Gewalttat in Senzig

Die eilige Erzählung vom „Impfgegner“, der aus Angst vorm Staat tötete

In Senzig, einem Stadtteil von Königs Wusterhausen in Brandenburg, hat ein Mann vor einigen Tagen mutmaßlich seine Frau und seine drei Kinder ermordet. Anschließend tötete er sich offenbar selbst.

Es ist ein schreckliches Verbrechen, das in vielen Medien euphemistisch als „Familiendrama“ bezeichnet wird oder als „Tragödie“, was auch nicht besser ist. Denn Worte wie diese verharmlosen Gewalt und verschleiern strukturelle Probleme. Das ist auch hinlänglich bekannt, trotzdem werden diese Begriffe in solchen Fällen immer wieder von Medien genutzt.

Aber auch darüber hinaus ist die Berichterstattung über den Senziger Fall problematisch – weil sie die Tat eilig in Verbindung setzt mit jenem großen Thema, über das gerade gestritten wird: das Impfen gegen Covid-19.

„B.Z.“ vom 8.12.2021

Viele Nachrichtenseiten verbreiten, was der angebliche Grund für die Tat gewesen sein soll. „Motiv war ein gefälschter Impfpass“, schreibt etwa die „Berliner Zeitung“ in der Überschrift – ganz ohne Konjunktiv. Ähnlich „rosenheim24″: „Wegen gefälschtem Impfpass: Mann tötet Frau und seine drei Kinder“ – als wäre die Sache geklärt. Für „Bild“ ist es das „Schock-Motiv“, und die „Bild“-Schwesterzeitung „B.Z.“ füllte mit der Schlagzeile „Mordmotiv gefälschter Impfpass“ am Mittwoch fast die gesamte Titelseite.

Der Mann, der mutmaßlich seine Familie und sich selbst umbrachte, soll zuvor den Impfpass seiner Frau gefälscht haben, heißt es in den Berichten. Das sei beim Arbeitgeber der Frau aufgeflogen, was dem Mann angeblich Sorge bereitete. „Fünf Tote in Brandenburg: Vater hatte Angst vor Verhaftung“, titelt die Deutsche Presse-Agentur (dpa), was unter anderem von „Zeit“ und „Süddeutscher Zeitung“ übernommen wurde.

Die Quelle für das angebliche Tatmotiv ist der zuständige Oberstaatsanwalt. Er wird von der dpa mit den Worten zitiert, das Paar habe „Angst vor einer Verhaftung und dem Verlust der Kinder“ gehabt.

Es ist eine monokausale Erklärung. Und es ist natürlich menschlich, eine solche Tat verstehen zu wollen. Aber: Tötet ein Mensch tatsächlich, weil er Angst vor Sanktionen wegen eines gefälschten Impfpasses hat? Ist es so simpel? Und spielten womöglich noch andere Faktoren eine Rolle, die so schnell, nur wenige Tage nach der Tat, noch nicht ersichtlich sind, weil man sie erst ermitteln muss? Zumal dem Mann offenbar weder Haft gedroht hätte noch der Entzug seiner Kinder. Viele Fragen sind noch offen.

Auch dass immer wieder die Rede vom „Paar“ ist, das „Angst vor Verhaftung und Kindesentzug“ hatte, ist problematisch. Als wäre die Tat auch im Sinne der Frau gewesen und der Mann habe sie nur ausgeführt.

Aus Abschiedsbrief zitiert

Bemerkenswert ist auch die Quelle, auf die der Oberstaatsanwalt seine Annahme stützt: ein Abschiedsbrief des Mannes, der im Haus von der Polizei gefunden wurde.

Bemerkenswert ist das deshalb, weil es eigentlich ein Tabu ist bei Suiziden, Abschiedsbriefe zu veröffentlichen oder ihren Inhalt auch nur teilweise öffentlich wiederzugeben. Insbesondere, um zu verhindern, dass andere Menschen zu Nachahmern werden. Je mehr Gründe für eine Tat öffentlich sind, desto mehr können sich Menschen damit identifizieren.

Wie also wurden Inhalte des Abschiedsbriefs in diesem Fall öffentlich? Und warum berichten Medien darüber, sogar die seriöse Deutsche Presse-Agentur? Auf Anfrage von Übermedien antwortet die dpa: „Über den Inhalt des Abschiedsbriefs hat die Staatsanwaltschaft als ermittelnde Behörde informiert.“ Aus Abschiedsbriefen im Zusammenhang mit Suiziden zitiere die dpa „in aller Regel nicht“, ohnehin berichte man, „wenn überhaupt, dann nur mit größter Zurückhaltung über Selbsttötungen“. In diesem Fall habe der Brief „den ersten und bislang einzigen Hinweis auf den möglichen Hintergrund beziehungsweise ein mögliches Motiv für dieses Verbrechen“ gegeben.

Nachfrage bei der Behörde. Gernot Bantleon, Oberstaatsanwalt in Cottbus, sagt im Telefonat mit Übermedien: „Wir mussten davon ausgehen, dass anderen der Abschiedsbrief schon bekannt war.“ Nachbarn sei aufgefallen, dass bei der Familie etwas nicht stimme. Sie seien die ersten am Tatort gewesen. Gut möglich also, so Bantleon, dass bereits jemand den Abschiedsbrief gelesen habe. Man habe die Sorge gehabt, dass es heiße, die Behörden würden Informationen unterdrücken. „Wenn ich mir überlege, was geschrieben worden wäre, wenn wir nichts gesagt hätten…“, sagt der Oberstaatsanwalt – „da möchte ich lieber nicht drüber nachdenken“.

Vorauseilend alles preisgeben

Das ist eine fragwürdige Begründung für das Vorgehen der Behörde. Die Möglichkeit, dass sie angibt, erste Hinweise auf ein Motiv zu haben, aber um Zeit und Geduld bittet, um in Ruhe ermitteln zu können, existiert offenbar für die Staatsanwaltschaft nicht. Stattdessen entscheidet sie sich, die angebliche Angst vorm Staat als Motiv zu veröffentlichen, um einem eventuell möglichen Shitstorm sogenannter „Impfgegner“ oder „Querdenker“ vorzubeugen, sollten diese Wind davon bekommen.

Das erinnert an die Pressearbeit diverser Polizeidienststellen, wenn es um mutmaßliche Straftaten von Menschen geht, die keinen deutschen Pass besitzen oder eine Migrationshintergrund haben. Auch hier wurde in der Vergangenheit oft vorauseilend alles preisgegeben, was ganz zu Beginn der Ermittlungen bekannt war, etwa die Nationalität von Tatverdächtigen – mit den entsprechenden Folgen für die Debatte über die jeweilige Tat.

Auch im Fall Senzig raunen nun manche, auch Journalisten, über mögliche Gründe für die Tat. „Wie groß soll der Druck noch werden?“, fragt die rechte Wochenzeitung „Junge Freiheit“. „Was ist los mit diesem Land?“, twittert der NZZ-Redakteur Alexander Kissler. Und der Journalist Michael Ziesmann übersteigert das Ganze zum „Staatsterrorismus“, der ursächlich sei:

Vieles, was da gerade kommentiert wird, klingt, als zeige der Fall in Senzig beispielhaft, wie sehr hier in Deutschland alles aus dem Ruder laufe. Politik, die Menschen dazu treibe, sich und ihre Familie zu töten. Es ist ein Narrativ, das den Mann aus Senzig für Menschen, die sich von einer vermeintlichen „Coronadiktatur“ gegängelt fühlen, zum Märtyrer aufsteigen lässt.

Mittlerweile wurde auch bekannt, dass der Mann der „Corona-Leugner-Szene“ nahegestanden haben soll, wie beispielsweise das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtet. Der Text ist als „Spurensuche“ angekündigt. Chat-Nachrichten des Mannes werden dort zitiert, auch ein Experte für Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus kommt vor. Er warnt davor, „zu diesem Zeitpunkt zu viel Interpretation der Tat zu wagen“. Weitere Aufklärung bleibe abzuwarten. Gleichzeitig wagt er die Prognose, dass weitere Gewalttaten aus dieser Szene wahrscheinlich seien. Nur welche? Gegen den Staat? Gegen weitere Ehefrauen und Kinder? Das steht da nicht.

Es ist wichtig, die Gewaltbereitschaft von „Impfgegnern“ und „Querdenkern“, die sich radikalisieren, ernst zu nehmen und zu thematisieren. Aber alle, die vorschnell das Motiv „Impfpassfälschung“ unhinterfragt übernehmen und daraus reißerische Überschriften und plakative Titelseiten machen, nehmen in Kauf, diese mutmaßliche Gewalttat auf eine Art nachvollziehbar zu machen, Mitleid zu erwecken und Verständnis. Sie übernehmen die Sicht des Täters.

Das ist gefährlich, und es lässt in den Hintergrund rücken, was hier anscheinend passiert ist: ein Mann tötet seine Frau und seine drei Kinder. Man nennt das, wenn sich alles bestätigt, häusliche Gewalt, Mord. Oder im Fall einer durch ihren Partner getöteten Frau auch: Femizid.

15 Kommentare

  1. Nett, dass Frau Kräher zugesteht, die Suche nach einem Motiv sei „menschlich“. Nur ist es auch sehr von oben herab. Denn es meint in diesem Kontext: Es sei dumm. Schließlich weiß Frau Kräher schon alles und will gar nicht mehr wissen.

    Denn wenn man „Femizid“ draufschreiben kann, trage jede weitere Frage zur Verharmlosung oder zur Ablenkung bei. Das ist die Logik hinter diesem Text. Es ist dieselbe Logik, die schon bei den Morden in einem Potsdamer Behindertenwohnheim nichts über den Einzelfall wissen wollte – Hauptsache, das Etikett stimmt. Dann ist das simple Welterklärungsmuster bedient.

    Hier noch die nächste Moralkeule: Wer über den Zusammenhang zwischen den mutmaßlich kriminellen Machenschaften des Täters frage, liefert Futter für die Querdenkerszene. Noch ein Gewürz im „Was interessiert mich die Tat, wenn das Narrativ so schön aufgeht?“

    Und der bloße Gedanke, dass die Tat auch im Sinne der Frau gewesen könnte, ist für Frau Kräher natürlich schlicht unmöglich. Denn dann wäre das Narrativ im Eimer. Also auch hier: Bitte keine Nachforschungen!

  2. Alter Falter! Wer ist denn dieser Ziesmann? „Deutscher Staatsterrorismus“. Geht’s noch bescheuerter? Vermutlich…

  3. OT aus gegebenem Anlass: Werden wir es noch erleben – vielleicht noch in diesem Jahr? -, dass, wenn „2 Kommentare“ unter einem Artikel steht, auch 2 (in Worten: zwei) Kommentare dort angezeigt werden? Oder bleibt es bei der Interpretation „es sind 2 Kommentare in der Mache, also hey, freu Dich drauf, irgendwann wirst Du sie schon sehen, aber erstmal siehste nix!“?

  4. „… diese mutmaßliche Gewalttat auf eine Art nachvollziehbar zu machen, Mitleid zu erwecken und Verständnis. Sie übernehmen die Sicht des Täters.“

    Ist das nicht ein bisschen zu einfach? Bloß weil man die Begründung des möglichen Täters hinschreibt, macht es das doch nicht nachvollziehbar oder sorgt für Mitleid. So dumm sind Leser nicht, die können das einordnen.

    Es kommt doch vor allem auf die Voreinstellung des Lesers an. Wer eh schon Querdenker ist, wird für die Tat den Staat und seine Maßnahmen verantwortlich machen. Und alle anderen sehen einen Mann, der wohl seine Familie getötet hat, vermutlich radikalisiert durch die Querdenker-Szene.

  5. Wann wollt ihr eigentlich das Problem mit den angezeigten aber nicht lesbaren Kommentaren fixen? Das geht jetzt schon monatelang seit dem neuen Layout so.
    Ich bin begierig und kann es kaum abwarten zu erfahren, was z. B. Mycroft auch zu diesem Thema hier zu sagen hat!

  6. Und neben dem Artikel geht das Sterben munter weiter:
    „Oh oh oh – Kaufhaus-Weihnachtsmann stirbt aus.“ Um dann mit einem absolut superlogischen Kausalzusammenhang überzuleiten: „Dafür schenkt Ihnen die BZ 160 Euro für ein Abo.“ Kann diese Art von Zeitung nicht endlich sterben?

  7. Ich sehe das wie Marvin; wenn die Schlagzeile lautete:

    „Flacherdler stiehlt seiner Frau Flugtickets für Australienreise!
    Motiv war die Angst, sie könnte über die Kante fallen“

    würden wohl die allermeisten denken: „Was für ein Depp!“

    Was jetzt nicht heißen soll, dass man Selbstmordmotive veröffentlichen sollte, wenn sie abwegig genug sind.

    Wo wir gerade wieder beim Thema sind: „Infantizid“ passt hier besser als „Femizid“.

  8. @Mycroft
    Niemand hier hat diese Tat als Femizid bezeichnet. Frau Kräher benutzte diesen Begriff im letzten Absatz ausdrücklich für die Tötung einer Frau durch ihren Partner, ohne Kinder.
    Insofern, Thema verfehlt!

  9. „Niemand hier hat diese Tat als Femizid bezeichnet.“ Niemand hier hat behauptet, dass jemand das getan hätte.
    Das Thema „was ist ein Femizid?“ wurde dessenungeachtet im Artikel angesprochen und ist daher ebenso Thema wie Impfpflicht und Verschwörungstheorien.

  10. Der Tweet von diesem Ziesmann ist an Ekelhaftigkeit kaum zu übertreffen. Wenn dann müsste es heißen: Querdenkerterror fordert 4 Todesopfer. (Den Mörder sollte man bitte nicht zu den Opfern zählen.) Dass sich Agressoren als Opfer stilisieren, ist ja nichts neues, aber das sollte man den Seuchenbefürwortern ebensowenig durchgehen lassen wie Rechtsextremen oder Islamisten.

    Hinsichtlich des Textes bin ich aber tendenziell beim Kritischen Kritiker. Von möglichen politischen Hintergründen einer solchen Tat nichts wissen zu wollen ist auch eine Form von Ignoranz.

  11. Gendern ist Mittel zum Zweck. Artikel sind Mittel zum Zweck. Welche Sache wäre denn stattdessen Selbstzweck oder zwecklos?

  12. Moin
    Fette Ideologiedebatte mal wieder.
    Und es mag ja Zufall sein, aber letztlich fällt doch auf, dass Artikel von Frauen hier schneller mal heftigen Widerstand“triggern“ ( ja, Absicht ) als die von Männern.
    Also, was Frau Kräher da schreibt ist, dass wir uns Zeit lassen sollten, also vor vorschnellen Urteilen hüten und so.
    Daraus wird dann der Vorwurf gestrickt, die Autorin sei „von oben herab“ ( und wahrscheinlich sowieso woke, gendernd und ganz bestimmt für eine Quote ).

    Ja, eine Lanze für mehr Täterverständnis, auch bei Behindertenermordung.
    Wäre ich doch in „Afrika“ geblieben. Ist eigentlich bald Januar?

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