Eine Gratwanderung: Aus Afghanistan berichten, ohne sich und andere zu gefährden
Vorigen Montag in Kabul: Ein Team des amerikanischen Nachrichtensenders CNN filmt eine Gruppe von Taliban-Kämpfern, die bewaffnet auf einem Pick-up posiert. Vor ihnen steht Korrespondentin Clarissa Ward, 41, eine erfahrene Reporterin. Sie fragt, was die Männer Amerika mitzuteilen hätten. Die Taliban antworten, Amerika habe genug Zeit in Afghanistan verbracht. Kurz darauf skandieren die Männer: „Tod für Amerika!“
CNN’s @clarissaward reports on what Afghanistan looks like as the Taliban take over.https://t.co/pJuaHC3iBC pic.twitter.com/zx9shFE8Lj
— New Day (@NewDay) August 16, 2021
Es sind bizarre Szenen. So beschreibt es Ward auch selbst. Einerseits riefen sie diese Parolen, andererseits wirkten sie freundlich. Zu ihr. Zu einer Journalistin aus dem verhassten Westen. Einer Frau.
In einer anderen Szene, vor dem Präsidentenpalast, wird Ward gebeten, sich auf die Seite zu stellen. Weil sie eine Frau ist. Am Tag danach: Schalte von einem Basar in Kabul. Ward berichtet über den steigenden Absatz von Burkas, die Frauen vorsorglich kaufen, weil sie fürchten, anders bald nicht mehr raus auf die Straße gehen zu können. Ward selbst trägt ein schwarzes Überkleid und einen Hidschab, zur Sicherheit. Aber diese Sicherheit ist fragil. Am Donnerstagabend meldete die Deutsche Welle, dass Taliban den Angehörigen eines Mitarbeiters getötet haben.
Eine Gratwanderung
Wie viel Risiko sollten Journalist*innen und deren Helfer derzeit eingehen, um über die Machtübernahme der Taliban zu berichten? Und was tun Sender, auch deutsche, um ihre Mitarbeiter*innen zu schützen, aber auch Interviewpartner vor Ort nicht zu gefährden? Es ist eine Gratwanderung.
Clarissa Ward wird für ihre subtilen Fragen, ihren Mut gefeiert. Sie ist eine der wenigen Frauen, die sich dort gerade öffentlich bewegt. Und eine der wenigen ausländischen Journalist*innen, die noch aus Afghanistan berichten. Die Taliban dulden es. Offenbar auch, weil Ward unter anderem mit Najibullah Quraishi zusammenarbeitet, einem afghanisch-britischen Filmemacher, der seit vielen Jahren mit den Taliban in engem Kontakt steht. Und weil es willkommene Propaganda ist – vor den Kameras des Feindes.
Korrespondent*innen und Reporter*innen aus Deutschland befinden sich aktuell nicht mehr in Afghanistan. Für die ARD, zum Beispiel, berichtet das Studio in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi – mit Hilfe von afghanischen Producern vor Ort. Eine riskante Angelegenheit. Denn viele von denen, die westlichen Medien all die Jahre geholfen haben, beim Recherchieren, Filmen, Übersetzen, fürchten ohnehin bereits um ihr Leben.
Um an Informationen zu gelangen, sind hiesige Sender, Agenturen und Zeitungen auf ebenjene afghanischen Mitarbeiter*innen angewiesen: sogenannte Stringer, Producer, auch Kameraleute. Mehrere Medien, darunter „Zeit“, „Spiegel“, Deutschlandradio und RTL, forderten am Sonntag in einem Offenen Brief Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) dazu auf, ein „Visa-Notprogramm“ einzurichten, „für Übersetzerinnen und Übersetzer, Producerinnen und Stringer, die angesichts des Vormarsches der Taliban Verhaftung, Folter und Exekution fürchten“.
Ob diese Menschen es aus dem Land schaffen, ist ungewiss. Und trotz der Gefahr arbeiten manche von ihnen weiter.
Mit ZDF-Mikro durch Ghazni
Das „heute journal“ (ZDF) beispielsweise sendete am Montag einen Beitrag aus der Stadt Ghazni, rund 150 Kilometer südwestlich von Kabul. Gedreht wurde er von einem Kameramann und einem Producer, die dort für das ZDF arbeiten – und die erkennbar mit einem ZDF-Mikro unterwegs waren.
Sie haben auf den Straßen gefilmt und im örtlichen Radiosender, der von den Taliban übernommen wurde, den neuen Chef interviewt. Den Beitrag aus dem Material hat dann Katrin Eigendorf gemacht, die seit vielen Jahren für das ZDF über Afghanistan berichtet.
Ghazni sei ein überschaubares Städtchen, 70.000 Einwohner, erzählt Eigendorf im Gespräch mit Übermedien. Die Mitarbeiter dort seien gut in den örtlichen Strukturen eingebunden, deshalb sehe sie keine Gefahr: „Es sind langjährige Kontakte, die zwischen den Mitarbeitern vor Ort und den lokalen Taliban bestehen, die ihnen die Möglichkeit geben, ihre Arbeit zu machen.“ Was auch eine Art Deal ist. „Die Taliban wollen ja in gewisser Form Öffentlichkeit haben.“
Wirklich frei sind die Kollegen bei ihrer Arbeit aber natürlich nicht, das wird von den Taliban genau verfolgt. Kritische Fragen stellen? Kaum möglich. „Es ist schwierig“, sagt Eigendorf. „Wir dürfen im Beitrag nicht zu scharf sein, um unsere Mitarbeiter nicht zu gefährden, und trotzdem müssen wir realistisch genug sein, um nicht zu beschönigen, was für ein Regime das ist.“ So ist dann auch der Beitrag: eher beschreibend, ohne scharfe Wertung.
Anders als die Mitarbeiter in Ghazni ist Eigendorfs Hauptproducer in Kabul einem größerem Risiko ausgesetzt. Er hat in der Vergangenheit an vielen Berichten mitgearbeitet, in denen die Taliban kritisiert wurden. Nun weiter für das ZDF zu berichten: für ihn nicht mehr möglich. „Er hat ein gesichertes Büro, macht bestimmte Fahrten nur mit Begleitschutz“, sagt Eigendorf. Seine Sicherheit habe für das ZDF „oberste Priorität“. Seit Monaten hätten sie die Sicherheitsmaßnahmen permanent nachjustiert.
Wie aufreibend es nun ist, ihn und seine Familie zum Flughafen zu lotsen, davon berichtete Eigendorf am Donnerstagabend bei „Maybrit Illner“. Den ganzen Tag habe man im Krisenstab des ZDF damit zugebracht, ihn „irgendwie da hin zu dirigieren“, ohne Erfolg. Er sage, es gebe keinen deutschen Soldaten, der für ihn zuständig sei. Und die Amerikaner ließen ihn nicht rein. Am heutigen Freitag wolle man es weiter probieren. Aber Eigendorf klingt verzweifelt: Sie wisse auch gar nicht mehr, sagt sie, was sie ihrem ZDF-Mitarbeiter mit auf den Weg geben solle.
„Tagesschau“ löscht Beitrag
Auch die ARD dreht „in vertrauensvoller Zusammenarbeit“ mit Producern vor Ort, schreibt die Pressestelle auf Anfrage. Zum Beispiel einen Taliban-kritischen Beitrag, der am Dienstag in den „Tagesthemen“ lief und in dem unter anderem ein afghanischer Ladenbesitzer auftritt, der sich zu Hause versteckt. „Wir achten in allerhöchstem Maße auf die Sicherheit unseres Kameramanns in Kabul“, schreibt die ARD. Am Ende liege „die letzte Entscheidung immer bei ihm“. In diesem Fall sei es ein kurzer Dreh gewesen, nicht weit entfernt und auf wenige Minuten begrenzt.
Am selben Abend sendete die ARD in der „Tagesschau“ einen weiteren Beitrag, in dem auch ein afghanischer Mitarbeiter des ARD-Fernsehens auftrat. Sein Gesicht war unkenntlich gemacht, im Anschluss aber hatte die ARD trotzdem Bedenken – und löschte den Beitrag aus der Online-Fassung der Sendung. Auf Nachfrage schreibt die Pressestelle: „Wir bewerten die Lage ständig neu und haben nach der TV-Ausstrahlung entschieden, die Verbreitung im Netz zu beschränken. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, es lagen keine Hinweise auf eine akute Gefährdung vor.“
Die ARD schreibt, sie schaue „mit großer Sorge auf die Lage vor Ort und auf die Gefahr, die von den Taliban unter anderem für unsere afghanischen Producer und andere Medienschaffende ausgeht“. Der Schutz von Menschenleben genieße höchste Priorität. Die ARD stehe mit den Producern im regelmäßigen Austausch und berate sich „mehrmals täglich mit ihnen“. NDR und MDR als federführende Sender hätten einen gemeinsamen Krisenstab eingerichtet. „Nun liegt die Priorität darauf, den Producern so schnell wie möglich eine sichere Ausreise zu ermöglichen.“
Was, wenn die Helfer weg sind?
Viele Medien stützen sich bei der Berichterstattung über Afghanistan derzeit auf Material von Agenturen wie der französischen AFP. Auch dort habe man sich in den vergangenen Wochen bereits darum gekümmert, dass die, die möchten, ein Ausreise-Visum bekommen, heißt es auf Nachfrage. Einige Mitarbeiter*innen, sowohl afghanische als auch ausländische, hätten selbst entschieden, im Land zu bleiben. Mehr könne man aus Sicherheitsgründen nicht sagen, teilte die AFP-Zentrale in Paris mit. Auch die dpa möchte dazu nichts sagen, aus demselben Grund.
Was zu den Fragen führt: Wie geht es nun weiter? Wie können westliche Sender künftig aus diesem Land berichten? Sind es womöglich die letzten Bilder, die wir aus Afghanistan sehen?
Die Autorin
Lisa Kräher hat bei der „Mittelbayerischen Zeitung“ volontiert und lebt als freie Journalistin und Filmemacherin in Nürnberg.
Wolfgang Bauer ist Reporter bei der „Zeit“. Er reist seit zwanzig Jahren regelmäßig nach Afghanistan und hat den Offenen Brief an Bundeskanzleramt und Außenministerium angestoßen. Momentan ist er damit beschäftigt, die Ausreise afghanischer Mitarbeiter*innen deutscher Medien zu organisieren. Aber sobald es möglich ist, will Bauer wieder nach Afghanistan reisen, um selbst zu berichten. Aus einem Land, aus dem viele gerade bloß weg wollen.
Wo bekommt er dann Informationen her, wenn örtliche Mitarbeiter evakuiert sind oder sich nicht mehr trauen, mit ihm zu kooperieren? „Wir brauchen Leute, die erfahren sind und sehr gutes Englisch sprechen. Sonst kommst du den Menschen nicht nahe und verstehst die Zusammenhänge nicht.“
Einer, der Bauer schon öfter geholfen hat bei den Recherchen, kann ihm nun nicht mehr helfen. Er wurde ermordet. Bauer hat vergangene Woche einen herzzerreißenden Nachruf geschrieben auf Amdadullah Hamdard, einen jungen Mann, Anfang dreißig, Vater von vier Kindern. Einer, der noch hoffte, die Demokratie würde sich durchsetzen in seiner Heimat. Einer, den sie dann erschossen haben. Auf offener Straße.
„Mit den Leuten, die für ein offenes und demokratisches Afghanistan eingestanden sind und die nach unseren Prinzipien gearbeitet haben, werden wir in Afghanistan in Zukunft so nicht mehr arbeiten können“, sagt Katrin Eigendorf vom ZDF. Bilder werde es schon noch geben, Material von internationalen Sendern wie Al Jazeera etwa. Doch das seien Bilder, „die man nicht einfach so zeigen kann“.
Die Taliban im Präsidentenpalast von Kabul, zum Beispiel. Sowas müsse eingeordnet werden, sagt Eigendorf: Wie sind solche Bilder entstanden? Wer hat welches Interesse? „Das ist massive Propaganda, die wir als Sender so nicht weitergeben können.“
Was die nächste Frage sein wird, über die schon vor Jahren diskutiert wurde: Was zeigen Medien? Und wie fallen sie nicht auf die Propaganda-Bilder der Taliban rein und tun ihnen den Gefallen, sie auch noch zu verbreiten?
Wie wichtig Einordnung ist, wurde auch am Dienstag klar. Im afghanischen Fernsehsender „Tolo News“ interviewte eine Frau einen Taliban. Es sollte offenbar demonstrieren, dass unter Führung der Taliban auch Frauen gewisse Rechte eingeräumt werden und das Image der brutalen Gotteskrieger nicht mehr zutrifft. Der schöne Schein. Wie zweifelhaft er ist, betont auch die ehemalige afghanische Ministerin für Frauenfragen, Hosna Jalil, am Dienstag in der „Tagesschau“. Einen Tag später wurde Shabnam Khan Dawran, einer bekannten Nachrichtenmoderatorin des afghanischen Staatssenders RTA Pashto, der Zutritt zu ihrem Arbeitsplatz verwehrt.
So gefährlich, so schwierig die Bedingungen für Recherche und Drehs momentan auch sind: „Es war noch nie so wichtig, aus Afghanistan zu berichten wie jetzt“, sagt Wolfgang Bauer. „Damit von der Weltgemeinschaft Druck aufgebaut werden kann.“ Im Moment aber seien die Lichter bereits in den großen afghanischen Städten und Provinzen ausgegangen. Und westliche Medien stehen vor dem Dilemma, dass sie der Welt von den Gräueln vor Ort berichten wollen, aber gleichzeitig alles tun müssen, um ihre Mitarbeiter*innen und Interviewpartner*innen ausreichend zu schützen.
Nachtrag, 21.8.2021. Nun hat auch Clarissa Ward das Land verlassen.
Just landed in Doha with the team and nearly 300 Afghan evacuees. Huge thanks to all of you for your support and concern, to the US Air Force for flying us out and to Qatar for welcoming us. We are the lucky ones.
— Clarissa Ward (@clarissaward) August 21, 2021
Ich denke, das Wesentliche fasst der letzte Absatz gut zusammen: Es war noch nie wichtiger, aus Afghanistan zu berichten. Zugleich ist es lebensgefährlich.
Ich hoffe für alle Kolleginnen und Kollegen dort, dass alles gut geht. Und danke zugleich, dass sie ihre persönliche Sicherheit zugunsten der Berichterstattung hintenanstellen. Größter Respekt dafür.
Keinerlei Respekt habe ich allerdings davor: „Sie fragt, was die Männer [Taliban] Amerika mitzuteilen hätten.“ Ernsthaft? Wenn es sonst nix zu fragen gibt, dann frag halt nix. Ne Steilvorlage für Propaganda nenne ich das.
„Tod Amerika“-Rufe zu provozieren, gilt nicht als Leistung, wenn es Taliban sind.
Fast so gefährlich für Journalisten, wie bei ’ner Querdenker Demo (DE) oder bei den Proud Boys (US).
Aber die Selfawarewolves haben es so langsam ja auch kapiert, auf wessen Seite sie stehen:
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Wie lange das überhaupt noch gehen wird?