Panik wegen „Needle Spiking“: Wenn Medien aus Vermutungen Tatsachen machen
Auch in Deutschland berichteten viele Medien über angebliche Spritzenattacken von Männern auf Frauen bei der „Fête de la Musique“ in Frankreich. Doch Belege für die Taten gibt es nicht. Warum voreilige Schlagzeilen gefährlich sind und am Ende tatsächlichen Opfern von Gewalt schaden.
Feiernde Menge bei der „Fête de la Musique“ am 21. Juni 2025 in Paris. IMAGO / NurPhoto
Das Erschreckende ist ja, dass es durchaus denkbar erscheint.
Wenn, wie im Fall der Französin Gisèle Pelicot, ein Mann seine Frau über Jahre immer wieder betäubt, um sie anderen Männern zur Vergewaltigung anzubieten; wenn es Chatgruppen gibt, in denen sich Männer darüber austauschen, mit welchen Mitteln sie ihre Partnerinnen gefügig machen und Bildmaterial davon auf Pornoseiten hochladen: Wie sollte es da unvorstellbar sein, dass es auch Täter gibt, die Frauen auf Partys oder Festivals mit Spritzen attackieren, um ihnen Substanzen zu injizieren, die sie willenlos oder zumindest benommen machen?
In den vergangenen zwei Wochen berichteten zahlreiche Medien über genau solche Angriffe. In Frankreich, bei der landesweiten „Fête de la Musique“, die jedes Jahr zum Sommeranfang gefeiert wird, soll es angeblich zu Dutzenden solcher Körperverletzungen gekommen sein, die auch als „Needle Spiking“ bezeichnet werden. Doch daran gibt es jetzt große Zweifel.
Von „über 140 Spritzenangriffen“ auf Frauen berichtete zum Beispiel der „Kölner Stadtanzeiger“. Der Deutschlandfunk meldete „über 100 Spritzenattacken“. Der WDR berichtete, dass das Festival von „mysteriösen Stichattacken auf Frauen überschattet“ worden sei und ging der Frage nach, ob es „Needle Spiking“ auch in NRW gibt. Und bei „Bild“ befürchtete ein Türsteher nach den Ereignissen in Frankreich, dass es in diesem Sommer auch „auf deutschen Festivals mehr Fälle von Spritzen-Attacken geben wird“.
„Bild“-Schlagzeile vom 30.6.2025 Screenshot: bild.de
Fragwürdiges „Experiment“ bei ProSieben
Es ist nicht das erste Mal, dass groß über die Gefahr von „Needle Spiking“ berichtet wird. Immer wieder erscheinen Meldungen über Spritzen-Attacken in Clubs, auch in Deutschland. ProSieben führte 2022 in einem Berliner Club sogar ein viel kritisiertes „Experiment“ durch. Reporter der Sendung „Zervakis & Opdenhövel. Live“ wollten nach eigenen Angaben herausfinden, ob Besucherinnen so einen Angriff wirklich nicht merken. Sie nutzten allerdings keine Spritzen, sondern einen dünnen Textmarker.
Ich habe dieses „Experiment“ damals im Übermedien-Newsletter kritisiert, weil ich nicht nachvollziehen konnte, wie eine Redaktion auf die Idee kommt, ahnungslose Clubgängerinnen in so eine Situation zu bringen – selbst wenn es in dem Moment keine reale Gefahr gab. Der „Spiegel“ berichtete über die Vorwürfe einer der unfreiwilligen Testpersonen. Sie kritisierte, dass der Sender sie und die anderen Probandinnen zu lange im Unklaren darüber gelassen habe, dass bei dem Versuch harmlose Textmarker zum Einsatz kamen – und nicht doch echte Spritzen. Der Sender bestritt das.
Aber weder der „Spiegel“ noch ich sind damals einer anderen Frage nachgegangen: Was ist an den Berichten über die „Needle Spiking“-Attacken, die ja Anlass für das fragwürdige ProSieben-„Experiment“ waren, eigentlich konkret dran?
Die NDR-Sendung „Strg_F“ machte sich ein paar Wochen später an die aufwendige Recherchearbeit und ging in einer sehenswerten und differenzierten Reportage der Frage nach, wie wahrscheinlich diese Spritzenattacken überhaupt sind. Wie realistisch es also ist, dass jemand serienmäßig mit einer Spritze zusticht, ohne dass es die Opfer gleich bemerken – und welche Belege es für diese Straftaten gibt. Spoiler: nicht viele.
Was es gibt: Frauen, die vermuten, Opfer solcher Angriffe geworden zu sein. Der „Strg_F“-Reportage gelingt es, zu hinterfragen, was viele Medien berichten, und gleichzeitig die Frauen ernst zu nehmen, die Sorge haben, betroffen zu sein – und dabei auch dem Publikum zu erklären, wo die Schwierigkeiten bei dieser Recherche liegen.
Reporterin Patrizia Schlosser sagt an einer Stelle: „Einerseits gibt es das Problem, dass Frauen nicht geglaubt wird. Andererseits gibt es die Notwendigkeit, Fakten zu überprüfen, so wie bei jeder Recherche.“
„Le Monde“-Recherche löst Zweifel aus
Auch beim Musikfest in Frankreich vor zwei Wochen gab es, wie gesagt, Dutzende Frauen, die davon ausgingen, Opfer von Spritzenattacken geworden zu sein. Medien berichteten über Frauen, die annahmen, gestochen worden zu sein, die über Unwohlsein klagten, die sich im Krankenhaus untersuchen ließen. Das Problem ist nur: Viele Medien machten das zur Tatsache.
„Le Monde“: „Stiche während der Fête de la Musique: Aufruhr in Netzwerken und Medien“ Screenshot: lemonde.fr
Ende vergangener Woche veröffentlichte die französische Tageszeitung „Le Monde“ dann einen Artikel, in dem es heißt, dass es zwar 145 gemeldete Verdachtsfälle in Frankreich gab, doch in keinem einzigen Fall sei ein Stich mit einer Spritze nachgewiesen worden. Einige Stiche stellten sich laut Zeitung als Mückenstiche heraus. Auch bei den toxikologischen Untersuchungen habe es keine auffälligen Ergebnisse gegeben. Personen, die zuvor festgenommen worden waren, seien wieder freigelassen worden.
Es gab offenbar tatsächlich Aufrufe in sozialen Medien, Menschen bei der „Fête de la Musique“ mit Spritzen zu stechen – was für sich genommen schon empörend ist, weil es dazu diente, Frauen Angst zu machen. Ein französischer Instagram-Account mit mehr als 100.000 Followern postete vor dem Festival Warnungen, die häufig geteilt wurden.
Auch wenn es nicht ganz auszuschließen ist, dass es auf dem Musikfest oder auch zuvor tatsächlich Fälle gab, in denen Frauen bei Veranstaltungen mit spitzen Gegenständen verletzt oder gar mit Spritzen unter Drogen gesetzt wurden, liegt in diesem Fall doch eher die Vermutung nahe, dass die Social-Media-Posts zu großer Verunsicherung und teilweise Panik geführt haben. Medien sind dem anschließend gefolgt – anstatt abzuwarten, zu recherchieren und der Angst mit Sachlichkeit zu begegnen.
Korrektur beim „Spiegel“
Mittlerweile greifen auch deutsche Medien die Zweifel am Ausmaß der Spritzenattacken auf – etwa der „Spiegel“. Eine erste Onlinemeldung vom 22. Juni zu den Vorfällen in Frankreich wurde im Nachhinein überarbeitet. In einem Transparenzhinweis unter dem Text erklärt die „Spiegel“-Redaktion, dass bisher kein einziger Fall bestätigt werden konnte und man „einige Stellen im Nachhinein vorsichtiger formuliert“ habe.
In einem Gastbeitrag, der am 26. Juni – einen Tag vor der „Le Monde“-Recherche – beim „Spiegel“ erschienen ist, rechnet die Autorin Alexandra Zykunov mit den Medienberichten über die „Anschlagserie mit Spritzen“ ab, die angeblichen Ereignisse beim Musikfest als „mysteriös“ bezeichnet hatten. Wie in der Presse berichtet wurde, sei „an verharmlosender Rhetorik kaum zu übertreffen“.
Ich kann ihre Kritik im Kern nachvollziehen, weil auch ich immer wieder beobachte, dass Medien verharmlosend über Gewalt gegen Frauen berichten (wobei ich auch Besserungen sehe). Und natürlich ist es, wie sie schreibt, nicht mysteriös, wenn Frauen angegriffen werden – ob mit K.-o.-Tropfen beim Feiern oder im privaten Umfeld. Es ist leider: Alltag.
Allerdings basiert ihr wütender Text auf Ereignissen, die in diesem Fall höchstwahrscheinlich so nicht stattgefunden haben – zumindest nicht in dem Ausmaß, wie viele Medien und Accounts in sozialen Netzwerken es behauptet haben. Ein einordnender Nachtrag unter ihrem Text fehlt bislang.
Es ist leider so, dass Frauen, die Übergriffe erlebt haben, oft nicht geglaubt wird. Dass Medien nun in großem Stil über mutmaßliche Taten berichtet haben, die sich so vermutlich nicht ereignet haben, kann dazu führen, dass Betroffenen künftig noch weniger geglaubt wird. Nach der Devise: Ach, da in Frankreich haben sie ja auch irgendwas behauptet, was dann ganz anders war.
Die Autorin
Foto: Yvonne Michailuk
Lisa Kräher ist Redakteurin bei Übermedien. Sie hat bei der „Mittelbayerischen Zeitung“ volontiert und von 2013 an als freie Journalistin und Filmautorin gearbeitet, unter anderem für epd. Sie ist Autorin für die „Carolin Kebekus Show“ und Mitglied der Grimme-Preis-Jury.
5 Kommentare
Oha, danke! Ich las die Berichte über die Attacken mit Befremden. Daß sich das jetzt im Grunde als Ente herausstellt, erfuhr ich erst hier. Beruhigend…
Das waren aber doch wohl (vermutete) Sp(r)itzenattacken und keine Spitzenattacken ;-)
Ich bin ja nun schon eine Weile auf dieser Welt unterwegs, und so sind mir schon Ende der Neunziger entsprechende Berichte immer wieder untergekommen. Damals gerne in Form von Kettenmails, dann irgendwann in leicht variierender Form auf Facebook – meist fand man identische Texte, bei denen nur die Orte (hier in München meist der Kunstpak Ost) angepasst wurden, um die jeweilige Zielgruppe sicher abzuholen. Klassische Urban Legends halt. Früher waren es nur meist „AIDS-Spritzen“. Daher war ich gleich der Meinung, dass es doch nur wieder die alte Panikmache ist. Gewundert habe ich mich allerdings, dass auch seriöse Medien davon berichteten. Danke daher für die Recherche.
@Chateaudur: Beruhigend ist daran allerdings wenig, solange die reale Gefahr für (meistens) Frauen besteht, K.O.-Tropfen untergejubelt zu bekommen.
@Inga (#4):
Klassische Urban Legends halt.
In der Tat. Anfang der 90er hieß es, Dealer wären in Discos unterwegs und würden Leuten auf der Tanzfläche unbemerkt Heroin spritzen, um sie süchtig zu machen. (Na klar, so funktioniert das…) Der Topos ist also über 30 Jahre alt und taucht in wechselnden Kontexten immer wieder auf – mit dem Unterschied, dass er sich heute dank Sozialer Medien rasend schnell verbreitet, und dass auch seriöse Redaktionen aufspringen.
Die Bezeichnung „mysteriös“ finde ich da übrigens ziemlich treffend: Viele reden über ein Phänomen; manche meinen, es erlebt zu haben; Belege oder auch nur greifbare Hinweise gibt es aber nicht.
Und es geht weiter, auch in Deutschland. Heute meldet der Deutschlandfunk „Mysteriöse Spritzenattacken“ in Berlin und Bayern.
Oha, danke! Ich las die Berichte über die Attacken mit Befremden. Daß sich das jetzt im Grunde als Ente herausstellt, erfuhr ich erst hier. Beruhigend…
Das waren aber doch wohl (vermutete) Sp(r)itzenattacken und keine Spitzenattacken ;-)
Ich bin ja nun schon eine Weile auf dieser Welt unterwegs, und so sind mir schon Ende der Neunziger entsprechende Berichte immer wieder untergekommen. Damals gerne in Form von Kettenmails, dann irgendwann in leicht variierender Form auf Facebook – meist fand man identische Texte, bei denen nur die Orte (hier in München meist der Kunstpak Ost) angepasst wurden, um die jeweilige Zielgruppe sicher abzuholen. Klassische Urban Legends halt. Früher waren es nur meist „AIDS-Spritzen“. Daher war ich gleich der Meinung, dass es doch nur wieder die alte Panikmache ist. Gewundert habe ich mich allerdings, dass auch seriöse Medien davon berichteten. Danke daher für die Recherche.
@Chateaudur: Beruhigend ist daran allerdings wenig, solange die reale Gefahr für (meistens) Frauen besteht, K.O.-Tropfen untergejubelt zu bekommen.
@Inga (#4):
In der Tat. Anfang der 90er hieß es, Dealer wären in Discos unterwegs und würden Leuten auf der Tanzfläche unbemerkt Heroin spritzen, um sie süchtig zu machen. (Na klar, so funktioniert das…) Der Topos ist also über 30 Jahre alt und taucht in wechselnden Kontexten immer wieder auf – mit dem Unterschied, dass er sich heute dank Sozialer Medien rasend schnell verbreitet, und dass auch seriöse Redaktionen aufspringen.
Die Bezeichnung „mysteriös“ finde ich da übrigens ziemlich treffend: Viele reden über ein Phänomen; manche meinen, es erlebt zu haben; Belege oder auch nur greifbare Hinweise gibt es aber nicht.
Und es geht weiter, auch in Deutschland. Heute meldet der Deutschlandfunk „Mysteriöse Spritzenattacken“ in Berlin und Bayern.