Fehlende Berichte aus Afghanistan

Terror in Kabul? Interessiert doch nur, wenn die deutsche Botschaft betroffen ist

Ende November floss in Afghanistan abermals Blut. In der Provinz Bamiyan, die lange als „sicher“ galt und in den vergangenen Jahren zu einem Touristenort wurde, gingen zwei Sprengsätze hoch, mitten auf dem Basar. 14 Menschen starben. Es war einer der schwersten Angriffe dort. Seit Jahren.

Doch die wenigsten Leserinnen und Leser hierzulande werden den neuerlichen Anschlag zur Kenntnis genommen haben. Für die meisten im Westen sind das bloß gewohnte Nachrichten aus einem Land, in dem sowieso alles schiefläuft. Tod und Zerstörung werden oft als „normal“ empfunden, weil es das Bild ist, das medial jahrzehntelang konstruiert wurde. Ein anderes Afghanistan kennt man praktisch gar nicht. Und ein Teil der Narrative war nicht nur die vermeintliche Normalität, sondern auch der Gedanke, dass all die Umstände am fernen Hindukusch nichts mit „uns“ zu tun hätten.

Dass dies nicht der Fall ist , zeigt sich meist erst, wenn man betroffen ist. Mir wurde das bereits Anfang November besonders deutlich, als sozusagen meine beiden Hauptstädte vom Terror heimgesucht wurden: Wien und Kabul.

Terror in Kabul

Während sich Österreich auf den nächsten Lockdown vorbereitete, herrschten in Kabul bereits Tod und Trauer. Die Universität war zum Ziel eines Anschlags geworden: 35 Studenten fielen einem Massaker zum Opfer, Dutzende wurden verletzt. Bereits einige Tage zuvor war eine andere Bildungseinrichtung in Kabul angegriffen worden. Mehr als 20 Studenten, hauptsächlich Angehörige der schiitischen Hazara-Minderheit, wurden von Terroristen getötet.

Universität Kabul nach der Terrorattacke Fot: imago images / Xinhua

Als ich von dem Anschlag auf die Kabuler Universität erfuhr, griff ich zum Telefon, rief Freunde an, Verwandte. Vor allem all diejenigen, die in der Nähe der Universität wohnen. Zum Glück ging es allen gut. Und während wir sprachen, wurde das Ausmaß des Angriffs immer deutlicher. Es war verheerend. Dozenten teilten Bilder ihrer getöteten Studenten. Es kursierten Kurznachrichten von Eltern, die nach ihren Kindern suchten. Dann Bilder lebloser Körper.

Auffallend und besonders emotional waren die Kommentare des Journalisten und Dozenten Samiullah Mahdi, der am Tag darauf an den Beerdigungen seiner ehemaligen Studentinnen und Studenten teilnahm – jenen Menschen, die laut Mahdi und vielen anderen „die Zukunft des Landes“ hätten sein sollen.

Anderswo hörte man kaum etwas von dieser vernichteten afghanischen Zukunft. In unseren Breitengraden bleiben solche Opfer gesichtslos, man nimmt Anschläge wie den auf die Universität in Kabul schulterzuckend zur Kenntnis.

Terror in Wien

Dieses Mal lag das auch daran, dass der Terror nicht nur weit weg, sondern auch vor der eigenen Haustür wütete. Am selben Tag, als in Kabul die Universität angegriffen wurde, lief in Wien mehrere Stunden lang ein bewaffneter 20-Jähriger mordend durch die Straßen. Der IS-Sympathisant, ein gebürtiger Wiener mit albanischen Wurzeln, tötete vier Menschen; nicht nur Wien, ganz Österreich erlebte eine Schreckensnacht.

Medial fokussierte sich praktisch jegliche Berichterstattung auf Wien. Mein Eindruck war, dass sich manche Kollegen vor Ort, etwa „Falter“-Chefredakteur Florian Klenk, wie Kriegsjournalisten verhielten, die ihr Handy nicht aus der Hand lassen konnten und ihre „on the ground“-Informationen fast schon penetrant in die Twittersphäre entluden.

Zugegeben, man kann das Klenk und anderen nicht verübeln. Die Nähe zum Geschehen macht viel aus, auch im Kopf von Journalisten. Viele kennen solche Situationen nicht. Für sie war es etwa neu, Sicherheitskräfte zu sehen, die ihr Leben riskieren, oder zusammengekauerte Menschen in Bars, die um ihr Leben fürchten.

Ich selbst hingegen fand mich in einer paradoxen Situation wieder. Mittags sprach ich noch mit Freunden und Verwandten in Kabul, am Abend mit meinem Bruder in Wien. Während der Terrorist durch die Straßen streifte, verbarrikadierte sich mein Bruder mit einem Freund und anderen Gästen im Keller eines Cafés in der Innenstadt.

Während ich mit ihm sprach, beschlich mich mein Afghanistangefühl. Es ist geprägt von Krieg, Terror und Angst; viele Menschen, die aus betroffenen Regionen dort stammen, werden es kennen. Nun hatte dieses Gefühl auch Wien erreicht, eine Stadt, in der ich mich stets wohl und sicher fühlte – weit entfernt vom Kriegsreporteralltag.

Im Orwell’schen Sinne gleicher

Natürlich kann man den Krieg in Afghanistan nicht mit einem einzelnen Anschlag in Europa vergleichen, aber Terror und Extremismus töten eben nicht nur in Kabul, Aleppo oder Mogadischu, sondern auch in Wien oder Paris – und ich finde, sie sollten stets dieselbe Beachtung genießen. Doch der Terror in Wien war im Orwell’schen Sinne gleicher als jener in Kabul.

Anschläge in Afghanistan werden in der westlichen Öffentlichkeit erst dann wirklich wahrgenommen, wenn „wir“ sozusagen direkt betroffen sind. Im Mai 2017, zum Beispiel, detonierte im Kabuler Stadtteil Wazir Akbar Khan eine Bombe – und tötete 150 Menschen. In deutschsprachigen Medien zeigte man sich vor allem deshalb betroffen, weil es im Kabuler „Diplomatenviertel“ passiert war und auch die deutsche Botschaft schwer beschädigt wurde.

Screenshot: FAZ

Dass die Opfer allesamt Afghanen waren, die im „Diplomatenviertel“ arbeiteten oder sich auf dem Schulweg befanden, war zweitrangig. Es stimmt, dass sich in Wazir Akbar Khan die meisten ausländischen Botschaften hinter Stahl und Beton befinden, meist gesichert von nepalesischen Sicherheitskräften, die oft ausgebeutet werden. Die meisten Menschen, die sich in diesem Stadtteil aufhalten, sind allerdings, wie überall in Kabul, in erster Linie Afghanen.

Doch sie werden in unserer westlichen Berichterstattung oft nicht nur übersehen, sondern gänzlich unsichtbar.

Auch ich übergehe Krisenherde

Ein Problem ist natürlich die Entfernung. Aufgrund meiner eigenen Nähe zu Afghanistan ist mir die Berichterstattung aus diesem Land besonders wichtig. Ich übergehe zuweilen aber auch Krisenherde, über die man ebenfalls kaum etwas hört oder liest: Somalia, Jemen, Syrien, der Sudan – um nur ein paar zu nennen. Was ich an manche Kollegen kritisiere, mache ich also auch selbst.

Was in diesem Kontext oft verdrängt wird: Journalisten, egal ob frei oder in Redaktionen, sind auch nur Menschen und deshalb stets von persönlichen Emotionen und Sichtweisen beeinflusst. Sie blenden Menschen wie die Opfer in Kabul nicht absichtlich aus. Selbstverständlich wissen sie auch, dass in einer globalisierten Welt Entfernungen relativ sind und viele Taten, wie etwa jene in Kabul und Wien, miteinander zusammenhängen. Aber für aufwändigere Recherchen, gerade im Ausland, fehlen oftmals Ressourcen. Und Platz. „Wir würden das gerne bringen, aber wir können es uns nicht leisten“, ist ein Satz, den ich in den vergangenen Jahren oft gehört habe.

Dennoch fällt es mir schwer, die Anschläge in meinen beiden Hauptstädten zu trennen und nachsichtig zu sein. Das hat nicht nur mit meinem persönlichen Bezug zu beiden Ländern zu tun, sondern auch mit Realitäten, die man vor allem als Journalist einem breiten Publikum erklären sollte.

Was Wien und Kabul verbindet

Der Anschlag auf die Kabuler Universität wurde von ISKP ausgeführt, der afghanischen IS-Zelle. Zugleich ist klar, dass der Wiener Täter kein Unbekannter war: Er gehörte zu einer Gruppe Extremisten, die vor wenigen Jahren von Österreich ins IS-Kalifat im Irak und in Syrien ausreisen wollte. Die Reise des jungen Mannes endete allerdings in der Türkei. In Österreich wurde er anschließend verurteilt und saß 2019 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung mehr als sieben Monate lang im Gefängnis.

Interessanter ist allerdings noch, dass sich der Täter ursprünglich der afghanischen IS-Zelle anschließen wollte – ihm wurde aber ein afghanisches Visum verweigert. Richtig gelesen: Der Terrorist aus Wien wollte nach Afghanistan. Wäre ihm das gelungen, hätte er womöglich nicht Wien terrorisiert, sondern Kabul. Dann hätte hierzulande kaum jemand davon Notiz genommen. Keine Titelseiten, keine viralen Videos, nichts. Höchstens eine Meldung.

Mehr Anteilnahme

Als über den Terrorakt in Wien berichtet wurde, erreichten mich Anrufe aus Kabul. „Na, toll, jetzt geht das auch bei euch los“, sagte mein Cousin am Telefon. Andere waren in einer ähnlichen Situation: In Wien leben viele Menschen mit afghanischen Wurzeln. Trotz der Tatsache, dass mein Cousin und viele andere Menschen in Kabul an jenem Tag abermals terrorisiert wurden und ein Blutbad erlebten, zeigten sie Anteilnahme am Geschehen in Wien.

Andersherum war davon leider nicht viel zu spüren.

Dabei sind die häufigsten Opfer islamistischen Terrors: Muslime. Aber das wird verdrängt und vergessen. Selbst das erste Opfer des Wiener Täters war, wie er selbst, muslimischer Landsmann mit albanischen Wurzeln.

Umso absurder sind auch die Distanzierungsforderungen, die nach solchen Anschlägen immer wieder kommen, auch unmittelbar nach dem Terrorakt in Wien, befeuert vor allem von rechten Kulturkämpferinnen und vermeintlichen Verteidigern des Abendlandes, die auch in deutschen Medien überaus viel Gehör finden. Dass zeitgleich in Afghanistan Demonstrationen gegen Terror und Extremismus stattfanden, interessierte hier praktisch niemanden. Zumindest finde ich, wie gewohnt, dazu nirgendwo Berichte.

5 Kommentare

  1. „Dass zeitgleich in Afghanistan Demonstrationen gegen Terror und Extremismus stattfanden, interessierte hier praktisch niemanden. “

    Ich finde das hochinteressant, und es würde definitiv helfen, da nicht in einen Fatalismus ab zu rutschen, wenn man davon lesen würde.

  2. Ich kann den Kritikpunkt des Autors nicht wirklich nachvollziehen. Die meisten Menschen schauen allerhöchstens 15 Minuten Nachrichten am Tag. Würde man über alle Anschläge auf der ganzen Erde berichten, wäre jede Sendung eine Aneinanderreihnung von Anschlagsmeldungen und das ist für die allermeisten Menschen in Deutschland auch einfach nicht relevant. Nachrichten sind notwendigerweise Filterungen des Weltgeschehens und in Afghanistan trifft eben genau das zu, was der Autor selbst schreibt:

    „Für die meisten im Westen sind das bloß gewohnte Nachrichten aus einem Land, in dem sowieso alles schiefläuft.“

    Ganz genau und danke (Sarkasmus!) an George W. Bush und Trump(-s Wähler) für die Herstellung des Status Quo.

  3. Ohne Vorrede und ohne Umschweife – Emran Feroz, wie stellen Sie sich das praktisch vor?

    Die Propagandaabteilungen arbeiten doch schon am Limit und schaffen es trotzdem kaum noch, die Verbrechen aus dem Bereich zu camouflieren oder wenigstens zu diminuieren.

    Dass das nichts damit zu tun hat mussten die aufgeben, weil es irgendwann kontraproduktiv ist, wenn (NLP) das I-Wort immer im Zusammenhang mit Verbrechen genannt wird.
    Der gute alte Einzelfall hat jahrelang geholfen. Jetzt ist er dermaßen vernutzt, der musste in den Orkus der Geschichte, in dem bald auch der Einmann verschwinden wird und die als Männergruppe bezeichnete Sammlung von Einmännern.

    Das alles wäre kein Beinbruch, wenn Ersatz bereitstünde. Aber da ist nichts.

    Denken Sie nur an die Kölner Silvesternacht. Das hat sage und schreibe zwei Wochen gedauert, bis die endlich eine Sprachregelung gebaut haben. Und die („Polizeiversagen“) ist so krampfig, dass selbst der toleranteste Tolerante innerlich mit dem Kopf schüttelt.

    Noch schlimmer vor zwei Jahren in Chemnitz. Da ist denen auf die Schnelle gar nichts eingefallen, weshalb Merkel höchstselbst eingreifen und das zur ausländerfeindlichen Menschenjagd erklären musste, wenn Leute aus der indigenen Bevölkerung von äh, hm, nicht verallgemeinern ermordet werden.

    Die Propagandafuzzis sind schon jetzt am Rande des Nervenzusammenbruchs – und da wollen Sie ihnen noch die Verbrechen in Afghanistan zur rhetorischen Pflege übergeben?
    Tut mir leid, wenn ich das so direkt sagen muss: Vergessen Sie es einfach.

  4. Wurde der anschlag von wien denn in den afghanischen medien mit eben der aufmerksamkeit bedacht, die sie sich in deutschen medien für den anschlag in kabul gewünscht hätten?

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