Die Podcast-Kritik (70)

„Alles gesagt?“ Der Mehrwert des fröhlichen Abschweifens

Am „Zeit“-Podcast „Alles gesagt?“ scheiden sich die Geister. Auch bei uns. Deshalb gibt es ausnahmsweise zwei Kritiken zu einem Podcast: Hier das Pro von Larissa Vassilian; nebenan das Contra von Sandro Schroeder.

Podcastlogo "Alles gesagt?" mit fröhlichem Gesicht

„Alles gesagt“ kommt mit diesem Prinzip dem Ursprungsgedanken des Podcastings sehr nahe. Podcasting sollte und wollte schon immer anders sein als Radio. Wollte sich nicht einengen lassen durch Formate, durch die typischen 1’30-Beiträge, gequetscht zwischen Nachrichten, Wetter, Verkehr und schreckliche Musik. Nein, Podcasting wollte dem Inhalt so viel Raum geben, wie er eben benötigt. Je nach Gast können das bei „Alles gesagt“ mal eineinhalb Stunden sein, mal achteinhalb. Mitunter ist eine Menge Sitzfleisch von Gastgebern wie Gästen gefordert.

Und während es ja nun wirklich viele Interviewformate in Podcasts gibt, einige davon auch durchaus sehr gut und empfehlenswert („Hotel Matze“ zum Beispiel), sind die meisten mehr oder weniger zeitlich begrenzt. Zudem wird hier oft ein Produkt beworben, der neue Film oder das neue Buch des Gastes. Natürlich geht es auch um die Person – aber meist bleibt das Gespräch an der Oberfläche und orientiert sich an den Eckpunkten der Biografie, die ohnehin schon bekannt sind. Bei „Alles gesagt“ aber sitzen wir gemeinsam mit den Podcastern am Tisch und verbringen einen ganzen Abend mit Wein, Essen und Gesprächen mit ihnen. Wir schweifen weit, weit ab – und kommen wieder zurück auf das Leben der eingeladenen Person. So entspinnen sich Diskussionen, die dem Erkenntnisgewinn dienen und nicht nur der Selbstdarstellung des Gastes.

Mit einem Menschen so viele Stunden zu verbringen ist vor allem eines: entlarvend. Niemand (oder fast niemand – ich habe da einen Verdacht, werde diesen aber nicht öffentlich äußern) schafft es, sich so lange zu verstellen, so lange eine Rolle zu spielen. Das nimmt Oberflächlichkeit aus den Gesprächen und schafft einen Unterschied zu den üblichen kurzen O-Tönen in Rundfunk und Fernsehen. Die Podcast-Gäste werden dazu gebracht, Stellung zu beziehen, Haltung zu zeigen, Meinungen zu äußern.

Da ist zum Beispiel die Episode mit Ólafur Elíasson, einem der einflussreichsten Künstler der Gegenwart. Klar sprechen die drei über Kunst, sie reden auch über den Klimawandel, ein Thema das sich durch Eliassons Arbeit zieht. Spannend fand ich aber, wie die drei Männer dann über Adoption sprechen, über die Erfahrungen des Künstlers mit der Ausländerfeindlichkeit in Berlin und über seine adoptierten äthiopischen Kinder. „Ich rede eigentlich nie davon, weil das auch niemanden was angeht“, sagt Eliasson.

500 bis 600 Seiten Lindner

Dazu kommt ein echter Garant für einen guten Podcast: nicht nur sympathische, sondern auch kluge Gastgeber. Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit Online“, und Christoph Amend, Editorial Director des „Zeit-Magazins“. Sie sprechen beide unaufgeregt und mit Humor und lassen sich gegenseitig Raum. Mit jedem Podcast erfährt man auch ein wenig mehr von ihnen – beispielsweise, dass Wegner während der Pandemie zum dritten Mal Vater geworden und Japan-Fan ist. Amend dagegen bleibt bedeckt, was private Geschichten angeht, zeigt sich aber bewandert und begeistert auf jedem Gebiet des Feuilletons. Sie spielen einander die Bälle zu, anstatt sich, wie bei anderen Moderatorenduos oft zu sehen, einzeln nach vorne zu drängen.

Beide wirken dabei stets gut vorbereitet auf den Gast, unterstützt werden sie bei der Recherche von Hannah Schraven und Vincent Mank. Wieviel Material diese beiden zusammentragen, zeigt sich beispielsweise, als Jochen Wegner sagt: „Nach 500 bis 600 Seiten Lindner habe ich nur den Hinweis gefunden, dass Christian Lindner Weißwein trinkt.“ Denn auch das gehört zum Prinzip dieses Podcasts: Herauszufinden, was die Gäste gerne essen und trinken und das dann zu servieren.

Im Gespräch mit Lindner sprechen die drei natürlich über Politik, aber dann redet der FDP-Mann eben auch über Star Wars, seinen Traum vom Oldtimer-Porsche, seine Zeit ohne ein privates Auto („Das war eine Phase übertriebener Vernünftigkeit“), den Soundtrack von „Drive“, den er prompt auf dem Handy anspielt, und darüber, dass er wegen des Films ein großer Fan der Band „Chromatics“ geworden sei: „insbesondere das 2012-er Album ‚Kill for Love‘ find ich gut“.

Wie bei einem Gespräch am Esstisch springt man von Thema zu Thema. Im nächsten Satz ist Lindner schon beim Philosophen Peter Sloterdijk, dessen Telefonnummer er als Teenager im Telefonbuch gesucht und gefunden habe: Er habe sich dann nicht gescheut, den ehrwürdigen Herrn anzurufen, um ihn an seine Schule einzuladen. Solche Bruchstücke aus der Biographie sagen vermutlich mehr über den Menschen Lindner aus als Positionen aus dem Lebenslauf. Und so gleicht dieser Podcast mehr einem Freundschaftsbuch, bei dem man Lieblingsfarbe, -essen und -film mitteilt, anstatt die Stationen einer Vita abzuarbeiten.

Messie oder Kondo?

Um so einen langen Abend dennoch zu strukturieren, haben sich die Macher (und Macherinnen, denn Maria Lorenz-Bokelberg von „Pool Artists“ ist die Produzentin) nette wiederkehrende Rubriken ausgedacht. Neben dem gemeinsamen Essen ist das vor allem das A/B-Spiel. Knapp 100 Entscheidungsfragen werden dem Gast dabei an den Kopf geworfen, die jener möglichst schnell und ohne nachzudenken beantworten muss. Einige der Fragen sind an den Gast angepasst, andere („eingepackte Bio-Gurke oder plastikverpackte normale Gurke“, „Messie oder Kondo?, „Trump oder Putin?“) sind immer gleich. Wie der Gast so tickt, erfährt man nicht nur aus den Antworten, sondern auch daraus, welche Fragen er oder sie nicht beantworten möchte, wann die Denkpause doch länger wird und wann die Antwort wie aus der Pistole geschossen kommt.

Natürlich gibt es nach fast 50 Folgen inzwischen auch eine Menge Running Gags zwischen Wegner und Amend, die sich den Hörern erschließen, den Gästen aber meist nicht – das macht uns umso mehr zu einer eingeschworenen Gemeinde. Dass zum Beispiel Jochen Wegners Laptop gerne und oft Kontakt mit Lebensmitteln hat, oder dass eine betont unschuldige Nachfrage kommt, wenn ein Gast etwas nicht preisgeben möchte.

Natürlich ignoriert das Gespräch die Biografie des Gastes nicht, nutzt sie als roten Faden, schweift aber sehr gerne und ausführlich davon ab, vor allem zu den Themen unserer Zeit. Jüngstes Beispiel: Thea Dorn. Es geht um ihr neues Buch, dann aber auch um die ethische Bewertung der Frage zur Impfpflicht. Es geht um das von ihr moderierte „Literarische Quartett“, gleichzeitig aber auch um die Rolle der Kritikerin allgemein und die Geschichte der Literaturkritik. Immer wieder kommt sie auf einen Gedanken zurück, der ihr am Herzen liegt: Die Rolle der Medien in der aktuellen Pandemie. Dürfen Medien Fakten zurückhalten, wenn sie ahnen, dass sie ein ihrer Meinung nach falsches Verhalten der Menschen auslösen würden? Sie lässt nicht locker, die beiden Medienmänner darauf anzusprechen. Oder die Frage, ob aus privaten Nachrichten zitiert werden darf (der Fall „Bild“ und Julian Reichelt). Medienkritik ist ohnehin ein immer wiederkehrendes Thema dieses Podcasts, beispielsweise auch im Gespräch mit Günther Jauch.

Wegner und Amend kriegen (gefühlt) alle an den Tisch: von Heiko Maas bis Luisa Neubauer, Rezo oder Igor Levit, Alice Schwarzer und Juli Zeh. Mit 8 Stunden und 40 Minuten hält Rezo den Rekord, Ulrich Wickert dagegen plapperte nach 12 Minuten schon das Codewort aus und beendete damit den Podcast unfreiwillig (zweiter Anlauf hier zu hören). Ich hab sie (fast) alle komplett gehört – und freue mich dennoch, dass es bei Podcasts eine Pause-Taste gibt.


Podcast: „Alles gesagt“, produziert von Pool Artists.

Episodenlänge: unterschiedlich, unregelmäßig.

Offizieller Claim: Der unendliche Interviewpodcast.

Inoffizieller Claim: Ein Abend mit Freunden.

Wer diesen Podcast mag, hört auch: „Hotel Matze“ und „Deutschland 3000 – ’ne gute Stunde mit Eva Schulz

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