Bahnhofskiosk

Nahbarkeit, die Wissen schafft

Streift man im Bahnhofskiosk am Regal „Wissen“ vorbei, begegnet man dort vor allem den üblichen Verdächtigen: Fachmagazinen wie „Spektrum“ und „Bild der Wissenschaft“ – oder Pop-Klassikern wie „P.M.“, „Welt der Wunder“ und „Hörzu Wissen“. Auf den Titelseiten: gestochen scharfe Weltraumfotos und Doppelhelixe hier, Pharaonen, Atombomben und Geheimbünde dort. So weit, so bekannt.

Ein kleines Magazin aber sticht darin heraus: „Science Notes“ zeigt auf dem Cover seiner aktuellen Ausgabe zwei Astronaut:innen auf einem fernen Planeten, gezeichnet in weichen Formen und gedeckt in Rot und Blau. Das Heft verzichtet auf überladene Schlagzeilen und ist überhaupt äußerst sparsam mit Schrift; optisch erinnert es eher an ein junges Kultur- oder Gesellschaftsmagazin.

Die Zeitschrift, die halbjährlich mit einer Auflage von 5.000 Stück erscheint, sieht sich selbst an der Schnittstelle von Forschung und gesellschaftlichen Fragen. Das Konzept geht zurück auf eine Reihe von Veranstaltungen, die 2013 von der Rhetorik-Fakultät der Universität Tübingen initiiert wurde: kurze Vorträge zu den brennendsten Themen der Wissenschaft, begleitet von elektronischer Musik. Bald tourte das Projekt durch die Clubs der Bundesrepublik, seit Frühjahr 2018 wird es in ein Print-Magazin übersetzt.

Wissenschaftsjournalismus auf Augenhöhe

Ermöglicht wird „Science Notes“ von der Klaus-Tschira-Stiftung, die sich der Förderung der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) verschrieben hat. Redaktionell ist die Zeitschrift aber unabhängig. Die Hefte widmen sich jeweils einem Thema aus unterschiedlichsten Perspektiven; aktuell dem „Reisen“. Zudem erscheint jedes Heft mit eigenem Konzept für Format und Layout: ob kompakte Fibel oder ausladende Broschüre mit Faltbeilage – form follows function.

Dabei stellt das Magazin gewissermaßen die Perspektive des Wissenschaftsjournalismus auf den Kopf. Dessen Anspruch beruht in der Regel auf einer Vulgarisierung: Abstrakte Fakten werden aus dem Elfenbeinturm herausgetragen und mit dem Volk geteilt, heruntergebrochen in mundgerechte Erkenntnis-Stückchen. Hier ist der Impuls ein anderer: eine Begegnung auf Augenhöhe mit der Wissenschaft und den Menschen, die sie betreiben.

In „Marsarote“ zum Beispiel lernen wir Loredana Bessone kennen, die Leiterin eines Ausbildungsprogramms in der Vulkanlandschaft von Lanzarote, das angehende Astronaut:innen auf eine Marsmission vorbereiten soll. Der Text erzählt nicht nur vom intensiven Training der Anwärter:innen und dem Boom privatfinanzierter Raumfahrt, sondern auch von Bessone selbst: ihrer Faszination für das Unbekannte, dem geplatzten Traum einer eigenen Karriere als Astronautin, ihrer humanistische Perspektive auf das Weltall. Forschung wird hier als Prozess begriffen, als Abenteuer; die Wissenschaftler:innen treten hervor, gewinnen an Konturen.

Sabrina Winters Artikel „An der Grenze“ taucht seinerseits in die Welt von TRESSPASS ein, ein millionenschweres Forschungsprojekt der Europäischen Union, das Algorithmen für die Personenkontrolle an den EU-Außengrenzen entwickelt. Anhand einer fiktiven Figur namens Amira erzählt der Text, wie ein derartiges Programm aussehen kann – und legt auf anschauliche Weise drängende Fragen offen: Soll eine Behörde vor der Einreise sämtliche Profile in sozialen Medien durchleuchten dürfen? Wie lässt sich verhindern, dass das Programm anhand von Herkunft oder sozialem Status diskriminiert? Und wer würde von einem solchen System profitieren?

„Wissen zugänglich und verständlich machen“

Die anderen Beiträge des Hefts führen von den Schimpansen im dichten Dschungel der Elfenbeinküste über schweizerische Bergketten bis hin zu Planktonschwärmen in der Tiefsee. Das Layout ist dabei ebenso kontrast- wie abwechslungsreich, Karten und Diagramme sind organisch eingearbeitet. Dabei wählt das Magazin bewusst Distanz zu den bekannten Bilderwelten der Branche: „In den Illustrationen bewegen wir uns weg von der typischen Wissenschaftsillustration und suchen neue Formate, Wissen zugänglich und verständlich zu machen“, erklären Redakteur Bernd Eberhardt und Herausgeber Thomas Susanka 2019 im „Meta-Magazin“.

Dazwischen setzt die Redaktion immer wieder kurzweilige Formate, etwa die Reihe „Expedition ins Unbekannte“, die vier wagemutige Reisende aus vergangenen Jahrhunderten vorstellt. Als Hommage an die Ursprünge von „Science Notes“ wird dem Magazin zudem eine erzählerische Tour-Playlist angehängt, auf der Daft Punks Around the World und der 80er-Hit Voyage, voyage natürlich nicht fehlen dürfen.

Besonders spannend ist das Magazin dann, wenn es sich vollkommen von konventionellen Formen des Wissenschaftsjournalismus löst. Ein kreativer Ich-Text erzählt etwa die Begriffsgeschichte von „Wanderlust“ aus der Perspektive von Wanda, die Personifizierung des Worts selbst. Ein makabrer Reiseführer begleitet die Leser:innen wiederum an Massengräber, Schlachtfelder und Gedenkorte – eine episodenhafte Annäherung an das Phänomen des Dark Tourism und letztlich den Tod selbst. Der Austausch mit Besucher:innen und Forschenden fragt nach der Bedeutung und Anziehungskraft dieser Orte, aber auch nach der Ethik ihrer Vermarktung.

Am deutlichsten wird der unkonventionelle Ansatz in Dmitrij Kapitelmans Kurzgeschichte „Am Ende geht es immer um das Ende“, die das Heft passenderweise abschließt. Sie erzählt eine (reichlich fantastische) Begegnung mit dem Nobelpreisträger Daniel Kahneman in Saragossa; dessen Forschung zur Unzuverlässigkeit des Erinnerns wird mithilfe von Gedankenexperimenten und Rückblenden anschaulich-spielerisch ausgerollt. Schließlich wird auch der Erzähler von der Selbsttäuschung des Gedächtnisses eingeholt, wenn er seine anfängliche Begegnung mit Kahneman völlig anders erinnert – und im letzten Satz kurzerhand neu schreibt.

Psychologische Forschung wird so nicht nur greifbar erklärt, sondern unmittelbar in die Erzählstruktur eingewoben: Besser kann man Wissenschaft kaum vermitteln.

Es geht auch ohne „Ancient Aliens“

Nun könnte man sicherlich fragen, ob Kurzgeschichten, Poetry Slam und Playlists noch etwas mit dem nüchternen Wissenschaftsjournalismus zu tun haben, wie wir ihn kennen. Dabei liegt die Antwort genau in dieser Überschreitung: „Sciene Notes“ zeigt, wie bunt und vielfältig man von Forschung erzählen kann; dass Wissenschaft auch zugänglich sein kann, wenn man nicht auf polternde Schlagzeilen oder „Ancient Aliens“ setzt.

Das liegt sicherlich auch an der konzeptionellen Offenheit des Magazins. Unter den Autor:innen, die von der kleinen Tübinger Redaktion über Ausschreibungen rekrutiert werden, finden sich sowohl spezialisierte Wissenschaftsjournalist:innen als auch geübte Reportageautor:innen, die anderswo als „fachfremd“ gelten würden. Im Vordergrund steht hier die erzählerische Qualität, die Nahbarkeit der Geschichten.

Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat einen Graben aufgezeigt zwischen dem langsamen, stets vorläufigen Erkenntnisprozess der Wissenschaft und einer Öffentlichkeit, die Klarheit in der Krise erwartet. Selbst Spitzenpolitiker offenbaren immer wieder ein beschränktes Verständnis davon, wie Wissenschaft funktioniert. Ein Magazin wie „Science Notes“, das nicht auf Vereinfachung und schnelle Antworten aus ist, sondern die Arbeit von Forscher:innen als komplexen Prozess mit Fragen, Zweifeln und Widersprüchen begreift, ist da eine empfehlenswerte Fortbildungslektüre.

„Science Notes“
Halbjährlich, 6 Euro

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