Wochenschau (118)

Heidis neue Körperwelten

Heidi Klum mit Gastjurorin Kylie Minogue
Heidi Klum mit Gastjurorin Kylie Minogue Fotos: ProSieben / Richard Hübner

„‚America’s Next Top Model‘ wurde ins Leben gerufen – ich habe es ins Leben gerufen –, um Diversität und Inklusion in eine Welt zu bringen, die diese nicht oder nur in sehr geringem Maße repräsentiert“, hat Tyra Banks gesagt, die Erfinderin der Fernsehshow, die die Vorlage für „Germany’s Next Topmodel“ ist. Banks musste inzwischen einräumen, diesem Anspruch nicht immer gerecht geworden zu sein, und nach nur 16 Staffeln ist ihr Anliegen nun auch bei Heidi Klum angekommen.

Am Donnerstagabend begann die neue Staffel, in der – so meinte Klum zu zwei Teilnehmerinnen – Geschichte geschrieben werden könnte. Denn in diesem Jahr geht es ausdrücklich um eben diese inklusive Vielfalt, sprich: Diversity. Und sichtbar begeistert von der programmatischen wie plakativen Erfüllung von Banks Prämisse war vor allem eine: Heidi Klum selbst.

Bereits 2019 hat der Sender CNN „Diversity“ als einen der markantesten Modetrends dieser Dekade ausgemacht und dabei die Sängerin Rihanna als Vorbild benannt, die mit ihrer Kosmetiklinie Fenty Beauty seit 2017 Make-up für alle Hauttöne auf den Markt bringt; irgendwann kamen stylische Dessous für jede Statur hinzu. Zudem verwies CNN auf das Label Pyer Moss, das die „Black Lives Matter“-Bewegung in ihrer Mode und Selbstdarstellung spiegelt, auf den geschlechtslosen Stil des Designers Telfar Clemens oder auf das muslimisch-amerikanische Model Halima Aden, die mit Hijab auf den Laufsteg geht. Erst im Jahr 2018 fotografierte Tyler Mitchell als erster Schwarzer in der 125-jährigen Geschichte des Magazins das Titelbild der Zeitschrift „Vogue“ – es zeigte die Sängerin Beyoncé.

Modemarken wie Tommy Hilfiger, Nike oder das Wäschelabel Aerie haben ihre Angebote und Selbstinszenierung auf mehr Inklusion hin ausgelegt. Man sieht bei ihnen Models in Übergrößen, Transgender-Models sowie Models mit Behinderungen. Die Kampagne von Tommy Hilfiger ging noch einen wichtigen Schritt weiter, indem sie sogenannte adaptive Kleidung speziell für Menschen mit Behinderungen vorstellte, beispielsweise für Menschen, die im Rollstuhl sitzen.

Auch das Unternehmen Victoria’s Secret hat diesen Zeitgeist erkannt und die Stellen seiner engelsgleichen Models (die sogenannten angels) neu besetzt, um seine Dessous zu repräsentieren; zum Beispiel mit der amerikanischen Fußballspielerin Megan Rapinoe, mit der Schauspielerin und Aktivistin Priyanka Chopra Jonas und dem ersten Transgender-Model der Marke, Valentina Sampaio. Die Botschaft: Schönheit kommt in vielen Formen vor, gute Models und Testimonials haben Personality, zeigen Engagement, stehen für etwas.

Vielfalt verkauft sich

Offenbar ist es also gar nicht mal so lange her, dass die Branche erkannt hat: Vielfalt verkauft sich. Einerseits aus Gründen der Identifikation, denn die Konsumierenden kaufen eher Kleidung, die sie an Models sehen, die wie sie selbst aussehen; andererseits sind bewusste Verbraucher heutzutage auch bereit, inklusive Marken durch ihre Kaufentscheidung zu unterstützen.

Meline, Viola, Barbara

Auch Heidi Klum zufolge ist Diversity das angesagte Accessoire der Saison. Im Verlauf der ersten Folge der neuen Staffel wurde sie nicht müde zu betonen, wie toll das doch sei, dass plötzlich eine große Nachfrage da sei und sich die Modewelt endlich öffne. Alle anderen hätten bislang nur über Diversity gesprochen – sie würde es jetzt einfach endlich mal machen! „Aufgrund des positiven Wandels im Modelbusiness hab ich das Casting in diesem Jahr erweitert“, was im Klumsches Jargon meint: mehr Zielgruppen! Yeah!

Diese Nachfrage wird durch einen Bericht der Zeitschrift „The Fashion Spot“ bestätigt. Anhand der offiziellen Schauen diverser Fashion Weeks hat sie die Anzahl der nicht-weißen, nicht-dünnen und über 50-jährigen Models in New York, London, Mailand und Paris erfasst. Laut dieser Erhebung ist in den vorigen drei Jahren in allen Bereichen ein Anstieg zu verzeichnen. Also auch statistisch lässt sich feststellen: Die Branche wird wirklich diverser.

Neben der professionellen Fashion-Welt existiert seit einiger Zeit auch der weltweite Schönheitsmarkt der sozialen Medien, allen voran Instagram, auf dem Influencer und Influencerinnen durch die Darstellung unterschiedlicher Körperformen, Hautfarben und Geschlechter heteronormative Schönheitsideale aufgebrochen beziehungsweise implementiert haben, je nachdem wen man wie fragt. Gerade die gatekeeperlose Influencer-Kultur erlaubte die Sichtbarmachung neuer Vorstellungen von Schönheit, auch eine, die weniger eurozentristisch normiert ist – siehe beispielsweise den Erfolg der Kardashians, die den Laufsteg-Chic der 1990er und 2000er konterkarierten.

Wie Konsum angeregt wird

Mehr Repräsentation, weniger starre Schönheitsstandards, ein euphorisches Feiern des Unvollkommenen, mehr Sichtbarkeit für alle – eine wirklich diversere Welt könnte einen Paradigmenwechsel in der Ökonomie der modischen Schönheit bedeuten, die bislang sehr gut davon profitierte, uns durch ihre Ideale unsere angeblichen Normabweichungen vor Augen zu führen, um uns dadurch zum Konsumieren zu bewegen.

In ihrem Buch „Der Mythos Schönheit“ untersuchte die Schriftstellerin Naomi Wolf, wie nach der Emanzipation und finanziellen Unabhängigkeit von Frauen Schönheitsstandards benutzt wurden, um eine neuen Form sozialer Kontrolle auf diese auszuüben. Zugleich ist es ökonomisch natürlich ertragreich, Ideale herzustellen, im Vergleich zu denen sich potenzielle Konsumentinnen defizitär fühlen müssen; eine Unzufriedenheit, die durch Konsum oder Selbstoptimierung aufgelöst werden soll.

Zugleich verstärkt in sozialen Medien eine algorithmisierte Vervielfältigung von Attraktivität und dem, was viele Nutzer als schön empfinden könnten, eine neue Form von Normierung. Die Diversität, die wir hier überwiegend zu sehen bekommen, ist eine auf ihre Art doch sehr uniforme. In ihrem Essay „The Face in the Age of Instagram“ machte die amerikanische Autorin und Journalistin Jia Tolentino das Instagram-spezifische Schönheitsideal konkret, indem sie die cyborghafte Ästhetik bestimmter Gesichter als „the Instagram face“ beschreibt; ein, wie sie meint, Kompositum einer europäischen Frau mit dem Look „unverortbarer Exotik“. Dieses Gesicht zeichnet sich durch hohe Wangenknochen, volle Lippen, katzenhafte Augen und eine zierliche Nase aus.

Paulina

Erreicht wird dieses vor allem durch Kim Kardashian und Kylie Jenner ikonisch gewordene Antlitz durch Make-up, Körpermodifikationen und diverse Filter, das heißt: Bildbearbeitung. Auch der Algorithmus lässt nur soviel Diversität zu, wie für eine Plattform rentabel ist. Zudem hebt Tolentino hervor, dass „die sozialen Medien die Neigung, die eigene Identität als potenzielle Profitquelle zu betrachten, enorm gesteigert haben“.

In ihrem Buch „Influencer: Die Ideologie der Werbekörper“ schreiben Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt: „Überdies proklamieren viele westliche Influencer Diversity. Eingefordert wird die Repräsentation vielfältiger ethnischer, kultureller und sexueller Identitäten, und solange die gewünschte Gleichheit auf einer kulturalistischen Ebene verharrt und nicht ökonomisch zu werden droht, zeigen sich die Netzprominenten dabei äußerst engagiert.“

„Models“ statt „Mädchen“

Diese Entwicklungen laufen parallel. Erfolgreich ist, was sichtbar ist, sichtbar ist, was erfolgreich ist, beides bedingt die Nachfrage. Auch eine Model-Mentorin wie Heidi Klum hat ganz unabhängig von der hehren Idee der Diversität verstanden: Eine vermarktbare Personality, also eine bestimmte Idee von Individualität, ist ein Wert, der dem Uniformierten, Ausschließenden, Homogenen einer angeblich überwundenen Modelkultur lukrativ gegenübergestellt werden kann. Oder wie Klum sagt: „Egal wie groß oder klein du bist, wie alt du bist, wen du liebst – für mich gibt es keine Grenzen. Für mich zählt nur, wer du bist!“

Martina, Lieselotte, Barbara

Mal von den ökonomischen Interessen abgesehen, scheint es fast, als wolle diese Staffel den Schaden, den sie 16 Jahre lang angerichtet hat, mit einer extra großen Garderobe an Inklusion, Awareness und auch durch eine aufmerksamere Sprache wiedergutmachen. So korrigiert sich Klum beispielsweise mehrmals selbst und ermahnt sich, nicht mehr „Mädels“ oder „Mädchen“ zu sagen, sondern „Models“.

Die Sendung hatte bislang kontinuierlich Erfolg mit der schlichten Formel, jungen Frauen wöchentlich zu sagen, dass sie nicht für die großen Laufstege genügen, dass ihre Schönheit für den Weltmarkt nicht reicht. Was wir jetzt sehen, ist der Kater einer Jahre lang gewinnbringend betriebenen, oftmals eher beschämenden Körperschau, die nun auch von veränderten Zuschauererwartungen profitieren will – wobei die sorgfältig andersartige Auswahl der diesjährigen Models in der permanenten Ausgestelltheit eine aufgekratzte Betulichkeit bekommt, welche die Sendungsmacher mit Awareness verwechseln.

Rutschiger Laufsteg

Man fragt sich allerdings, wieso die Models immer noch in Schuhen laufen müssen, in denen sie nicht laufen können. Aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit war der Laufsteg spiegelglatt, es gab eine Verletzungsgefahr vor allem für die beiden älteren Teilnehmerinnen, was von Klum anscheinend als ein gängiges Berufsrisiko hingenommen wird.

Auch scheint es weiterhin programmatisch, dass die Kleider, die auf dem Laufsteg getragen werden müssen, oftmals zu lang sind – was in der Kombination mit den Schuhen eine erhöhte Sturzgefahr bedeutet, die jedoch offensichtlich erwünschter Aspekt des Aussiebungsprozesses ist.

Natürlich zeichnet sich echte Haute Couture weniger durch Funktionalität aus, doch bei all der Diversität und individuellen Schönheit mutet diese Modenschau wie eine überholte Verkleidungs-Challenge an. So erscheint es auch völlig willkürlich, weshalb Klum und Minogue bei manchen Kandidatinnen ein zu individuelles Auftreten kritisieren und bei anderen mehr Personality einfordern.

Es wäre eine sehenswerte Neuheit, wenn sich die Diversität auch formal in der Inszenierung und in einem Aufbrechen dieses bewusst rutschigen, stolpernden Vor- und Zurücklaufens zeigen und möglichweise auch mal andersartige Gangarten honoriert würden. So ist es nicht verwunderlich, dass ausgerechnet die Kandidatin, die bei der Rutschpartie nicht mitmachen möchte und kurz vor ihrem Auftritt ihre nicht passenden Schuhe abstreift, um barfuß zu laufen, letztlich aussortiert wird. Angesichts der Verletzungsgefahr hätte ich mir so eine Entscheidung auch von anderen Models gewünscht.

Vielleicht wird ja nun langsam auch eine Diversity denkbar, die sich auch in einer Fashion zeigt, bei der die vielfältigen Frauen nicht in zu lange Korsetts und zu wackelige Schuhe gesteckt werden.

In einem Format, das auf dem Primat der Schönheit basiert, wird behauptet, die Wahrnehmung dessen, was Schönheit ausmacht, zu erweitern. Zugleich werden letztlich bei der Bewertung der Kandidatinnen doch eher noch die traditionellen Vermarktungsstandards zugrundegelegt, so dass all die stolz präsentierte Diversität in der ökonomischen Logik der Sendung wie eine fein geschneiderte Kollektion aus Feigenblatt-Fashion wirkt. Die Teilnehmerinnen mögen aus einer bestimmten Perspektive diverser sein, das Format ist es leider noch nicht.

Korrektur, 14.02.2022: Wir hatten zuerst geschrieben, Megan Rapinoe sei Leichtathletin. Rapinoe ist Fußballspielerin.

5 Kommentare

  1. Die „Diversität“ geht ja auch in Wirklichkeit nur so weit, dass offenbar nur ein Merkmal gleichzeitig vom „Ideal“ abweichen darf…

  2. Bei irgendeinem anderen Format würde ich evt. glauben, dass da „Soziale Verantwortung“ o.ä. mit reinspielt.
    Hier denke ich: „Hey, Markt regelt.“

    Nächstes Jahr haben die bestimmt auch mal männliche Kandidaten. Ganz bestimmt.

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