Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Weit mehr als die Hälfte der Deutschen meint, dass man vorsichtig sein muss, wenn man über Juden spricht. Knapp die Hälfte sagt, Hitler und das Dritte Reich seien „heikle Themen, bei denen man sich leicht den Mund verbrennen kann“. Genau so viele sagen das über das Thema Rechtsextremismus.
Das sind Ergebnisse einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) aus dem Mai dieses Jahres. Die hat für extreme Aufmerksamkeit gesorgt – aber nicht mit diesen Ergebnissen, die damals nicht veröffentlicht wurden, sondern mit einem anderen Wert: Nur 45 Prozent der Befragten sagten, sie hätten „das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann“; 44 Prozent sagten, es sei „besser, vorsichtig zu sein“. In den Jahrzehnten zuvor (Allensbach stellt die Frage schon seit 1953), war das noch nie auch nur annähernd so knapp:
Seitdem wird dieses Ergebnis immer wieder zitiert und als quasi offizieller Beleg für das genommen, was man schon zu wissen glaubte: Die Deutschen trauten sich nicht mehr, ihre Meinung zu sagen. „Political Correctness“ und „Cancel Culture“ hätten die subjektiv wahrgenommene Meinungsfreiheit drastisch eingeschränkt und verheerende Schäden im politischen Diskurs hinterlassen.
Darüber ist seitdem viel geschrieben und geredet worden. Weniger Aufmerksamkeit fand die Frage nach den konkreten Themen, die als „heikel“ empfunden werden. Nur drei hatte Allensbach damals in der FAZ genannt: „Muslime, Islam“, „Vaterlandsliebe, Patriotismus“ und „Emanzipation, Gleichberechtigung der Frau“. Viele, die über die Studie schrieben, behaupteten daraufhin, dass das die besonders heißen Eisen sind. Doch das stimmt nicht. Es sind nur drei Themen, die von Allensbach herausgegriffen wurden – entweder willkürlich oder weil sie besonders gut in die Erzählung von der Einschränkung der Meinungsfreiheit durch linke Medien und Sprachwächter passen.
Auf meine Nachfrage hat das Institut mir die Liste der Themen geschickt, die sie den Befragten gezeigt hat, um zu erfragen, bei welchen davon „man sich leicht den Mund verbrennen kann“.
Den höchsten Wert hat das Thema „Flüchtlinge“. Es folgen: „Muslime, der Islam“, „Juden“, „Rechtsextremismus“, „Hitler, das Dritte Reich“, „die AfD“.
Weil Allensbach die Frage schon länger stellt, teils mit identischen Themen, ist ein langfristiger Vergleich möglich. Dies sind die Ergebnisse von 1996:
Die empfundene Mundverbrenngefahr ist beim Thema Islam in den vergangenen 25 Jahren also drastisch gestiegen. Nach „Flüchtlingen“ fragte Allensbach damals noch nicht, aber „Aussiedler“ galten einer knappen Mehrheit als heikles Thema. Über Republikaner zu reden war ähnlich heikel wie heute über die AfD.
Und, besondere Konstanten: Die ewig „heiklen“ Themen „Juden“ und „Hitler“.
Wenn man hohe Werte in diesen Umfragen als Zeichen für eine problematische gefühlte Einschränkung der Meinungsfreiheit interpretiert: Was bedeutet dann die Werte von 50 bis 60 Prozent bei diesen Themen? Was würden die Deutschen eigentlich gern über das Dritte Reich sagen? „Aber die Autobahnen“? Welchen Hot Take über Rechtsextremismus verkneifen sie sich lieber?
Als die „Bild“-Zeitung nach der Veröffentlichung der Allensbach-Umfrage dazu aufrief, Videos einzusenden mit dem, was man nicht mehr sagen darf („Wir lassen uns die Meinung nicht verbieten!“): Wie viele mit flammenden Appellen gegen die Weltherrschaft des Judentums hätte sie veröffentlicht?
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Sind die großen Prozentzahlen Ausdruck einer beunruhigenden Einschränkung des Meinungsspektrums? Oder, im Gegenteil, eines gesunden, weit verbreiteten Gefühls, dass bestimmte Meinungen zu diesen Themen zu recht tabu sind?
Das Allensbach-Institut gibt darauf interessanterweise unterschiedliche Antworten. 2019 unterschied Geschäftsführerin Renate Köcher in der FAZ bei der Analyse derselben Fragen relativ freihändig zwischen problematischen und gesunden Meinungstabus. Zur ersten Gruppe zählt sie die wahrgenommenen Grenzen in der Diskussion etwa über Flüchtlinge oder den Islam – die Tabus trügen zu einem „Gefühl der Entfremdung“ der Bevölkerung bei. Die klar empfundenen „Grenzen des Sagbaren“ bei Themen wie Hitler und dem Dritten Reich hingegen seien, ganz im Gegenteil, „ein wichtiges Element von Identität und Zusammenhalt einer Gesellschaft“:
Entsprechend spiegelt die Überzeugung der Bevölkerung, dass man sich mit Äußerungen zur Nazizeit oder zu Juden unmöglich machen kann, die Wirkung von Normen, auf die sich die überwältigende Mehrheit verständigt hat.
Wenn viele Menschen meinen, dass man sich bei einem Thema leicht den Mund verbrennen kann, kann das für sie also Ausdruck großer gesellschaftlicher Zerrissenheit sein. Oder großer gesellschaftlicher Einheit.
Köchers Vorgängerin Elisabeth Noelle-Neumann sah das in ihrer Interpretation der Ergebnisse vor 25 Jahren noch anders. Sie schrieb damals in der FAZ über Umfragen zum Thema „Political Correctness“ und ließ keinen Zweifel an ihrer eigene Position dazu:
Der Abscheu, mit dem heute über die intolerante „Political Correctness“ gesprochen wird, ist verständlich. (…) Sie steht allem entgegen, was mit der Aufklärung für den freien, von seinen Verstandeskräften ungehindert Gebrauch machenden Bürger gewonnen wurde.
Noelle-Neumann differenzierte in der Bewertung nicht zwischen den verschiedenen Tabu-Themen:
Existenzielle Themen, mit denen die Gesellschaft noch nicht fertig geworden ist, werden tabuisiert, dem Konformitätsdruck der „Political Correctness“ unterworfen. So lassen sich die heiklen Themen interpretieren: Asylanten, Juden, Hitler und das Dritte Reich, Aussiedler, Neonazis, Türken (…).
Da der Konformitätsdruck, genannt Öffentliche Meinung, vor allem den Zusammenhalt der Gesellschaft sichert, verschärft er sich, je mehr dieser Zusammenhalt gefährdet ist. Es gibt aus der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts, der Spaltung der Nation, der Wiedervereinigung viele Gründe, einen besonders rücksichtslosen Meinungsklimadruck zu erwarten. Man muß jeder Stimme dankbar sein, die in dieser Lage Konformität durchbricht und damit einen freiheitlichen geistigen Raum sichert.
Dieses Fazit, mit dem ihr Artikel endet, ist aus ihrer Position konsequent – aber von bemerkenswerter Radikalität: Jeder Stimme, die dem breiten gesellschaftlichen Konsens widerspricht, muss man dankbar sein? Man möchte sich nicht ausmalen, was das für Stimmen bei einigen der genannten Themen sind.
Die damalige Allensbach-Chefin Noelle-Neumann interpretierte jeden Konformitätsdruck als problematisch (kein Wunder: das war ein Lebensthema von ihr) und jedes als „heikel“ wahrgenommene Thema als ein Zeichen, dass die Gesellschaft mit einem Thema noch „nicht fertig“ ist. Die heutige Allensbach-Chefin Köcher sieht in manchen Tabus das Gegenteil: eine reife Gesellschaft, die sich über ein paar Dinge verständigt hat und deshalb weiß, was ein heikles Thema ist.
Ich halte die Zahl der Menschen, die sagt, es sei besser, vorsichtig zu sein, wenn man seine politische Meinung sagt, für eine ambivalente Größe. Wenn etwa 1962 laut Allensbach nur 18 Prozent der Befragten diese Vorsicht äußerten – heißt das, dass es glückliche Zeiten waren, gelebte Meinungsfreiheit? Man sieht im Fernsehen manchmal Straßenumfragen aus jener Zeit, und danach zu urteilen, hatten damals offenbar wirklich viele Menschen das Gefühl, sie könnten sogar vor einer Kamera zum Beispiel hemmungslos über Minderheiten herziehen oder die sofort zu vollstreckende Todesstrafe für diesen oder jene fordern.
Diese Freiheit mag für die einen beneidenswert gewesen sein. Für andere hatte sie einen hohen Preis.
Toleranz und Akzeptanz gegenüber Gruppen wie Homosexuellen ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen. Der tatsächliche Rückgang der Zahl von Menschen, die Schwule und Lesben verachten, wurde aber vorweggenommen und beschleunigt dadurch, dass es in der Öffentlichkeit nicht mehr akzeptabel war, eine solche Meinung zu äußern. Auch das ist ein Konformitätsdruck.
Bis zu welchem Punkt ist ein solcher öffentlicher Druck eine gute Entwicklung, die zu gesellschaftlichem Fortschritt führt? Und ab wann haben viele Menschen das Gefühl, dass sie von sprachlichen Fallen und Fettnäpfen umzingelt sind und fühlen sich mundtot gemacht? Das sind Fragen, die die plakativ herumgereichten Allensbach-Zahlen nicht direkt beantworten.
Und, grundsätzlich gefragt: Wenn Menschen auf die Allensbach-Frage sagen, es sei „besser“, vorsichtig zu sein, wenn man seine politische Meinung äußert – ist das immer Ausdruck einer empfundenen Einschränkung und Bedrohung? Oder kann dahinter auch die Einsicht stehen, dass es tatsächlich „besser“ ist für eine öffentliche Debatte, Rücksicht zu nehmen?
In der Rezeption der Umfrage kommt die zweite Möglichkeit praktisch nicht vor. Das beginnt schon bei der Interpretation der Ergebnisse in der FAZ, wo sie veröffentlicht wurden. Der Artikel ist überschrieben: „Die Mehrheit fühlt sich gegängelt“ – ein Befund, den die Ergebnisse im Text so eindeutig gar nicht hergeben.
Die Nachrichtenagentur AFP ging noch weiter: „Die Mehrheit der Deutschen sieht die Meinungsfreiheit laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage in Gefahr“, behauptete sie – eine Aussage, die weder von den Zahlen noch von den Inhalten gedeckt ist. Der Titel spitzte das noch weiter zu: „Deutsche sehen Meinungsfreiheit in Gefahr.“
Die „Badische Zeitung“ übernahm in einer ausführlichen Analyse noch Wochen später die Überinterpretation, dass „die Mehrheit der Deutschen die Meinungsfreiheit in Gefahr“ sehe. Sie folgerte daraus, dass die „Diskursräume“ so eng geworden seien, „dass sich viele Menschen in all den akademisch geführten Debatten über Gendergerechtigkeit, sexuelle Identität und diskriminierungsfreien Sprachgebrauch in ihren Alltagsproblemen im Stich gelassen und bevormundet fühlen“. Und folgerte wiederum daraus, dass die Gefahr besteht, dass „Menschen der Demokratie den Rücken kehren“.
Das sah auch die „Bild“-Kommentatorin so, die angesichts der Umfrage rief: „Wir riskieren die Demokratie“. Dass jeder zweite Deutsche sich nicht mehr traue, offen seine Meinung zu sagen, mache ihr Angst, schrieb sie – und fügte hinzu:
Um es klar zu sagen: Wir reden hier nicht davon, dass Sprache und Politik mit der Zeit gehen und die sich wandelnde Lebensrealität einer Gesellschaft abbilden müssen. Dass homophobe, frauen- oder ausländerfeindliche Sprüche heute nicht mehr geduldet werden, ist ein Segen.
Auch sie unterscheidet also zwischen guten und schlechten Tabus – und behauptet einfach, dass der hohe Wert sich nur auf die schlechten Tabus bezieht.
Sie und viele andere verkürzen auch ein anderes Ergebnis der Umfrage, wenn sie behaupten, dass 71 Prozent der Deutschen das Gendern für „übertrieben“ halten. Tatsächlich hatte Allensbach konkret formuliert:
Wenn jemand sagt: „Man sollte in persönlichen Gesprächen immer darauf achten, dass man mit seinen Äußerungen niemanden diskriminiert oder beleidigt. Daher sollte man z. B. neben der männlichen auch immer wie weibliche Form benutzen.“ Sehen Sie das auch so, oder finden Sie das übertrieben?
Übertrieben finden die Befragten es also genaugenommen, wenn man „immer“ „in persönlichen Gesprächen“ gendern soll.
Die Fragen, die die Allensbach-Interviewer vorlegen, sind im Detail immer wieder problematisch, was die Ergebnisse verzerren dürfte. 2019 fragte sie die Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel nach mehreren „Trends und Entwicklungen“, ob sie sie „übertrieben finden“. Den meisten Zuspruch fand mit 66 Prozent der angebliche „Trend“, „dass man nicht mehr von ‚Ausländern‘, sondern von ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ spricht“. Dabei ist das eine kein Synonym für das andere. Die meisten Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind eben keine Ausländer, sondern Deutsche. Der komplizierte Begriff ist entstanden, um eine Kategorie von Menschen beschreiben zu können, die früher kaum relevant war. Die Art, wie Allensbach den Begriff implizit definiert, ist falsch.
Ähnlich irreführend ist in der aktuellen Umfrage die Zusammenfassung eines Sachverhaltes, die Allensbach den Befragten vorlegte mit der Bitte, sie als „gerechtfertigt“ oder „übertrieben“ einzusortieren: „Eine weiße Übersetzerin verliert einen Übersetzungauftrag für das Gedicht einer schwarzen Autorin, weil sie sich als Weiße nicht ausreichend in die Gedankenwelt einer Schwarzen hineindenken könne.“ Soweit das auf den Fall Marieke Lucas Rijneveld anspielt, ist das eine mindestens umstrittene Zusammenfassung. (87 Prozent der Befragten fanden den Vorgang, wie ihn Allensbach beschreibt, „übertrieben“.)
2019 legte Allensbach den Befragten das Statement vor: „Mir geht es auf die Nerven, dass einem immer mehr vorgeschrieben wird, was man sagen darf und wie man sich zu verhalten hat.“ 57 Prozent stimmten dem zu. Aber welcher Aussage genau stimmten sie zu? Dass es immer mehr Vorschriften gibt? Oder dass sie davon genervt sind? Genau genommen setzt Allensbach in seiner Frage das erste schon als Tatsache voraus. (Interessanterweise stimmten deutlich weniger, nämlich nur 41 Prozent, der Aussage zu: „Ich finde, es wird heute mit der politischen Korrektheit übertrieben.“)
In ähnlicher Weise zweifelhaft ist diese Frage, die Allensbach 2021 formulierte:
Wenn jemand sagt: „Ich weigere mich mit Absicht, meine Ausdrucksweise anzupassen und mich politisch korrekt auszudrücken, weil es mich nervt, wenn andere versuchen, mir ihre Sprachregelungen aufzudrängen.“ Geht Ihnen das auch so, oder geht Ihnen das nicht so?
55 Prozent sagten, ihnen gehe das auch so (nur 36 Prozent der Grünen-Anhänger, aber 83 Prozent der AfD-Anhänger), aber wie sehr kann eine Frage ihrerseits schon versuchen, jemandem seine Sprachregelungen aufzudrängen?
Eigentlich ist schon frappierend, wie sehr die Diskussionen um angemessene Sprache in all diesen Fragen immer noch verpackt wird als Frage, was man noch sagen darf. Auch aktuell hat Allensbach wieder gefragt, ob man ein Schnitzel „mit Paprikasoße“ und eine „Süßigkeit mit Schokoladenüberzug“ weiterhin mit ihren „lang gebräuchlichen Namen“ bezeichnen soll. Dieselbe Frage tauchte wortgleich auch vor 25 Jahren schon auf. Damals waren 85 Prozent beim Schnitzel dafür und 81 Prozent beim Schokokuss. Heute waren es noch 77 beziehungsweise 68 Prozent.
Diese Ergebnisse sind, bei allen Zweifeln an Methode und Interpretation, interessante und wichtige Realitätschecks. Allensbach-Meinungsforscher Thomas Petersen sieht darin ein Symptom für ein Problem, wie er in einem Interview mit dem „Weser-Kurier“ sagte:
„Weite Teile der intellektuellen Welt, und das schließt – Pardon – weite Teile der Journalisten ein, haben verlernt, mit normalen Menschen zu sprechen und sie zu verstehen.“
Eine intellektuelle Elite rede „komplett an der übrigen Bevölkerung vorbei“.
Dabei ist gerade auch die veröffentlichte Meinung in den Medien voller Kritik an den behaupteten oder wahrgenommenen Sprachtabus – wie nicht zuletzt die Rezeption der Allensbach-Studie zeigt. Und nicht wenige interpretieren sie sogar so radikal wie die „Stuttgarter Zeitung“, die behauptete: „Tabus bei der Wortwahl bedrohen [die Meinungsfreiheit] so sehr wie die Hetze im Netz.“
So einfach, wie es sich viele machen, ist es nicht mit der Meinungsfreiheit und ihrer angeblich gefühlten Einschränkung. Und auch nicht mit der Allensbach-Umfrage.
Der Kolumnist Henryk M. Broder übrigens hatte seine ganz eigene Freude daran. Er nahm sie zum Anlass, in der „Welt am Sonntag“ diese Anekdote zu erzählen:
Es muss so um die Jahrhundertwende gewesen sein, ich war Gast auf einer Buchparty und übte mich in der Kunst der Konversation. Da trat ein älterer Kollege auf mich zu, den ich nur aus Zeitungsberichten kannte, umarmte mich und rief: „Herr Broder, wie ich Sie um ihr Judesein beneide! Wenn ich Jude wäre, könnte ich auch sagen, was ich denke!“ Ich befreite mich vorsichtig aus der Umklammerung, trat einen Schritt zurück und sagte: „Was würden Sie denn sagen, wenn Sie Jude wären und sagen könnten, was Sie denken? Oder andersrum: Was können Sie nicht sagen, weil Sie kein Jude sind?“ Der ältere Kollege schien überrascht. Er schaute mich an, als hätte er mir einen Graf-Bobby-Witz erzählt, dessen Pointe ich nicht verstanden habe, drehte sich um und ging.
Ok, jetzt stehe ich auf dem Schlauch.
Wenn jemand sagt, man könne nicht frei über Juden reden, meint soe:
– man könne sich nicht pro-jüdisch äußern
– nicht anti-jüdisch äußern
Oder
– die Gesellschaft ist so gespalten, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit auf jemanden mit gegenteiliger Meinung trifft, egal, was man über Juden sagt, so dass Streit unvermeidlich ist?
Soll heißen, ich hätte einige Fragen falsch verstanden, hätte ich da mitgemacht.
So viele Interpretationsmöglichkeiten. (Exakt mein Punkt.)
#1 „Soll heißen, ich hätte einige Fragen falsch verstanden, hätte ich da mitgemacht.“
Darauf allerdings würde ich auch wetten.
Zum Artikel: Volle Zustimmung, es fehlt in meinen Augen nur noch ein Aspekt. Und zwar der der „self fulfilling prophecy „.
Es ist wie bei der“gefühlten Bedrohung“ durch Kriminalität. Die meisten Sorgen machen sich in der Regel diejenigen, die statistisch am wenigsten bedroht sind. Eine Bedrohung, die obendrein auch noch immer weiter abgenommen hat.
Verantwortlich ist die mediale Aufarbeitung der Kriminalität. „Crime sells“ ebenso gut wie Sex. „Scripted Reality“ ist das Gegenteil von „Reality“ und ganz besonders gibt es Gruppierungen, die ein vitales Interesse daran haben, die Situation in schwärzesten Farben darzustellen. Vom GdP Rechtsausleger, der irgendwann wohl Nuklearbewaffnung für die Schutzpolizei fordern wird, bis zum Law And Order Politiker. Empirie und Pragmatismus hilft denen nicht.
Seit spätestens 2015 gehört das Thema Meinungsfreiheit zum Framingbaukasten gewisser Kreise.
Noch länger gilt dies für die USA.
„Political Correctness“ und „Cancel Culture“ sind Kampfbegriffe und das unermüdliche Wiederholen derselben ist erklärte Strategie bspw. der ALt-Right Bewegung.
Natürlich nahmen auch Trump und Co dies auf.
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/usa-donald-trumps-kulturkampf-auf-dem-campus-16102237-p2.html
In der FAZ stand übrigens auch, dass das Gerücht, Kant und andere Klassiker seien nun an US Unis wegen des rassistischen Inhalts verboten, ein Hoax sei. Ein Journalist hatte den Gossip von seinem Sohn, der in den USA studiert, ungeprüft übernommen.
Nuhr, Broder, Pirinci und viele andere leben davon zu behaupten, dass sie in ihrer Meinungsfreiheit beschränkt seien. Und zwar mit Reichweiten, die sie ohne dieses Lamento nie hätten.
Was aber stimmt ist, dass heute Aussagen Gegenwind bekommen, die vor einigen Jahrzehnten noch überall selbstverständlich zu hören waren. Problematisch dabei ist, dass diejenigen, die nun diesen Gegenwind spüren, so etwas überhaupt nicht gewöhnt sind.
„ Diese Ergebnisse sind, bei allen Zweifeln an Methode und Interpretation, interessante und wichtige Realitätschecks.“
Wirklich? Mir kommt das eher wie ein ziemlicher Kreiswichs vor. Allenbach generiert kontroverse Ergebnissse durch uneindeutige oder suggestive Fragen, gewisse Medien und Akteur*innen springen dankend drauf an und daraus wird wiederum eine Relevanz dieser Umfrage an sich abgeleitet und sie wird im nächsten Jahr wiederholt.
Diese Trennung zwischen sogenannten intellektuellen Eliten und dem sogenannten Normalbürger finde ich auch immer wieder spannend. Mir kommt weder gendergerechte Sprache noch eine Vermeidung lange gängiger Bezeichnungen von Paprikasaucen oder schokoüberzogenen Süßigkeiten (lol) intellektuell anspruchsvoll vor. Für sogenannte Konservative ist das aber natürlich deutlich dankbarer und einfacher als sich mit den echten Problemen unserer Zeit auseinanderzusetzen. Da kann man nur hoffen, dass diese nicht mittelfristig zu Problemen für unsere Freiheit und Demokratie führen
Ach so, eins muss ich auch sagen: Bei aller Kritik, die ich an den Allensbach-Umfragen habe – dass ich sie so im Detail kritisieren kann, liegt auch daran, dass sie sehr transparent arbeiten und zum Beispiel die genauen Fragen veröffentlichen sowie weitere Informationen auf Nachfrage herausgeben. Davon kann man z.B. bei einem Laden wie Forsa nur träumen.
Ein sehr lesenwerter Artikel. Mal sehen ob ich den richtig verstanden habe. Im Kern geht es doch a) um Meinungsfreiheit an sich (hat sogar Verfassungsrang) und b) die Themen dieser Meinungsfreiheit. Ich persönlich (Jahrgang 1962) stelle für mich persönlich fest, dass es einen Unterschied zu den 60ern, 70ern, 80ern und zu „heute“ gibt. Es war immer schon möglich seine Meinung zu äußern – und zwar zu allem und auch ohne Konsequenzen (wenn im Rahmen des Gesetzes) – aber ich denke heutzutage sind die Konsequenzen größer, bzw. gefährlicher. Damit meine ich eine gewisse „Gefahr“ die vom berühmten „Internet“ ausgeht, in dem bekanntlich jeder sagen kann was ihm gerade in den Sinn kommt. Zu 99% ungfiltert, und zu 99% anonym – also ohne Konseqenzen für den Poster. Im schlimmsten Fall heißt das „Shitstorm“, und gegen diese Naturgewalt kann man sich nicht mehr wehren – und dann ist es auch schon passiert. Es könnte also sein, dass Menschen aus reiner Vermeidungshaltung mit ihrer Meinung hinter dem Berg halten. Zumindest öffentlich. Aber das könnte generell eine spannende Debatte sein. Macht das „Internet“ meinungsunfrei?
„Würden Sie der Aussage zustimmen, dass Übermedien besonders interessant und relevant immer dann ist, wenn es breit in der Öffentlichkeit rezipierte Studien methodisch auseinander nimmt und den Weg zur vereinfachten medialen Darstellung nachzeichnet?“
Ja, ich stimme voll und ganz zu.
:-)
Danke!
„Macht das „Internet“ meinungsunfrei?“
Was soll das denn heißen? Diese Debatte dreht sich auch im ewig gleichen Kreis, aber man soll sich da mal ehrlich machen: Ist das Ziel dieses seltsamen Verständnisses von Meinungsfreiheit, dass jemand „Hitler war eigentlich uneingeschränkt gut“ sagt oder ins Internet schreibt und niemand widerspricht? Wegen Meinungsfreiheit? Und damit der Arme bloß keinem Konformitätsdruck ausgesetzt wird?
#9. Das soll das heißen was da steht. Im Kern kommt hier auch die „Gatekeeper“ Theorie und Kommunikationsforschung ins Spiel. Aber das würde an dieser Stelle zu weit führen. Zu Ihrer Frage konkret: man kann sich trefflich darüber streiten ob das von Ihnen angeführte Hitler Statement noch durch Art. 5 GG abgedeckt ist. Ich denke eher nicht, und zwar allein schon wegen des Wortes „uneingeschränkt“. Mir geht es um eine andere Debatte: kann ich noch eine „Meinung“ vertreten im Sinne von Art. 5 GG ohne gleich von einem unqualifizierten Mob – der sich noch nicht einmal traut mit Klarnamen aufzutreten – mit Mistgabeln durchs Dorf zum Scheiterhaufen getrieben zu werden. Das „Internet“ ist eben nicht der rechtsfreie Raum den manche gern hätten.
Ok, dass die meisten Menschen bei Hitler Einschränkungen der Meinungsfreiheit akzeptieren hat ja auch der Artikel hier schon rausgearbeitet. Aber davon unabhängig schützt Artikel 5 halt einfach nicht vor – gefühlten oder wahrhaftigen – Mobs.
Von Rechten mit Gewalt bedrohte Menschen aus Minderheiten, mit Vergewaltigung und anderem bedrohte Frauen trauen sich teilweise wirklich nicht mehr ihre Meinungen zu teilen, während es für das hier Lamentierte oft reichweitenstarke Kolumnen gibt, in denen darüber geweint wird, was man sich angeblich alles nicht mehr traut. Ich halt das für absolut lächerlich und nehme eine Schieflage wahr.
Über welche Meinungen reden Sie denn hier konkret? Ist der Gedanke, dass es zurecht geächtete Meinungen gibt so schwer auszuhalten? Über Meinungen, die sich gegen Fakten im wissenschaftlichen Sinn stellen haben wir jetzt ja noch gar nicht gesprochen. Und von mir aus ohne Hitler, ganz konkret: Sollte es ein Recht darauf geben, alles immer unwidersprochen raushauen zu dürfen? Gab es dieses Recht jemals?
#6
Steile Theorie: Das Internet mindert die Meinungsfreiheit.
Und damit meint Herr J. Funke die Einschränkung von etwas, was davor nie eingeschränkt werden konnte, weil es noch gar nicht da war, richtig?
Muss gelernt werden, wie man mit dem immer noch neuen Universum Internet umgeht? Auf jeden Fall. Auf jeden Fall stimmt aber auch, dass nicht die Lautstärke des Jammerns belegt, wie bedroht und angegriffen eine Gruppe ist.
„The clitoris has 8,000 nerve endings and still isn’t as sensitive as a white man on the Internet.“ by Desaster Girl / Twitter
Am Stammtisch, im Verein, auf der Arbeit, in der Schule.
Wie also war es tatsächlich in den 70ern und 80ern?
Es war überwiegend geregelt, wer was zu sagen hatte und wer besser die Klappe hielt. Die „gute“ alte Zeit.
Was wir hier haben ist eine Modernisierungskrise, nicht mehr und nicht weniger.
#11. Sehen Sie, und schon haben wir eine schöne Debatte. Es scheint mir, dass der Begriff „Meinung“ ein wenig frei dreht. Zu einem Ihrer Bespiele: was hat „mit Vergewaltigung und anderem…“ mit Meinung zu tun? Das fehlt mir der Kausalzusammenhang insofern, dass Vergewaltigung eine Straftat darstellt, und zum StGB hat meine keine „Meinung“. Man kann also nicht schreiben „Verg… “ ist gut. Wer so etwas schreibt hat nicht alle Latten am Zaun und wäre – wenn er identifizierbar ist – zur Rechenschaft zu ziehen. Über welche Meinungen geht es hier – fragen Sie. Es geht um Standpunkte zu einem x-beliebigen Thema. Und auch hier hat ja der Gesetzgeber bereits vorgesorgt, weswegen beispielsweise gewisse Leugnungen über Fakten der Deutschen Geschichte extrem unter Strafe gestellt sind – und das zurecht. Ich kann Ihre Frage insofern nur allgemein beantworten – und mich erläutern – da es nun einmal soviele potentielle Meinungen gibt wie Individuen. Sie schreiben aber auch selbst, dass es zurecht geächtete Meinungen gibt. Nun, mal abgesehen vom BGH, wer legt den ächtungswürdig fest? Wobei das Für und Wider ja Kern einer Debatte wäre – aber genau diese astrein zu führen traue ich der Mehrheit des Internet nicht zu. Mit der Konsequenz, dass unqualifizierte Shitstorms über eigentlich harmlose Themen entstehen. Das hat mit Meinungskultur, meiner Meinung nach, nichts mehr zu tun. Und schließlich: wenn man eine Meinung gegen den Mainstream (wer legt den eigentlich fest) vertritt, darf das nicht in exiszenzvernichtende Aktionen oder ähnliches (cancel culture) münden. Da aber Shitstorms nicht verhindert werden können – und seien sie noch so unqualifiziert – werden sich manche Zeitgenossen eben zweimal überlegen ob sie zur Meinungsbildung beitragen, oder eben nicht.
#12. Nee. Meint er nicht. Mal etwas genauer lesen, bitte. Sie haben ja durchaus Recht damit, dass das „Internet“ eben relativ neu ist. Und geben auch gleich ein gutes Beispiel für meine „steile These“. Richtig – in der Zeit ohne Internet wurde noch mit offenem Visier gekämpft, am Stammtisch und in den Redaktionen. Ein Impressum gibts ja nicht zum Selbstzweck. Ich versuche die „steile These“ mal zu erläutern: wenn ich befürchten muss unqualifiziert (wozu gibt es denn wohl Journalisten Schulen, etc.?) von irgendeinem Kreti oder Pleti anonym angeriffen zu werden, dann mehme ich halt nicht mehr teil an der Meinungsbildung. Und das ist – im Allgemeinen – nicht gut für die Meinungsbildung generell. Und ganz konkret zum Internet: solange dort nicht die gleichen Regeln gelten wie im Journalismus ist das ein rechtsfreier Raum. Und das ist kein Raum für mich.
#14 Steile Thesen sind voll Ihr Ding, richtig?
„Richtig – in der Zeit ohne Internet wurde noch mit offenem Visier gekämpft, am Stammtisch und in den Redaktionen. “
Und eigentlich haben ältere Männer einfach wesentlich mehr wertvolle Meinungen. Das kam in dieser Zeit in den Zusammensetzungen dieser Redaktionen und Stammtische wunderbar zum Ausdruck.
Es ist übrigens auch irrsinnig schwach, permanent mit angeblich nicht getätigten Meinungsäußerungen zu argumentieren.
Es gibt keine Erhebungen bei uns, daher kann jeder alles behaupten. In den USA aber gibt es bspw. die Niskanen Study, die auf ganz andere Ergebnisse kommt (ja, der Fokus sind dort die Universitäten).
https://www.niskanencenter.org/there-is-no-campus-free-speech-crisis-a-close-look-at-the-evidence/
#13 Sie haben mich da falsch verstanden, habe ich wahrscheinlich etwas zu verkürzt ausgedrückt. Vielleicht verstehe ich auch Sie komplett falsch, aber solange Sie keine konkreten Beispiele nennen, müssen wir damit leben.
Ihren angeblich existenzvernichtenden Cancelungen (Beispiele?) – ein Narrativ und eine Begrifflichkeit, die meines Wissens allgemein am ehesten im Kontext politischer Unkorrektheit mit folgendem Shitstorm „von links“ gebraucht wird – wollte ich das tatsächliche Silencing, das Leute, die nicht in die Gruppe „weißer hetero cis-Mann“ im Internet oft durch Drohungen etc. erfahren, entgegenhalten.
Davon abgesehen: Man darf doch der Meinung sein, Vergewaltigungen seien gut? Man darf nur niemanden vergewaltigen. Das Strafrecht schränkt nicht die Meinungsfreiheit ein. Ja, das ist jetzt etwas sarkastisch oder von mir aus auch freidrehend, aber ich kann da bei Ihnen irgendwie keinen kohärenten Punkt rauslesen. Die Realität ist – natürlich – dass nicht alle Menschen nicht alles was sie denken (je nach Kontext) auch sagen. Das war aber (siehe 12) auch schon immer so.
Sie scheinen mir jetzt aber auf einen Korridor von Meinungen anzuspielen, die freier sag- bzw. tweetbarer sein sollten, als sie es in Ihrer Wahrnehmung sind – wo also das gesellschaftlich vorhandene und in unterschiedlichen Distanzen diskutierte und auf gewisse Weise definierte Korrektiv versagt. Ohne Beispiele für diese Meinungen und die angeblichen Konsequenzen für die, die sie äußern, kommen wir hier glaube ich nicht wirklich weiter.
#16. Nur kurz, und dann setzte ich mich auf die Terasse, weil mir das hier zu bunt wird. Lesen Sie sich mal § 140 StGB durch zum Thema Vergewaltigungen. Und auch hilfreich: Definition von Meinung.
Der Punkt steht da ja nur, weil Sie mich dahingehend initial falsch verstanden haben, ich hatte die Vergewaltigungsdrohungen nicht in den Kontext von Meinungsäußerungen gesetzt und bin selbstverständlich auch nicht der Meinung, dass man sowas als Meinung frei äußern (dürfen) sollte. Gebe aber zu, dass der Versuch das im Nachhinein in eine absurde, absolute Meinungsfreiheitsposition zu drehen etwas gescheitert ist.
Ich finde den Rest meines Kommentars #16 allerdings auch viel wichtiger als den Halbsatz, den Sie sich jetzt rausgepickt haben – würde Ihre Position hier wirklich gerne besser verstehen. Lieber den restlichen Samstag bei schönem Wetter genießen zu wollen, kann ich aber ebenso gut nachvollziehen – schönes Wochenende noch!
#18 Ihnen auch ein schönes Wochenende.
Interessante Diskussion! Für mich ist der Knackpunkt der, dass die Möglichkeit einer so unmittelbaren Teilnahme an der öffentlichen Debatte einfach neu ist. Man sollte mal erheben, ob Menschen auch meinen, der akzeptable Meinungskorridor im Freundeskreis usw. habe sich verändert oder ob es nur um „öffentliche“ Äußerungen geht. Für einen Diskussionsbeitrag, der potentiell der Weltöffentlichkeit zugänglich ist, gelten selbstverständlich andere Konventionen und Tabus als für nen Witz am Stammtisch. Ein auf dem Klo getippter Facebook-Kommentar entspricht bei entsprechenden Sichtbarkeitseinstellungen halt eher einem Leserbrief als einem privaten Chat. Das muss halt erstmal gelernt werden.
Ich finde daher Frank Gemeins Begriff „Modernisierungskrise“ ziemlich einleuchtend.
Tja, ist schon rein mathematisch so.
Wenn man mit fünf Leuten über ein beliebiges Thema spricht, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die jeweils eigene Meinung einen (harten) Widerspruch findet.
Wenn man das bei 50 macht, ist das schon viel wahrscheinlicher, und bei 500 fast sicher.
Aber auch vor dem I-Net war es den meisten Leuten klar, dass ihre jeweilige Meinung nicht zu hundert Prozent geteilt wird, das kann ja nicht diese „Meinungsfreiheit“ sein, von der man dauernd in der Zeitung liest.
Wieso das als „sich den Mund verbrennen“ bezeichnet wird in einer Umfrage, die doch eigentlich möglichst wertfrei Fragen sollte, sei mal dahingestellt.
Jede mediale „Revolution“ brachte substantielle Änderungen der Reichweiten, des Kreises der Sender und Empfänger, und, zumindest so weit wir das noch feststellen können, Klagen wegen abnehmender Qualität und des Verfalls der Sitten.
Und tatsächlich war nichts davon ( na ja, der Sittenverfall ist auch so eine Art Vulgäridealismus ) komplett unberechtigt. Positiv gab es aber auch immer eine Demokratisierung der Kommunikation.
Die schlichte Erzählung am Lagerfeuer, dass das vordere Ende des Säbelzahntigers mit Vorsicht zu behandeln ist, wurde irgendwann durch Melodie und Rhythmik leichter reproduzierbar und eingängiger, was erheblichen Einfluss auf die Verbreitung gehabt haben dürfte.
Die Rhythmik wurde in den nichtschriftlichen Gesellschaften immer weiter verfeinert, bis schliesslich stundenlange Vorträge in elaboriertesten Versmaßen frei vorgetragen werden konnten.
Das war aber natürlich nur auf ganz bestimmte Themen beschränkt, die der Mühe wert schienen. Helden, Krieg, Götter und Liebe, wenn sie denn eines oder mehrere der anderen 3 Themen tangierte.
Die Erfindung der Schrift ermöglichte es nun, komplizierteste Geschichten zu konservieren, ohne in der Lage sein zu müssen, alles auswendig aufsagen zu können. Das veränderte den Inhalt auf mehreren Ebenen: Auch bislang „Triviales“ war auf einmal der Mühe Wert, konserviert zu werden, weil der Vorgang einfacher wurde. Es wurden aber auch neue Inhalte entdeckt und Stilmittel, die die alten Formate sprengten.
Und spätestens von dieser medialen Revolution ist auch das Lamento über den Verfall von Sitten und Qualität bekannt.
Der Kreis derjenigen, die an der Kreation der überlieferten Geschichten beteiligt waren, vergrößerte sich bemerkenswert. Wenn er auch immer noch vergleichsweise winzig war.
Die nächste Revolution war der Buchdruck. Auch ohne Skriptorien, die in den Händen der Klöster waren, konnten Bücher vervielfältigt werden. Jedem dürfte klar sein, welche Auswirkungen das auf Inhalte, Kreis der möglichen Autoren, Qualität der Erzeugnisse, in beiden Richtungen, und Demokratisierung der Verfassenden hatte.
Das Lamento dazu hingegen kann man in Ecos „Der Name der Rose“ lesen.
Nun sind wir immer noch am Anfang der nächsten medialen Revolution. Wobei ich Kino und Fernsehen feige auslasse, was nicht ganz richtig ist. Diese beiden Medien mit einzubauen, ist aber sehr komplex.
Das ist nun kein Plädoyer für shitstorms, Gewaltandrohungen oder Ähnliches.
Es ist aber nicht auf einmal mehr erlaubt als früher. Die Verbote sind dieselben. Die Umsetzung ist schwieriger geworden, aber nicht unmöglich.
Beim SWR gab es vor einiger Zeit im Nachtcafe eine Sendung mit dem Titel „bloß nichts falsches sagen“
Die Schauspielerin Nina Proll erklärte ihre Teilnahme an „alles dichtmachen“ damit, dass sie ja vorher in Talkshows, im Gespräch mit dem Kanzler (Kurz) und in Liedern auf ihr Anliegen aufmerksam gemacht hätte, aber das „hat ja nicht geholfen“.
Ihre Meinungsfreiheit war also nicht etwa beschnitten, weil sie nichts sagen durfte, auch nicht, weil sie keine Reichweite gehabt hätte, sondern, weil nicht das gemacht wurde, was sie gerne wollte.
Da wird es dann auch unfreiwillig komisch: Nicht selten betreiben Angehörige irgendwelcher Eliten, weil sie sich weniger gewertschätzt fühlen als früher einmal, ein Elitenbashing ( „Virologendiktatur“ etc. ).
Modernisierungskrise. Viele haben viel Überblick verloren und finden sich in der neuen Realität nur schlecht zurecht.
Ihr, liebe Medienschaffende, seid aufgerufen, da zu helfen. Nicht das zu verschlimmern.
Just sayin‘ ;-)
Herzlichen Dank für diese genaue Analyse! Auch bei mir haben die zunächst kolportierten Ergebnisse dieser Umfrage mehr Fragen aufgeworfen, als das sie etwas beantwortet hätten, denn der grundlegende Schluss stimmt für mich nicht: Auf die Frage, ob die genannten Themen heikel sind, hätte ich ebenfalls mit ja geantwortet, hätte Allensbach bei mir angerufen – und prompt wäre ich zur Kronzeugin derer geworden, die sich in ihrer Meinungsfreiheit beschnitten fühlen. Das heißt es aber nicht, zumindest nicht notwendigerweise: Wenn ich in dem Bewusstsein über Themen diskutiere, ob privat, im Netz oder in Meinungsbeiträgen als Journalistin, dass sie heikel sind, dass für viele Menschen dabei viel auf dem Spiel steht, dass ich mein Wording dabei besonders hinterfragen sollte etc. – dann kann ich das doch in dem Bewusstsein tun, dass genau diese Vorsicht not tut, um Austausch und damit auch Meinungsfreiheit möglich zu machen, statt die Fronten weiter zu verhärten (Kriegsrhetorik, ich weiß.) Ich kann doch finden: Ja, ist mühsam, aber die Auseinandersetzung lohnt sich, weil es sowohl mich als auch die Diskussion weiterbringt. Genau diese Gleichsetzung von „Ist heikel“ mit „das sollte es aber gefälligst nicht sein!“ führt möglicherweise zu einer Schieflage in der Interpretation. Wobei es sicherlich Teilnehmer der Umfrage gibt, die es genau so meinen, keine Frage.
Ich glaube, so wie das hier schon einige geäußert haben, dass die Fragen teilweise sehr missverständlich formuliert und die Ergebnisse dadurch nicht zu gebrauchen sind. Oder anders: Die Reliabilität der Befragung ist seit jeher das große Pfund von Allensbach: Über lange Zeiträume hinweg werden dieselben Fragen gestellt. Und das vom Ablauf so professionell (Objektiviät und so), wie es geht. Leider ist die Validität des Instruments komplett im Eimer: Wenn es zwei oder mehr Interpretationen über den Inhalt einer Frage gibt, wenn es zwei- oder mehrteilige Fragen gibt (ein No-go im Interview, wie jeder Volontär im ersten Jahr weiß), sind die Antworten im soziologischen Sinne nutzlos. Mathematisch ausgedrückt: Man produziert Datenmüll.
Das trifft so deutlich nur auf ein paar Fragen zu (jedenfalls von denen, die hier im Artikel genannt werden), aber es lässt dennoch eine erhebliche Diskrepanz von Datenqualität und Rezeption erkennen. Daher brauchen wir uns über die Meinungsfreiheit auf Grundlage dieser Ergebnisse doch gar nicht unterhalten. In die kann doch jeder reininterpretieren was er will. Stichhaltige Argumente für das Thema liefern die Ergebnisse jedenfalls nicht. Nur den Anlass.
Eins noch: Die Aussage von Thomas Petersen, Allensbach, finde ich dabei sehr bezeichnend: „Weite Teile der intellektuellen Welt, und das schließt – Pardon – weite Teile der Journalisten ein, haben verlernt, mit normalen Menschen zu sprechen und sie zu verstehen.“
Wer von „weiten Teilen“ spricht, meint meiner Erfahrung nach eigentlich „alle“, will aber differenzierter klingen. Mich würde interessieren, wie viele Kulturzeitschriften-Abos der Herr so hat und wie viele Tages- und Wochenzeitungen er jeden Tag so durchgeht, um zu wissen, was „weite Teile der intellektuellen Welt“ so denken und schreiben. Ich gehe mal davon aus, dass Petersen wie (von mir geschätzt) 99 Prozent der Nicht-Journalisten höchstens eine Tageszeitung regelmäßig konsumiert und in ein, zwei andere Zeitungen/Zeitschriften bei Gelegenheit reinschaut.
Meine These: Er ärgert sich über manche Artikel der Journalisten und Journalistinnen in seiner Zeitung und verallgemeinert das.
Wie ich H.M. Broder einschätze, hat er sich diese hübsche Geschichte selber ausgedacht…
Ein zusätzlicher Aspekt ist ja auch, dass bestimmte Themen in bestimmten Kontexten heikel sind, in anderen aber nicht.
Auch ein allgemein beliebtes Small-Talk-Thema wie lustige Anekdoten über die eigenen Kinder würde man doch kontextuell als „heikel“ betrachten, wenn man bspw. mit jemandem in der Runde sitzt, der gerade sein Kind verloren hat.
Zwar sind die von Allensbach abgefragten Themen generell welche, die man allgemeiner als heikel bezeichnen kann, aber doch auch da nicht losgelöst vom Kontext.
Wir vergessen nur gerade auch auf Facebook und Twitter, dass wir den Empfängerkreis unserer Äußerung nicht kennen. Und ich als Absender bin mir doch automatisch bewusst, dass ich auch Menschen erreiche, die meine Äußerung als heikel empfinden, selbst wenn sie eigentlich lapidar und thematisch meist unverfänglich ist.
Aber das ist ja ein Internetproblem „früher“ konnte sich Ottonormalverbraucher doch fast nur in Kreisen äußern, die er kannte und einschätzen konnte: Familie, Arbeitsplatz, Sportverein. Das gibt doch ganz andere Möglichkeiten der Verortung der eigenen Aussagen, weil man weiß, womit man aneckt und womit nicht.
„Wir vergessen nur gerade auch auf Facebook und Twitter“ – wer ist „wir“?
Das wird sicher Teil der gefühlten Einschränkung der Meinungsfreiheit sein, aber im Endeffekt ein Fall von selber Schuld.
Vielen Dank für den sehr differenzierten Artikel, Herr Niggemeier. Inhaltlich ist es für mich absolut stimmig und bringt sehr vieles gut auf den Punkt.
Was mir – auch in den ganzen Kommentaren dazu – fehlt, ist eine Differenzierung, die mir in Debatten um das Thema „Meinungsfreiheit“ zentral scheint:
1. WAS ist eine Meinung?
—> in Abgrenzung zur Behauptung von Fake-News oder Leugnung von Tatsachen
2. WIE wird die Meinung geäußert?
—> in Hinblick auf diskriminierende oder verletzende Worte oder Bemerkungen
3. WELCHE KONSEQUENZEN folgen auf die Meinungsäußerung?
—> auf den Dimensionen Zustimmung|Ablehnung (wer reagiert darauf wie?), Interesse/Desinteresse (welche „Bühne“ bekomme ich?) und Toleranz/Sanktionierung
Wenn man sich diese drei Punkte vor Augen führt, wird klar, was häufig durcheinander geht:
– Das Blockieren der Verbreitung von „Fake News“ wird von manchen als Einschränkung der Meinungsfreiheit bewertet.
– Ein Shitstorm, der auf diskriminierende Äußerungen folgt, wird als Zeichen dafür gewertet, man könne nicht mehr frei sagen oder schreiben, was man denkt.
– Die Nichtberücksichtigung (im Sinne eines Interviews in einschlägigen Nachrichtensendungen oder einer Einladung in eine Talkshow) eines Experten, dessen Position man anhängt, wird als „Mundtotmachen“ erlebt.
Das Grundrecht auf eine freie Meinung wird allerdings von all dem nicht ansatzweise tangiert. Weder gibt es ein Recht auf eine Bühne, noch eines auf Zustimmung und erst Recht keines auf Diskriminierung anderer (im Gegenteil!).
Die einzig relevante Dimension, ob „man noch seine freie Meinung äußern darf“ scheint mir die der Toleranz/Sanktionierung zu sein. Was droht mir institutionell oder juristisch, wenn ich dieses oder jenes so äußere?
Und da sehe ich per se keine Verschiebung der Rechtslage, allenfalls eine veränderte Sensitivität innerhalb der Sprache – was in vielen Aspekten sehr begrüßenswert ist. Die Herausforderung besteht meines Erachtens darin, zu diskutieren, ab wann man diesbezüglich das Kind mit dem Bade ausschüttet bzw. wo/wann mehr Toleranz gefordert werden muss.
@mycroft #27
Um Schuld ging es mir doch dabei nicht, sondern um den Versuch, Gründe für dieses Gefühl der Eingeschränktheit herauszuarbeiten