Fragwürdige Studie „ImpfSurv“

Nein, es gibt nicht 40-mal so viele Impf­nebenwirkungen wie gedacht

In den vergangenen Wochen verkündeten zahlreiche Medien, es gebe weit mehr Impfnebenwirkungen als bislang bekannt: allen voran der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), der seit März in Fernseh- und Online-Beiträgen die „ImpfSurv“-Studie des Berliner Charité-Professors Harald Matthes besprach. Demnach hätten acht von 1.000 Geimpften „schwere Nebenwirkungen“. Diese Zahl sei etwa 40 Mal höher als die vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI).

Dabei ist die Studie weder abgeschlossen und publiziert noch wurde sie nach seriösen Maßstäben durchgeführt. Viele Nachrichtenseiten stiegen trotzdem darauf ein.

Screenshots: MDR / „Focus Online“ / „Berliner Zeitung“ / „T-Online“

Der „Focus“ titelte unter Berufung auf den MDR und die „ImpfSurv“-Studie: „Mindestens 70 Prozent Untererfassung bei Impfnebenwirkungen“. Ähnliche Artikel erschienen bei der „Berliner Zeitung“, „T-Online“ oder der „Berliner Morgenpost“. (Letztere änderte in der Zwischenzeit den Tenor des Artikels komplett – und macht nun mit der Kritik an der Studie auf – allerdings ohne Korrekturhinweis.) In der Berliner „B.Z.“ hieß es in der täglichen Kolumne „Mein Ärger“ gar, „die Erkenntnisse der Charité“ würden „ignoriert und geradezu totgeschwiegen“. „B.Z“-Autor Gunnar Schupelius hat ja einen beneidenswerten Job. Er wird fürs Meckern bezahlt – der Traum eines jeden Berliners. Doch wie so oft im Leben hat nicht immer Recht, wer laut schimpft. Vor allem nicht im Fall der „ImpfSurv“-Studie.

Anonyme Online-Umfrage ohne Teilnehmer-Validierung

Es beginnt schon beim Leiter der Studie. Harald Matthes ist zwar Universitätsprofessor – sitzt allerdings auf einer fremdfinanzierten Stiftungsprofessur für „integrative und anthroposophische Medizin“. Zudem ist er Ärztlicher Leiter einer Klinik mit Schwerpunkt anthroposophischer Medizin und Präsident der Deutschen Akademie für Homöopathie und Naturheilkunde.

Dieser Hintergrund qualifiziert Matthes also nicht für epidemiologische Studien zur Häufigkeit von Nebenwirkungen. Zudem gibt es im anthroposophischen Spektrum eine erhebliche Impfskepsis, was zur Frage führt: Kann das Design einer Studie zu Impfnebenwirkungen aus diesem Milieu wirklich frei von Vorurteilen sein?

Die Ergebnisse von „ImpfSurv“ beruhen auf einer Online-Befragung, an der bislang 40.000 Personen teilgenommen haben sollen. Doch schon daran gibt es Zweifel, wie der Twitter-User „onatcer“ im Gegensatz zu vielen Journalist:innen ausführlich dokumentierte.

Die Studie ist komplett anonym, es genügt eine E-Mail-Adresse, die nicht einmal überprüft wird, indem zum Beispiel ein Bestätigungs-Link verschickt wird. Man kann also mehrfach und mit beliebig vielen Adressen und aus jedem Land der Welt teilnehmen. Dass somit 40.000 echte Menschen allein aus Deutschland teilgenommen haben, ist weder beweisbar, noch wahrscheinlich. Ebenfalls nicht nachweisbar: Ob diese überhaupt eine Impfung erhalten haben.

Zudem werden sachfremde Fragen gestellt („Glauben Sie, dass die Corona-Krise noch dieses Jahr beendet werden wird?“) und unlogische Antwort-Kombinationen zugelassen. Eine Hochrechnung auf die gesamte geimpfte Bevölkerung ist daher mehr als fragwürdig.

Impfnebenwirkungen sind ein wichtiges Thema

Es gibt selbstverständlich schwere Impfnebenwirkungen – bis hin zu schweren Behinderungen und Todesfällen – und für die Betroffenen ist das so dramatisch wie jede andere schwere Erkrankung, die aus dem Nichts über einen hereinbricht. Ihr Problem ist oft ähnlich wie das von Patient:innen mit Long Covid, die es häufig schwer haben, ernstgenommen werden und Hilfe zu bekommen. Zu beiden Themen hat der MDR verdienstvollen Journalismus zu bieten, genau wie viele andere Medien auch – wobei das Themenfeld insgesamt hoch umstritten ist – und auch viele Long Covid Studien sehr angreifbar.

In den Archiven von „Zeit“ und „Spiegel“ gibt es deutlich mehr Berichte über Long-Covid-Betroffene als über Menschen, die unter Impfnebenwirkungen leiden. Das kann daran liegen, dass es eben deutlich mehr Betroffene der einen Gruppe gibt. Aber auch daran, dass man bei einem Thema, das Impfskepsis befördern könnte, lieber nicht so genau hinschaut. Letzteres wäre fatal: Denn selbst nach den Zahlen des PEI, wonach es nur zwei schwere Nebenwirkungen auf 10.000 Geimpfte gibt, wären dies bei rund 64,5 Millionen Geimpften fast 13.000 Menschen. Auch sie haben mediale Aufmerksamkeit und bestmögliche medizinische Versorgung nötig und verdient.

All das rechtfertigt aber nicht das Verbreiten fragwürdiger Zahlen aus einer methodisch sehr angreifbaren Studie.

Twitter schneller als viele Journalist:innen

Die Kritik an „ImpfSurv“ war auf Twitter leicht zu finden: So kritisierte der Ökonom Andreas Backhaus bereits am 27. April das unzureichende Studiendesign und andere Schwächen von Matthes‘ Argumentation. Auch der Biochemiker Emanuel Wyler, der unter anderem zur Wirksamkeit von Medikamenten gegen Covid-19 forscht, kritisierte, es gäbe bislang gar keine Studie, sondern nur Matthes‘ Aussagen in den Medien. Eine weiterer ausführlicher Kritik-Thread stammt von Johann Holzmann, ebenfalls Biochemiker.

Auf „SciLogs“, dem Blog des Wissenschaftsmagazins „Spektrum“, schrieb der Kognitionswissenschaftler Stephan Schleim am 5. Mai eine detaillierte Kritik. Dieser folgten am 6. Mai Ingo Arzt und Florian Schumann in der „Zeit“ und am 10. Mai sowohl Birigit Herden in der „Welt“, Oliver Klein für das ZDF als auch Pascal Siggelkow und Wulf Rohwedder für den ARD-faktenfinder. Die Deutsche Presseagentur weigerte sich, über Matthes‘ Ergebnisse zu berichten – wegen der offensichtlichen Schwächen des Studiendesigns. Die Wissenschaftsjournalistin des Deutschlandfunks, Kathrin Kühn, schreibt bei Twitter:


Das kann man so sehen, allerdings fällt die Kritik am MDR, der maßgeblich für die Prominenz der fragwürdigen „Ergebnisse“ von Matthes gesorgt hat, sehr verhalten aus. Am deutlichsten kritisieren Arzt und Schumann in der „Zeit“, wenn sie dem Sender „Ungereimtheiten und schlicht Fehler“ vorhalten. Beim ZDF-Text sowie beim „ARD-Faktenfinder“ wird einleitend erwähnt, dass der MDR über die fragwürdige Studie berichtet hat.

MDR reprodziert, was er vorher widerlegt 

Journalistische Selbstkorrektur ist immerhin etwas. Ausgerechnet beim MDR ist der Umgang damit allerdings sehr fragwürdig. Bereits im Magazin „Umschau“ vom 22. März wurde sehr ausführlich über Impfnebenwirkungen und deren Häufigkeit berichtet, unter maßgeblicher Berufung auf die Aussagen von Matthes.

Ein Faktencheck der „MDR Wissen-Redaktion“ am 8. April kam dann zu dem Schluss, dass wesentliche Aussagen von Prof. Matthes in der „Umschau“-Sendung „unbelegt“ seien, und wies darauf hin, dass sie auf einer noch nicht abgeschlossenen Studie basieren.

Merkwürdig ist, dass der Faktencheck in der Folgeberichterstattung des Senders aber offenbar nicht weiter beachtet wurde. Im Gegenteil: Ende April berichtete der MDR erneut in verschiedenen Formaten über Matthes und seine Studie. Er kam am 26. April noch einmal im Magazin „Umschau“ zu Wort. In der Sendung „Hauptsache Gesund“ war Matthes am 28. April sogar als Studiogast geladen. Kritische Fragen zur Validität seiner Aussagen stellte ihm der Moderator aber nicht.

Diese Berichte, begleitet von der ausführlichen Online-Dokumentation, traten Anfang Mai die Berichterstattungswelle los. Alle eingangs genannten Artikel beziehen sich in erster Linie auf den MDR. 

Ein Sprecher des Senders sagte Übermedien dazu auf Anfrage:

„Zum Wesen dieser Pandemie gehört die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die auch immer wieder kontrovers diskutiert und bewertet werden. Da das Thema möglicher Impfschäden von großem öffentlichen Interesse ist, werden wir Ergebnisse und auch den wissenschaftlichen Diskurs dazu weiterhin mit Berichterstattung begleiten.“

Zudem sei es vor allem um „zu wenig Hilfsangebote für Betroffene von Impfnebenwirkungen“ gegangen, man habe abgebildet, dass sich „die Zwischenergebnisse von Professor Matthes von denen des Paul-Ehrlich-Instituts unterscheiden.“ Diese „Zwischenergebnisse“ sind allerdings, wie gesagt, bislang weder veröffentlicht, noch überprüfbar. Die Schwächen der Studie sind dagegen offenkundig und leicht zu bermerken. Beim simplen Selbstversuch fallen einem viele Fragwürdigkeiten auf, wie allein der Twitter-Thread von „onatcer“ offenlegt

Auch die Charité bekleckert sich nicht mit Ruhm, wenn sie Honorarprofessuren unter ihrem Dach zulässt, die dann in ihrem Namen fragwürdige Studien durchführen. Gegenüber „ZDF heute“ distanzierte sich die Universitätsklinik von Matthes. Der Link zur Übersichtsseite wurde von der Charité-Homepage genommen. Die Fragebögen selbst sind noch auffindbar.

Doch der Schaden ist längst angerichtet, wie „ZEIT“-Redakteur Schumann treffend feststellt: „Und so verbreitet sich die Aussage dann in Windeseile… Unseren Text liest nur ein Bruchteil davon, man kann sowas nicht einfangen. Daher umso wichtiger, dass auch Redaktionen daraus lernen.“


Korrekturhinweis: Wir hatten in einer früheren Version des Textes behauptet, dass das ZDF im Text über „ImpfSurv“ den MDR nicht erwähnt habe. Das ist nicht korrekt. Wir haben die Stelle geändert.

4 Kommentare

  1. Besonders irritierend ist, dass es an der Charité einen (Stiftungs-Lehrstuhl) für Schwurbelmedizin (Homöopathie und Anthroposophie) gibt. An der Charité arbeitet also ein Char-latan.

  2. Irre! Die lernen nicht dazu oder wollen es nicht! Einigermaßen beruhigend ist, dass es inzwischen ausreichend valide Stimmen und Quellen gibt, die darauf rasch reagieren und zugänglich sind.
    Ich erinnere mich noch (war es in den Siebzigern?), als es um die evidenzbasierte Medizin ging und die Anthroposophen- und Homöopathenfront auf Unterschriftenjagd ging, um nicht darunter zu fallen. Da war das Verbreiten von Schwurbeltum deutlich einfacher.

  3. Hier hat der hpd mal zusammengetragen, was sich noch so hinter der anthroposophischen Weltanschauung versteckt:
    https://hpd.de/artikel/rudolf-steiner-war-kein-rassist-20317

    Wie kommt so ein Lehrstuhl an der Charitè eigentlich zustande?
    Dass die Medien das ganze ernst genommen haben, dürfte wohl nicht zuletzt daran gelegen haben, dass es ein „Charitè-Professor“ gesagt hat.

    Deren Webauftritt:
    https://epidemiologie.charite.de/forschung/projektbereich_komplementaere_und_integrative_medizin/arbeitsgruppe_integrative_und_anthroposophische_medizin/

    So’n bisschen Bewegungstherapie oder ein Ölbad kann ja nicht schaden. Aber dafür braucht man halt auch keine Anthroposophie.

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