumm die Leser:innen und Zuschauer:innen verkauft werden.

Wenn eine kritische, aber faire Bewertung der tatsächlichen Umstände im Land ausbleibt, führt immer mehr internationaler Druck nicht zu mehr Wandel, sondern zu Stagnation und Rückschritten, fürchte ich. Die Reaktion fällt dann trotziger und sturer aus. Das käme den erzkonservativen Zirkeln im Land gelegen. Für mich wäre all das eine ziemlich arrogante, westliche und am Ende auch nicht besonders humane Position.

23 Kommentare

  1. Danke danke danke!! Engagierter, fairere, informierter und wunderbar differenzierter Artikel. Eigentlich schon ne (sehr aufklärende) Watsche an etablierte „Qualitätsmedien“.

  2. Es gibt etliche differenzierte Dokumentarfilme, die auch gewisse Fortschritte nicht verschweigen und nicht nur den katastrophalen Umgang mit Bauarbeitern (incl. Wohnsituation und Nichtbezahlung) zeigen sondern auch die anderen dienstbaren Geister ohne Anspruch auf freie Tage ect. , in Diensten unermesslich reicher Katarer (nicht nur der Regierungsfamilien).
    Ihre (Schmerzen bereitenden) Relativierungen und Verweise auf andere schlimme Zustände auf der Welt taugen nicht zum „Whitewashing“.

  3. Danke für den interessanten Artikel. Ich schwanke ja noch, wie ein Staat wie Qatar einzuordnen ist.
    Die immer wieder genannten 6500 Toten, haben mich eigentlich immer irritiert. Da fehlte die Bezugsgröße (den Guardianartikel habe ich nicht gelesen). Überschlagsmässig wären dann zwei Arbeiter pro Tag „vom Gerüst gefallen“ (Tote auf Baustellen). Arbeitet man da einfach weiter?
    Dann werden häufig die Unterkünfte von Arbeitern gezeigt. Wieso fällt mir jetzt Tönnies dazu ein?
    Anderseits ist das eine Diktatur, die absolut herrscht. Keine Opposition, keine Pressefreiheit. Menschenrechtsverletzungen. Über Frauenrechte will ich mal schweigen. Sexuelle Selbstbestimmung ist ein unbekanntes Wort. Ist das westliche Arroganz?
    Ich schaue übrigens gerade Formel 1 in Abu Dhabi. Das ist -da bin ich mir sicher – Ignoranz.
    Wie macht sich eigentlich eine Werte basierte Außenpolitik, wenn es ökonomische Interessen gibt und der Gegenüber nicht in der Ecke stehen will (und dann noch Macht hat).
    Ich stehe da im Moment noch zwischen Sigmar Gabriel und Gari Kasparow.
    P.S.
    Ich glaube nicht, dass Sport die Welt besser macht. .

  4. Es ist absolut legitim die gekaufte WM in Katar zu kritisieren, auch wenn die Allgemeinheit vor Jahren nicht mit der gleichen Energie gegen die WM-Vergabe an Russland protestiert hat. Alles andere ist nur Whataboutism.

  5. „Früher“ gab es ja auch die Idee, dass Annäherung auch Veränderung mit sich bringt, also _Verbesserung_. „Die Westler sind ja gar nicht so schlimm!“ und so. Hat bei Russland aber schon mal nicht geklappt, insofern ist es nachvollziehbar, wenn man das immer kritischer wird.
    Außerdem frage ich mich, ob ausgerechnet die FIFA das richtige Werbe-Gesicht für westliche Werte darstellt.

  6. Erfreulich zu sehen, dass nun auch Spiegel einen differenzierten Artikel bringt. Lohnt sich zu lesen – und der Gewerkschafter bestätigt die hier im Artikel geäußerte Sorge, dass ungerechte Kritik den Konservativen Oberwasser geben wird:

    SPIEGEL: Die Katarer sind stolz auf ihre Reformen. Sie sehen sich, was die Arbeitsbedingungen angeht, als Vorbild im Nahen Osten. Zurecht?

    Schäfers: Aus unserer Sicht sind die Schritte klein, für die Region sind sie groß. Die Nachbarn schauen voller Argwohn auf Katar. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate geraten dadurch unter Druck.

    SPIEGEL: Katar fühlt sich ungerecht behandelt, gerade auch aus Deutschland. Verstehen sie das?

    Schäfers: Ja, sie werden im Augenblick mit schlechten Medienbotschaften überrollt. Eine differenzierte Sicht auf das Land wäre nicht schlecht. Die Medienschelte setzt im Übrigen gerade die Reformer in dem Land unter Druck. Die Konservativen, die die WM ohnehin abgelehnt haben, bekommen dadurch wieder Oberwasser.

    https://www.spiegel.de/sport/fussball/wm-2022-katar-koennte-ein-kleiner-leuchtturm-fuer-die-golfregion-werden-a-eb59f271-40fc-48cd-b2e2-e68bea651299

  7. Es ist so albern und ärgerlich, wie diese Propaganda weiter getragen wird, in den SPIEGEL, der oben zitiert wird, und nun in die Kommentare unter einem Text, der im Kern 1:1 auf der Propagandalinie der Al-Thani-Herrscher liegt.

    Huhu, „Reformer unter Druck“! Ich lach mich schlapp. Tamim hat alles im Griff. „Die Konservativen“, herrje.

    Im Beitrag wird der Eindruck vermittelt, das Kafala-System sei abgeschafft („damals galt noch das Kafala-System“). Auch das ist Katar-Propaganda. Amnesty, Human Rights Watch und selbst der aktuelle ILO-Büroleiter in Katar sprechen vom Gegenteil. Problematische Aspekte seien aufgeweicht.

    Der Autor schreibt: Wenn es um fragwürdig vergebene WM-Turniere geht, dürfte die Fairness gebieten, auch die Turniere in Südafrika, Russland und Deutschland ähnlich harsch zu beanstanden.

    Hat der Autor die vergangenen Jahrzehnte geschlafen?

    Gizinski schreibt über „fragwürdig vergebene Turniere“ und meint damit offenbar, die Umstände dieser WM-Vergaben seien nicht kritisiert/recherchiert/durchleuchtet worden.

    Nonsens. Whataboutism der schlechtesten Art. Uninformiert.

    Der Autor wundert sich:

    Das steht den Erfahrungen von anderen Dokumentarfilmern offensichtlich fundamental entgegen – woran das liegt, weiß ich nicht. Ich habe die katarischen Behörden immer sehr frühzeitig darüber informiert, was wir vorhaben und dass wir natürlich auch die beträchtlichen Vorwürfe, den Umgang mit Menschenrechten und Minderheiten etwa, in den Fokus nehmen werden.

    Nun, das kann dann daran gelegen haben, dass „die katarischen Behörden“ und deren Berater nicht erwartet hatten, dass der Autor in irgendeiner Weise eine (journalistische) Gefahr darstelle. Alle Fachleute haben die Kataris und die Heerscharen von Beratern und Spindoktoren (vor allem aus UK) und auch die eingesetzten Spione natürlich jederzeit im Blick gehabt – schon seit der Bewerbungsphase. Viele wurden offenbar ausspioniert, sollten umgedreht werden, wurden an der Arbeit gehindert – das volle Programm. Für die Spionage waren ja nicht nur ehemalige CIA-Leute und Kroll und das ICSS eingespannt, sondern noch andere Kaliber.

    Ich konzediere, da ich einige der handelnden Personen kenne und auch viele Fälle kenne, dass im Inner Circle des Supreme Committee for Delivery & Legacy und bei den langjährigen Beratern dort durchaus auch mal auf die Bremse getreten wurde – und die brutalen Maßnahmen, die externe Spindoktoren und Propagandaknechte gegen Kritiker vorgeschlagen haben, abgelehnt wurden. Manchmal zumindest, ein kleines Beispiel dafür habe ich vergangene Woche in einem SPIEGEL-Artikel mit den entsprechenden exklusiven Dokumenten öffentlich gemacht:

    https://www.spiegel.de/sport/fussball/fussball-wm-2022-in-katar-wie-die-fifa-ihren-letzten-rest-wuerde-in-die-wueste-jagte-a-1b05e2cc-c5d7-4baf-99e8-e547fc852cc8

    Selbst durfte ich immer wieder ins Land, wohl wissend, dass ich beobachtet und kontrolliert wurde. Einmal nur haben sie mir eine Akkreditierung verweigert (eine Quelle hat mich unmittelbar nach der entscheidenden Sitzung angerufen und mir die Details erzählt), einreisen konnte ich dennoch problemlos. So blöd sind sie natürlich nicht.

  8. Zu #8:
    Du schafft es ja kaum richtig zu zitieren.

    Die WM-Vergaben der letzten Jahre/Jahrzehnte ist dubios. Da von Whataboutism zu reden, ist zu mindestens billig.

  9. Möchten Sie mir etwas über dubiose WM-Vergaben erzählen? Lausche gespannt! Hat mich schon immer brennend interessiert.

    Lesen Sie doch bitte: Der Autor suggeriert, zu den Vergaben der Weltmeisterschaften 2006, 2010 und 2018 sei weniger debattiert/recherchiert worden, was irgendwie mit Vorurteilen gegen Katar zusammenhänge. Quark.

    Die Zitate habe ich kursiv gekennzeichnet, die Befehle funktionieren hier aber leider nicht – und eine Korrekturfunktion fehlt, um An- und Abführungen nachzutragen.

  10. Der Vorwurf, ich argumentierte „im Kern 1:1 auf der Propagandalinie der Al-Thani-Herrscher“, und die beiläufige Feststellung, ich gehörte natürlich nicht zu den „Fachleute[n]“, die ein wahrhaftiges Bild vom Land zeichnen können (und es damit wert sind, bei ihrer Arbeit behindert zu werden), überraschen mich natürlich nicht.

    Was die Haltung des ILO-Büroleiters in Katar, Max Tuñón, betrifft, mit dem ich für mein aktuelles Projekt in engem Austausch stand, stelle ich kurz fest, dass Tuñón ausdrücklich darauf hinweist, dass Kafala nicht bloß aufgeweicht sei, sondern „die problematischsten Teile wurden abgebaut“ (Spiegel). Er spricht ausdrücklich von der „Abschaffung der problematischsten Elemente des Kafala-Systems“ (WiWo).
    Ich bin erstaunt darüber, dass es offenbar schon zu viel des Guten ist, mit Blick auf die Zeit der WM-Vergabe 2010 festzustellen: „Damals galt noch das Kafala-System, das die Arbeiter quasi zu Leibeigenen ihrer Arbeitgeber machte.“

    Ein zweiter, kurzer Hinweis: Selbstverständlich haben Journalist:innen die WM-Vergaben 2006, 2010 und 2018 umfänglich kritisiert/recherchiert/durchleuchtet. FIFA und Funktionäre werden dafür zurecht scharf kritisiert. Die öffentliche Empörung darüber steht zumindest aus meiner Sicht jedoch in überhaupt keinem Verhältnis zum Ausmaß des Zorns, der das Land Katar wegen der Umstände der WM-Vergabe trifft. Für dieses Ungleichgewicht sind aber natürlich nicht zwingend die Journalist:innen verantwortlich, die zu Südafrika, Deutschland und Russland recherchiert haben und noch immer recherchieren.

  11. Ich fand die heutige FAS-Titelgeschichte ganz interessant, die es „Das traurigste Turnier aller Zeiten“ nennt, aber schreibt:

    So kam Russland, das vier Jahre zuvor die WM ausgerichtet hatte, im Vergleich zu Qatar geradezu glimpflich davon. Da­bei hatte Wladimir Putin seinerzeit die Krim längst besetzt gehabt, die russische Luftwaffe bombardierte in Syrien Krankenhäuser, die von der Bundesregierung finanziert wurden. Ist Qatar, das jetzt helfen soll, Deutschland aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu befreien, ein ganz anderer, weitaus schlimmerer Fall?

    (…)

    Die Qatar-Debatte ist differenzierungsarm, bisweilen schrill. Fachleute, die die ganze Debatte als „Halbwissenkongress“ empfinden, und auch viele westliche – durchaus kritische – Expats in dem Emirat, schütteln da nur den Kopf. So geht unter, dass das Emirat unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit Reformen auf den Weg gebracht hat, die den Schutz der ausländischen Billiglohnarbeiter stärken. Die Führung des Landes ist ja gerade auf das Wohlwollen ihrer Partner angewiesen, hat in aller Welt – nicht zuletzt in Deutschland – Milliarden investiert. Sie hätte noch mit vielem aufzuräumen, nur ist Pauschalkritik der falsche Weg, weiteren Wandel in der Golfmonarchie zu bewirken

  12. 1) Die ILO ist, wie viele andere Organisationen, Politiker, Wissenschaftler, Sportfunktionäre etc … wie soll man sagen: tainted. 25 Millionen aus Katar erhalten. Und ja, ich weiß, viele NGOs und internationale Organisationen nehmen derlei Zahlungen von Sportschurkenstaaten oder Schurken-Organisationen (Interpol akzeptierte viele Millionen von der FIFA) dankend entgegen.

    2) Maik Gizinski: Ich kann Ihr Wissen und Ihr Urteilsvermögen über diese Themen nicht einschätzen. Ich hatte Ihren Namen nie zuvor gehört. Habe natürlich einige Kollegen gefragt, die seit mehr als einem Jahrzehnt zu dem Themenbereich recherchieren. Es konnte mir niemand weiter helfen. Ich nehme zur Kenntnis, was Sie hier veröffentlichen und erlaube mir, das einzuordnen.

    3) Stefan: Das kann schon sein, dass die FAS das schreibt. Was Du da zitierst, sagt in Wirklichkeit nicht viel. Es wäre konkrete Berichterstattung zu überprüfen – und auf dieser Grundlage zu beurteilen. Medium für Medium, Journalist für Journalist. Ist natürlich mühsam.

    Grundsätzlich ist es eines der üblichen unschönen Medienphänomene, die bei jedem Mega-Event zu beobachten sind: In den meisten Fällen (sorry, habe natürlich keine Zahl parat, ist meine Einschätzung aus der Erfahrung von einigen Dutzend dieser Mega-Events, die ich intensiv davor, danach und währenddessen vor Ort betreut habe) wird hyperventiliert. Redaktionen, die anderthalb Jahrzehnte lang nichts in echte Recherche zum Thema WM in Katar (mit allen verbundenen Fragen) investiert haben, überschlagen sich plötzlich. Das war und ist immer so – China, Russland, Rio de Janeiro 2016, Südafrika 2010, name it. Meist sind es dieselben medialen Schreihälse (und Mechanismen), die im eigenen Land nicht so gern hinschauen. Wenn ich hinschauen schreibe, dann meine ich immer: wirklich recherchieren.

    Was Katar besonders macht, ist der gigantische und historische einmalige Geldbetrag, der nicht nur in Stimmenkauf und Bauten, sondern auch in ein gewaltiges Propaganda-Instrumentarium investiert wurde. Ich habe unter Punkt 8 einige Punkte und Namen genannt. Das kann man selbstverständlich ignorieren, wenn man Fakten gern ignoriert.

    Die WM in Katar wäre zwischen 2009 und etwa 2013/14 noch zu verhindern gewesen, hätten „die Medien“ (jetzt auch mal von mir eine Verallgemeinerung) mit jener Verve, mit denen nun plötzlich ungezählte Dokumentationen und Berichte produziert werden, Geld in Recherche investiert. Das hat aber weltweit kaum jemand getan. Das weiß ich zufällig ausgesprochen gut. Zugleich hat Katar (Russland und die WM 2018 kann man in einem Atemzug nennen, denn Tamim und Putin hatten damals einen Pakt und haben in 2022 diesen Pakt auf dem gebiet des Sports sogar noch nach Beginn des Mordens in der Ukraine erneuert) gewaltige Summen in Spionage und Propaganda investiert. Sportpolitik ist in Katar seit gut zwei Jahrzehnten, in den Anfängen sogar seit exakt 1995, mit Regional- und Geopolitik verschmolzen.

    Anyway, nun findet die WM der Schande statt. Viel Spaß beim Zuschauen und Beschönigen!

  13. Es kann nicht Sinn von „die Medien“ sein, einfach Qatar-Bashing zu betreiben, andererseits können etwaige Verbesserungen auch der Lauf der Zeit sein, und nicht die FIFA.
    Zu sagen oder zu implizieren, „man“ dürfe die Vergabe an Qatar nicht kritisieren, weil „man“ die an D. nicht kritisiert hat, kann es aber auch nicht sein, weil „man“ heute andere Menschen sind als vor über 16 Jahren, weil D. evt. auch ohne Korruption als WM-Austragungsland in Frage käme, und weil „man“ der Ansicht sein könnte, es würde immer schlimmer.
    Außerdem starben damals in D. auch jeden Tag zwei Männer infolge Arbeitsunfällen, das hat sich verbessert aus Gründen, die wenig mit der FIFA zu tun haben.

  14. Erstmal Vielen Dank für diese erfrischend andere Sichtweise.

    Es folgt eine gefühlsbasierte Einschätzung…
    Ich habe aber auch das Gefühl, dass die sozialen Medien einer der Hauptfaktoren waren/sind, weshalb das Katar „Bashing“ so heftig ist. Der Großteil dieser Berichte kam doch erst heraus, als die gesellschaftliche Empörung schon auf dem Höhepunkt war.

    Ich sehe hier etwas, dass immer öfters zu sehen ist.
    Durch die Vernetzung sehen Menschen immer mehr von den Ungerechtigkeiten dieser Welt. Wie z.b. das korrupte und geldgierige System FIFA. Und umso länger man solche Dinge sieht und man darüber hört, umso mehr steigt Frust, Wut u.ä. in den Menschen.

    Für mich ist das nicht nur pures Katar „Bashing“, ich sehe hier vielmehr ein Aufschrei der Gesellschaft die so etwas nicht mehr möchte (ein großartiges Sportevent das nur noch kommerzialisiert wird), aber sich dessen noch gar nicht so richtig bewusst ist. Und so wird die Wut gegen den offensichtlichsten „Bösewicht“, in dieser Situation Katar, gerichtet.

    Letztendlich bleibt nur zu hoffen, dass die Fortschritte in Katar keine Augenwischerei sind und sich nicht alles zurückdreht wenn die WM vorbei ist.

  15. Herr Gizinski und Herr Weinreich werden wohl auf keinen grünen Zweig kommen. Das geht bereits aus der Überschrift hervor: „Grau malen statt schwarz“. Man gewinnt den Eindruck, dass es für Herrn Weinreich die Farbe Grau nicht gibt. Nur schwarz oder weiß, gut oder schlecht. Katar ist eine böse Diktatur (stimmt) und solange das so ist, können sich die Arbeitsbedingungen für Gastarbeiter gar nicht verändern (stimmt nicht). Und wer von Verbesserungen spricht, verbreitet die Propaganda des Regimes (Quatsch).

    In seinem eigenen Artikel auf Übermedien lobt Herr Weinreich eine Doku, die mit einer „nächtlichen Szene am Flughafen in Kathmandu beginnt, die einem den Atem stocken lässt: Aus einer Maschine der Qatar Airways werden in strömendem Regen Särge mit toten Sklavenarbeitern ausgeladen.“ Genau! Woran die Menschen gestorben sind? Uninteressant. Wie viele Arbeiter in anderen Ländern sterben? Whataboutism! Wir kennen diese Methode bereits aus der Pandemie: „die Bilder aus Italien“. Maximale Emotionalisierung. Wer Bilder von Leichensäcken zur Hand hat, braucht kein rationales Argument mehr.

    Ideologische Kreuzritter erweisen der Sache meist einen Bärendienst. Wer Herrn Weinreich länger zuhört, ist fast geneigt, für Katar Partei zu ergreifen. Und das kann ja wirklich niemand wollen.

  16. Das Buch „Katar – Sand, Geld und Spiele“ des Politiologen Nicolas Fromm (https://www.hsu-hh.de/juenemann/en/dr-nicolas-fromm) wird im Deutschlandfunk besprochen (https://www.deutschlandfunk.de/nicolas-fromm-katar-100.html)
    und lat Rezension bestätigt Fromm die Richtung „Grau malen“ dieses Artikels.

    „Katar hat in den vergangenen Jahren mehrere Reformen beschlossen, die die Lage der Arbeitsmigranten verbessern sollen. Auch Fromm erkennt guten Willen auf Seiten der Katarer. Trotzdem hat er weiter Zweifel: Oft genügten Änderungen nicht internationalen Standards. Oder sie würden nicht flächendeckend und konsequent durchgesetzt.“

    „Der Politikwissenschaftler stellt das Land differenziert in all seinen Grautönen dar.“

  17. Schön, differenzierte Berichterstattung zu lesen. Ich freue mich immer, meine Meinung auf Basis ergänzender Fakten ändern zu können.
    Schade, dass die legitime Kritik von Herrn Weinreich am Stil des Textes so lapidar und sarkastisch weggewischt wird. Wäre eine schöne Chance gewesen, mehr „grau“ zuzulassen.

    Unabhängig vom Inhalt stimmt die Kritik m. E. nämlich, dass der Text größtenteils mit Whataboutismen arbeitet (obwohl er es nicht nötig hätte?) und sich selbst so kleiner macht, als er sein könnte … Und letztlich damit dieselben stilistischen Fehler begeht, wie die Berichte, die er kritisiert.

    Inhaltlich konnte ich hier leider nichts mitnehmen, was ich bei der nächsten Stammtischrunde irgendwie einbringen könnte. Da wird mir der Merz-Wähler dann wieder erklären, wieso die Muselmänner in Arabien sowieso alle rückständig sind.

    Hauptsache, wir fühlen uns jetzt auf allen Seiten irgendwie moralisch und intellektuell überlegen. Erkenntnisgewinn: Knapp über 0.

  18. Hallo #20 Anderer Max:
    Die Kritik der Text bediene sich größtenteils des „Whataboutismus“ verstehe ich nicht ganz, da es eine Beobachtung des Textes ist, dass Medien mit kritikwürdigen, anderen Fußballweltmeisterschaften anders umgegangen sind. DAs finde ich zur Einordnung interessant und wichtig, weil sich im Vergleich der Schwere der Ereignisse eben die festgestellte Medienschelte für Katar nicht vollständig erklärt.

  19. Hallo zurück @ #21!

    Ich sehe ein, dass ein Vergleich zur Berichterstattung zu anderen Sport-Großveranstaltungen nicht falsch sein muss in diesem Kontext. Anhand der Überschrift erwartete ich jedoch harte Fakten, was sich in Katar denn nun konkret gebessert habe, was alle Medien in allen vorausgegangenen Berichten (absichtlich) übersehen hätten. Da sind auch welche im Text, letzter Absatz unter der Überschrift „Verbesserte Lage, alte Bilder“. Mir persönlich waren diese Dinge jedoch auch vorher bekannt, die Tagesschau hat da m. E. schon ein differenziertes Bild gezeichnet. Ausreichend? Weiß ich nicht. Aber auch nicht überhaupt nicht vorhanden.

    Herr Weinreich schreibt es schon in seinem ersten Beitrag und da kann man sich auch m. E. mit Sarkasmus nicht von freimachen:

    „Der Autor schreibt: Wenn es um fragwürdig vergebene WM-Turniere geht, dürfte die Fairness gebieten, auch die Turniere in Südafrika, Russland und Deutschland ähnlich harsch zu beanstanden.
    Hat der Autor die vergangenen Jahrzehnte geschlafen?“

    Das ist es ja: Als ob es keine Kritik an vorherigen Sport-Großereigenissen (ich würde hier z. B. die olympischen Spiele / das IOC auch inkludieren) gegebn hätte. Das ist ein Strohmann und das muss auch so benennen dürfen.

  20. Spontan wäre mein Gedanke, dass er ja nicht _nur_ um Korruption geht.
    Unter fairen Bedingungen hätte Deutschland früher oder später eine Fußball-WM sowieso ausgerichtet, weil es viele Fußballstadien und Fußballfans hat und außerdem regelmäßig an WMs teilnimmt.
    Mit Sachen wie Arbeitsrecht und Pressefreiheit könnte man auch noch argumentieren. Trotzdem brauchte ein so überzeugender Kandidat anscheinend Schmiermittel, da fragt man sich, was wohl die anderen geboten haben?
    Das Argument ist hier also, dass man Qatar nicht vorwerfen sollte, was D. auch tat, wo ich ein Stück weit mitgehe, aber dass man Qatar jetzt teilweise verteufelt ohne die FIFA mitzuverteufeln ist mMn wirklich falsch.

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