Debatte um Amanda-Gorman-Gedicht

Dürfen nur Schwarze Schwarze übersetzen? „Das ist totaler Nonsens“

Janice Deul
Janice Deul Foto: Roger Neve

Frau Deul, am 26. Februar erschien ein Text von Ihnen in der Zeitung „de Volkskrant“, der über die Landesgrenzen hinaus Furore machte. „Een witte vertaler voor poëzie van Amanda Gorman: onbegrijpelijk“ („Eine weißer Übersetzer für das Gedicht von Amanda Gorman: unbegreiflich“). Wie kam es dazu?

Janice Deul: Als ich die Ankündigung des Verlags gelesen hatte, dass Marieke Lucas Rijneveld „The Hill We Climb“ ins Niederländische übersetzen werde, dachte ich: Du liebe Zeit, wie kann das sein, gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt? Warum treffen sie keine andere Wahl? Also setzte ich mich an meinen Computer, schrieb den Kommentar und schickte ihn ab. Es war keine koordinierte Aktion, um Leute auf mich aufmerksam zu machen. Es war keine Kampagne. Ich folgte einfach meinem Herzen und meinem Instinkt, wie ich das schon mehr als zehn Jahren tue, wenn es um Themen wie Diversität und Inklusion geht – vor allem in Bezug auf Kunst und Mode. Ich dachte: Das ist eine riesige Gelegenheit, die hier verpasst wird.

Als was arbeiten Sie?

Ich bezeichne mich als Modeaktivistin. Ich tue alles, was ich kann, um meine Botschaft rüberzubringen: Dass wir die Macht der Mode, der Kultur, von Kunst und Schönheit nutzen müssen, um die Gesellschaft inklusiver zu machen. Ich unterrichte an Universitäten, an Mode- und Kunstakademien. Ich gebe Workshops für Leute, die in Medien arbeiten. Ich schreibe Bücher, gerade sitze ich an einem über Inklusion in der Modebranche. Ich nehme an TV-und Radiodiskussionen teil. Und ich schreibe Kommentare wie diesen. Es ist komisch, wenn Leute über mich als „diese Modebloggerin“ reden, weil ich überhaupt keine Modebloggerin bin.

Der Text war also nicht ihr erster Zeitungsbeitrag?

Mein dritter in einem Jahr. Der Text ist nicht einfach aus dem Nichts gekommen. Ich habe schon im Januar gesagt, dass in den Niederlanden alle von Amanda Gorman begeistert sind, sie bewundern. Was gut ist. Aber zugleich haben wir die vielen jungen schwarzen Spoken-Word-Talente hier in den Niederlanden nicht im Blick, die gesehen und gehört werden wollen. Und sollten. Wenn Sie etwas sehen, dass etwas in Ihnen auslöst, können Sie darüber einen Kommentar schreiben, und die Redaktion entscheidet dann, ob sie ihn veröffentlicht. „De Volkskrant“ hat eine große Sache draus gemacht, einen ganzseitigen Artikel.

Mit einem kernigen Titel.

Die Überschrift über dem Text, wie ich ihn an die Zeitung geschickt hatte, lautete „Be the Light, not the Hill“. Aus dem Gorman-Gedicht. Ich wollte an die Welt der Literatur appellieren, ihre, sagen wir mal, Türen und Herzen, ihre Arme und Augen zu öffnen und zu sehen, dass es eine Menge schwarzer Spoken-Word-Talente in den Niederlanden gibt. Deswegen wählte ich diese positive Überschrift: „Seid das Licht, nicht der Hügel“. Ich kann verstehen, dass die Zeitung eine weniger poetische Überschrift haben wollte zugunsten eines direkteren, konfrontativerens Titels. Aber gleichzeitig ist das ein Teil des Problems, das Journalismus heute hat. Die Redaktionen müssen eine Überschrift wählen, die möglichst viele Klicks erzeugt. Ich glaube auch, dass die Fehlinterpretationen meines Textes zum Teil daher rühren, dass die Leute ihn nicht wirklich gelesen haben. Sie lesen nur die Überschrift.

Zeitungsseite "de Volkskrant" mit Kommentar von Janice Deul: "Eine weißer Übersetzer für das Gedicht von Amanda Gorman: unbegreiflich"
Ausriss: „de Volkskrant“

„Ein weißer Übersetzer für das Gedicht von Amanda Gorman: unbegreiflich“.

Das war, was viele Leute von dem Text mitgenommen haben. Das ist ein Problem, denke ich.

Hatten Sie überlegt, statt den Artikel zu schreiben, sich direkt an den Verlag zu wenden?

Warum hätte ich das tun sollen? Der Verlag hatte eine Entscheidung veröffentlicht und ich habe darauf öffentlich reagiert. Ich wollte meine Meinung mit anderen teilen. Für mich war das ein Aufruf an die Literaturwelt, denn wir reden hier zwar von Amanda Gorman und Marieke Lucas Rijneveld und Janice Deul, aber es geht nicht um uns persönlich. Es geht darum, dass das ganze System sich ändern muss.

Was muss sich ändern?

Der Vorgang ist ein Beispiel dafür, wie das System funktioniert, die Literaturwelt, die im Grunde das politische System widerspiegelt. Wir sind blind für die Talente, die Schönheit und all die anderen Qualitäten, die People of Color mitbringen. Das ist ein Mechanismus, etwas Automatisches: Wenn sich eine Frage wie die nach der Übersetzung stellt, konzentrieren wir uns auf eine weiße Person. Weiße sind für uns der Standard, die Normalität. People of Color sehen wir erst, wenn sie besonders gut sind, um überhaupt in Erwägung gezogen zu werden. Wenn man sich den Fall mal genau anschaut: Die ursprünglich vorgesehene Person, Marieke Lucas Rijneveld, hat keinen professionellen Hintergrund im Übersetzen. Das hat niemanden gestört. Bis einige Leute sagten: Nein, Moment, warum suchen wir nicht jemand anderen, eine Person of Color, die wie Gorman Spoken-Word-Kunst macht? Als ich Namen solcher Personen vorschlug, hieß es dann: Diese Leute sind aber keine zertifizierten Übersetzer*innen. Nur: Marieke Lucas Rijneveld ist das auch nicht. Plötzlich spielte es eine Rolle.

Es wird mit zweierlei Maß gemessen.

Nach dem Gewinn des International Booker Prize im letzten Jahr hatte Rijneveld in Interviews erzählt, eher schlecht Englisch zu können. Was bei Rijneveld aber nicht thematisiert wurde als notwendige Qualifikation. Wie kann das sein? Niemand sagte etwas dazu – bis ich diese zehn Kandidat*innen vorschlug. Und plötzlich redeten alle darüber, dass die ja keine Übersetzer*innen seien. Sie sind keine professionellen Übersetzer*innen, aber ihr Englisch ist besser als meins, besser als das von Marieke Lucas Rijneveld. Denn diese Künstler*innen arbeiten auf Englisch und Niederländisch.

Was passierte, als ihr Artikel erschienen war?

Die Hölle brach los. Ich war wirklich fassungslos über das Ausmaß der Reaktionen – nicht nur in den Niederlanden. Der Großteil der öffentlichen Reaktion war ziemlich negativ, weil man sich nur auf den „Color“-Aspekt konzentrierte. Obwohl ich verschiedene wichtige Punkte angesprochen hatte, um zu zeigen, warum wir jemand anderes hätten aussuchen sollen. Dann begannen die internationalen Medien, die Sache aufzugreifen. Es ist wirklich verrückt zu sehen, wie groß diese Sache geworden und wie der Kern der Diskussion dabei komplett untergegangen ist. Wie Dinge aus dem Zusammenhang gerissen worden sind und wie viele Menschen einfach Vermutungen über den Inhalt des Textes anstellten, ohne ihn gelesen zu haben. Das ist ziemlich enttäuschend, denn viele der Kommentare stammen von Leuten, deren Beruf es ist, zu lesen und zu schreiben: Journalisten, Autoren, die sogenannte kulturelle Elite.

Haben Sie nach der Veröffentlichung Anfragen erreicht, die Ihre Sicht der Dinge hören wollten?

Anfragen hatte ich von Medien aus ganz Europa, die waren sehr gemischt. Ich habe nur geantwortet, wenn ich das Gefühl hatte, die Anfrage macht einen vertrauenswürdigen und konstruktiven Eindruck, es wird mir die Möglichkeit gegeben, Dinge klarzustellen. Leider war das bei den niederländischen Medien nicht der Fall. Da hatte ich genau einen Auftritt beim öffentlich-rechten Nachrichtensender NOS und das war’s.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ich glaube, die niederländischen Medien sind generell nur interessiert, wenn es Lärm und Aufruhr gibt. Ich bin aber primär daran interessiert, zu einem Thema einen konstruktiven Dialog zu führen. Darum habe ich den Text geschrieben. Darum habe ich die Worte gewählt, die ich gewählt habe. Es war kein Angriff auf eine Person. Ich finde, ich war respektvoll gegenüber allen Beteiligten. Der niederländische Verlag schickte mir ziemlich früh eine E-Mail, dass sie meinen Kommentar schätzten, dass sie ihn konstruktiv und aufschlussreich fanden. Das teilte der Verlag auch in sozialen Medien – ein Punkt für mich, finde ich. Aber die Leute tendieren dazu, das nicht mitzubekommen, weil sie es nicht mitbekommen wollen.

Hat der Verlag schon eine neue Lösung für die Übersetzung präsentiert?

Nein, bisher nicht.

Amanda Gorman
Amanda Gorman Foto: Chairman of the Joint Chiefs of Staff CC BY

Gab es andere positive Reaktionen?

Die American American Association of Literary Translators hat ein Statement veröffentlicht, das die wichtige Rolle hervorhebt, die Inklusion in ihrer Arbeit spielt. Das beinhaltet auch Pläne, People of Color als Übersetzer zu fördern. Ich bin also nach wie vor froh, dass ich den Kommentar geschrieben habe. Aber ich glaube, dass wir als Gemeinschaft, insbesondere die Journalisten und Übersetzer, über uns und unsere Position in diesem Fall nachdenken sollten. Der ganze Aufschrei zeigt doch, was zuerst wichtig ist: Chancengleichheit.

Hatten Sie mit Marieke Lucas Rijneveld einen Austausch?

Nein. Aber es gab ein Gedicht von Rijneveld als Antwort. Es ist in einer Art Spoken-Word-, Slam-Poetry-Form verfasst. Ich sehe darin eine Erklärung im Sinne von: Ich hätte den Job leicht machen können. Seht her, was ich hier mache. Gleichzeitig sagt dieses Ich: Es ist nicht an mir, diese Übersetzung zu übernehmen, ich ziehe mich zurück, um anderen Platz einzuräumen. Ich mag das Gedicht. Ich habe nichts gegen Marieke Lucas Rijneveld.

Das Gedicht „Alles bewohnbar“ wurde auch ins Deutsche übersetzt und in der FAZ veröffentlicht. Als Debattenbeitrag wurde es, wie auch die Entscheidung von Rijneveld, kaum gewürdigt. Ich fand, dass man den Zeilen anmerkt, wie hart der Erkenntnisprozess ist, von dem sie erzählen, wie sich die Enttäuschung in die Form rettet.

So kann man es sehen. Aber ich konzentriere mich auf das Ende des Gedichts, wo Rijneveld sagt, es ist nicht an mir, diesen Auftrag anzunehmen. Aber Sie haben recht, ich kann mir vorstellen, dass Rijneveld etwas enttäuscht ist. Doch es gab keine Aufforderung, die Zusage zurückzuziehen, zumal so schnell. Es war Rijnevelds eigener Entschluss. Ich kann nur vermuten, dass Rijneveld mein Argument verstanden hatte. Ich war übrigens nicht die einzige Person, die sich so zu der Sache geäußert hatte. Eine Menge Leute machten ihrem Schmerz, ihrem Frust, ihrer Wut Luft – via soziale Medien oder auch durch Mails an den Verlag. Es gab also eine Menge Stimmen, aber weil nur ich einen Zeitungskommentar geschrieben hatte, wurde ich als Anführerin der Kritik wahrgenommen.

Wie würden Sie den Anteil von nicht-weißen Communities an den medialen Debatten in den Niederlanden bemessen?

Wenn man sich die Leute anguckt, die in den niederländischen Zeitungen oder Fernsehsendern angestellt sind, die Kolumnen haben, die für Verlage arbeiten oder ein sonstiger Teil der kulturellen Elite sind: Nicht viele von ihnen sind People of Color. Es ist eine recht weiße Welt.

Ich würde Ihnen gerne ein paar Positionen nennen, zu denen ihr Text in der deutschen Debatte geführt hat. Da wurde sich zum Beispiel bang gefragt, ob es rassistisch sei, wenn eine weiße Person den Text einer schwarzen übersetzt.

Hmm, ich verstehe die Frage nicht. Leute werfen mir vor, rassistisch zu sein?

Nein, nein. Ich würde diese Position so auffassen, dass von Ihrer Intervention bei diesen Leuten dann ankommt: Jetzt ist es schon rassistisch, wenn eine weiße Person eine schwarze übersetzt; wo soll das noch hinführen?

Nein, das kann man nicht sagen. Man könnte sagen: Was nach Rassismus aussieht, ist die Art, wie wir Personal für bestimmte Jobs aussuchen, und wie wir die Augen vor den Qualitäten anderer Leute verschließen. Aber was Sie da gerade erwähnen, ist totaler Nonsens. Das habe ich nie behauptet. Und soweit ich weiß, hat das auch sonst niemand je behauptet. So viele Werke von Schwarzen werden von Weißen übersetzt. Die Autobiografie von Michelle Obama – wurde ins Niederländische von weißen Männern übertragen. Das ist der Automatismus, der vorherrscht, dass da jemand Weißes ausgewählt wird.

Also zielte Ihre Intervention auch darauf, sich diesen Automatismus bewusst zu machen?

Dieses spezifische Gedicht hat eine große symbolische Bedeutung, die weit über die Literatur und das Gedicht hinausreicht. Das fängt an bei der Dichterin. Dass Amanda Gorman geeignet war für den Auftritt bei der Amtseinführung ist wichtig für viele junge Frauen of Color, die so oft als ungeeignet angesehen werden für bestimmte Aufgaben. Und man sollte bedenken vor dem Hintergrund von Black Lives Matter, dass wir in den Niederlanden so viele Spoken-Word-Künstler*innen of Color haben, die sich auf Gorman beziehen können, auf ihre Arbeit und ihren kulturgeschichtlichen Background. All das kann für mich nur zu dem Schluss führen, dass es in dieser speziellen Situation eine verpasste Gelegenheit wäre, hier nicht jemanden für die Übersetzung zu engagieren mit einem ähnlichen Profil wie Amanda Gorman. Das habe ich gesagt, und das denke ich immer noch.

Daraus wurde in der deutschen Debatte eine Art „Dürfen“-Memory-Spiel gemacht. Schwarze „dürfen“ nur Schwarze übersetzen, Weiße nur Weiße, Frauenfeinde nur Frauenfeinde. Wenn ich das richtig verstanden habe, sollte das manchmal auch witzig sein: „Darf Shakespeare jetzt nur noch von Zeitgenossen übersetzt werden?“

Ja, gut, das ist noch eins dieser unsinnigen Argumente. Niemand hat so was gesagt oder gefordert. Identität ist nicht das wichtigste Kriterium bei der Frage, wer mit einer Übersetzung beauftragt wird. Aber wir dürfen unsere Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass Identität immer eine Rolle spielt, ein Teil dessen ist, was man macht und wie man es macht. Aber erst jetzt, wo, sagen wir mal, andere Identitäten auf ihre Rechte pochen und ihren rechtmäßigen Raum fordern, heißt es plötzlich, Identität sei ein Problem. Ein alter weißer Mann hat seine Identität, bringt seine eigenen Erfahrungen und Einsichten bei allem ein, was er tut, ob bewusst oder unbewusst. Also auch bei Übersetzungen, wo die Arbeit im besten Falle unsichtbar bleibt. Das können wir nicht ausblenden.

Noch ein letzter Punkt aus der Debatte, der mit dem „Dürfen“-Memory zu tun hat: Warum Sie nicht gefordert haben, dass schwarze Frauen berühmte weiße Männer übersetzen.

Weil ich meinen konkreten Punkt nie als allgemeingültig dargestellt habe. Ich habe den Artikel eines französischen Journalisten gelesen, der sagte: Demnächst darf ich als Weißer wohl nicht mehr über Dinge schreiben, die mit Schwarzen zu tun haben. Das hat nichts zu tun mit der Frage, die ich gestellt habe. Und die wir uns stellen sollten: Warum nutzen wir nicht all das Talent so vieler Menschen, die momentan nicht erkannt werden, nicht vom System repräsentiert werden? Lasst uns diese Kraft nutzen, denn sie wird die Gesellschaft, die Literatur, sie wird alles bereichern. Dafür steht Amanda Gorman. Kürzlich hat sie gesagt: „Es ist gut, dass ihr mich jetzt seht. Aber bitte seht auch die anderen jungen Schwarzen, die nicht gesehen werden. Ich kann und will nicht alleine aufstehen.“ Ich würde sagen, damit ist alles gesagt.

Hatten Sie mit Gorman eigentlich Kontakt?

Natürlich würde ich liebend gerne mit ihr sprechen, aber ich habe ihr noch keine Mail geschickt. Ich weiß nicht. Eines Tages vielleicht. Aber ich muss sagen, es ist schön festzustellen, dass sich die Diskussion etwas beruhigt hat. Ich hoffe weiterhin, dass man einen erwachsenen und konstruktiven Dialog zu dem Thema führen kann.

19 Kommentare

  1. „Nach dem Gewinn des International Booker Prize im letzten Jahr hatte Rijneveld in Interviews erzählt, eher schlecht Englisch zu können. Was bei Rijneveld aber nicht thematisiert wurde als notwendige Qualifikation.“
    DAS Argument wäre besser gewesen als jedes andere. Zertifizierte Übersetzer sind mWn eher für Sachtexte als für Gedichte da. Und da ist die Wahl vllt. nicht optimal gewesen, aber immerhin begreiflich.

  2. Ich glaube inzwischen, diese „Debatten“ haben mit der Realität nichts mehr zu tun. Dass es ein Gedicht, einen „Anlass“ gab, ist ja offensichtlich Nebensache. Hauptsache ist das schon fertige Argument: Identitätspolitik ist links, schlecht, lächerlich und im Kombi mit Cancel-Culture der Anfang vom Ende.

  3. Ich bin sehr glücklich über dieses Interview. Es wäre so einfach. Menschen ausreden lassen und auch zuzuhören. Ich persönlich habe allerdings nicht mehr die Lust und Zeit mich mit wieder-und überholten Phrasen („Was darf man eigentlich noch sagen?“) auseinandersetzen zu müssen. Das haben wir doch alles schon durchgekaut. Ich glaube jedenfalls durch dieses Interview verstanden zu haben, worum es in dem Anstoß wirklich ging, nämlich auch mal die übertönten Stimmen zu Wort kommen zu lassen und einfach mal zuzuhören. Mir wurde jedenfalls nichts dadurch weggenommen.

  4. „Wenn man an Privilegien gewöhnt ist, fühlt sich Gleichberechtigung wie Unterdrückung an“ – das ist fast schon alles, was man verstanden haben muss, um diese Debatte zu umreißen. Dass sich immer noch ein so großer Teil der (Mehrheits-)Bevölkerung weigert, das einzusehen, finde ich peinlich. Dass es auch anders geht und man als Privilegierter auch die Bedeutung einer Sache wie die Gorman-Übersetzung verstehen kann, hat zum Beispiel Harry Rowohlt doch schon vor was-weiß-ich-wie-viel Jahren gezeigt: Der meinte nämlich mal, dass er ungern Bücher von Autorinnen übersetzt, weil es so viele Übersetzerinnen gibt, die nie gefragt werden.

    Allgemein erinnert mich vieles in diesem Gespräch an das sagenhaft gute Interview, das Fran Lebowitz vor über 20 Jahren der Vanity Fair gegeben hat (https://www.vanityfair.com/culture/2016/01/fran-lebowitz-on-race-and-racism). Offenbar hat sich nicht viel geändert seitdem, wenn man es immer wieder aufs Neue erklären muss.

  5. Klasse Interview, dass gleich zwei Aspekte konstruktiv, unaufgeregt und erkenntnisreich behandelt, nämlich den eigentlichen Kern der ursprünglichen Kritik an der Wahl der Übersetzerin und was (soziale) Medien daraus gemacht haben.

  6. Dieses kluge Interview scheint mir ein weiteres Indiz dafür zu sein, dass in den ganzen Cancel-Culture-Debatten diejenigen, denen wildgewordenes Canceln vorgeworfen wird, meistens besonnener, reflektierter und geduldiger agieren als diejenigen, die ihnen eben dieses Canceln vorwerfen.

  7. dass in den ganzen Cancel-Culture-Debatten diejenigen, denen wildgewordenes Canceln vorgeworfen wird, meistens besonnener, reflektierter und geduldiger agieren als diejenigen, die ihnen eben dieses Canceln vorwerfen.

    Richtig.
    Und man sollte die Konsequenzen ziehen. Canceln allein reicht nicht. Man muss auch konsequent alles löschen, was die cancel culture erwähnt.

  8. @MYCROFT:
    Eigentlich sind Sie derjenige, der hier zu canceln versucht. Nicht nur ignorieren Sie die Entscheidung Marieke Lucas Rijnevelds, nein, Sie versuchen auch noch Janice Deul das zu verbieten, was ihr ein persönliches Anliegen ist: Die Sichtbarmachung und Förderung junger Talente aus den Reihen der PoC.
    Alles was Frau Deul kritisiert hat ist, dass der Verlag offensichtlich andere Maßstäbe an die Vergabe von Übersetzungsaufgaben anlegt, je nachdem, welche Hautfarbe die Kandidaten haben. Empirisch sind die Ergebnisse leicht zu verifizieren. Marieke Lucas Rijneveld hat sich entschieden, daraufhin zurückzuziehen. Und auch das ignorieren Sie einfach, indem Sie letztlich auch da die Person und Ihre Entscheidung nicht respektieren.

    Wenn das kein Canceln ist, was dann?
    Also tun Sie doch bitte nicht so, als ginge es Ihnen um irgendeine Art von Gerechtigkeit. Ist ja lächerlich!

  9. „Da hatte ich genau einen Auftritt beim öffentlich-rechten Nachrichtensender NOS und das war’s“
    Bitter: Zusätzlich zu einem Artikel im ‚Volkskrant‘ nur EINEN Auftritt im ÖR-Fernsehen?
    Das ist eindeutig Diskriminierung, denn ein fester Sendeplatz und ein roter Teppich in allen Sendern steht eigentlich jeder zu, die etwas sagen will. Außer natürlich, sie sagt etwas Unpassendes. Dann muss sie natürlich auch mit allen alten Aufnahmen von jeder Plattform fliegen. Ne? Na!

  10. Nicht nur ignorieren Sie die Entscheidung Marieke Lucas Rijnevelds

    Diese Entscheidung habe ich zur Kenntnis genommen. Das heißt nicht, dass ich das Team jetzt für besser halte. (Und Rücktritt aus freien Stücken nach Shitstorm ist nicht unbedingt freiwillig.)

    Sie versuchen auch noch Janice Deul das zu verbieten, was ihr ein persönliches Anliegen ist: Die Sichtbarmachung und Förderung junger Talente aus den Reihen der PoC.

    Kann sie doch gerne machen. Inwiefern werden die ausgerechnet dadurch sichtbar, dass sie übersetzen? Ich habe zu hause eine Menge Bücher liegen, die ursprünglich nicht auf deutsch geschrieben wurden, und bei den allermeisten weiß ich nicht, wie der Übersetzer(m/w/d) aussieht. Einen kenne ich zufällig persönlich, und das ist tatsächlich ein alter weißer Mann, aber das betreffende Buch ist auch von einem solchen geschrieben. Bei wie vielen Büchern, deren Übersetzung Sie gelesen haben, kennen Sie Alter, Hautfarbe, Geschlecht oder sonst eine Eigenschaft, ohne zu googeln?
    Jedenfalls, wenn Deuls Hauptkritikpunkt der ist, dass man das Leute übersetzen lassen sollte, die mit präzise dieser Art von Lyrik Erfahrung haben, dann hätte sie das vllt. deutlicher kommunizieren sollen; die dt. Übersetzung jedenfalls leidet wohl sehr darunter, dass das _nicht_ geschehen ist. Obwohl man sehr darauf geachtet hat, es allen Recht zu machen.
    https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2021/03/30/buechermarkt_30032021_komplette_sendung_dlf_20210330_1610_4c9222ed.mp3
    Toitoitoi für die niederländische…
    Aber ja, gut, wenn schwarze Niederländer sichtbarer werden. Wird das Gedicht eigentlich auch mal vorgetragen, wofür es im Original ja gedacht war?

    Alles was Frau Deul kritisiert hat ist, dass der Verlag offensichtlich andere Maßstäbe an die Vergabe von Übersetzungsaufgaben anlegt, je nachdem, welche Hautfarbe die Kandidaten haben.

    Äh, nein. Mit dem Verlag selbst hat sie ja gar nicht geredet. (Bzw., vllt. legte der Verlag andere Maßstäbe an, aber das geht so aus dem Interview nicht hervor.)

    Zitat: „Warum hätte ich das tun sollen?“

    Sie hat wohl mit „Leuten“ im Vorfeld darüber diskutiert,
    „Die ursprünglich vorgesehene Person … hat keinen professionellen Hintergrund im Übersetzen. Das hat niemanden gestört.“ Insbesondere nicht Gorman selbst, wenn ich das richtig verfolgt habe.
    „Bis einige Leute sagten: Nein, Moment, warum suchen wir nicht jemand anderen, eine Person of Color, die wie Gorman Spoken-Word-Kunst macht?“ Wer ist bitte „wir“? Die beim Verlag? Oder irgendwelche Dritte, die die Übersetzung nicht bezahlen müssen? Vermutlich eher letzteres, weil sie nicht „der Verlag“ oder einen konkreten Namen sagt.
    „Niemand sagte etwas dazu – bis ich diese zehn Kandidat*innen vorschlug. Und plötzlich redeten alle darüber, dass die ja keine Übersetzer*innen seien.“ Wer sind „alle“? Dieselben Dritten, oder der beim Verlag? Das Argument mit der einschlägigen Erfahrung mit Lyrikübersetzungen und/oder eigener Tätigkeit als Spoken-Word-Artist (m/w/d) akzeptiere ich, aber wenn der Verlag aus eigenem Antrieb die falsche Person beauftragt, ist das ja sein Risiko.
    Nur behauptet Deul eben nicht, dass der _Verlag_ sich gegen Ihre Vorschläge gestellt hat, sondern „alle“.

    Empirisch sind die Ergebnisse leicht zu verifizieren.

    Ach? Vllt. ist das der Grund, warum das jetzt ein Team macht. Kriegen die insgesamt dasselbe Geld wie Rijneveld?

    Wenn das kein Canceln ist, was dann?

    Deul wird offenbar regelmäßig in einer niederländischen Zeitung veröffentlicht, woran ich nichts ändern will. Also ist es kein Canceln. Deul wollte offenbar, dass jemand anderes dieses Gedicht übersetzt. Das passiert jetzt auch. Also hat sie, meinetwegen unbeabsichtigt, Rijneveld gecancelt. Aber sie hat nichts gegen sie, wie schön.

    Jetzt bin ich mal gespannt, als das Interview geführt wurde, war die Entscheidung für ein Team ja noch nicht gefallen. Was wird Deul wohl zur niederländischen Übersetzung sagen?

  11. „Diese Entscheidung habe ich zur Kenntnis genommen. Das heißt nicht, dass ich das Team jetzt für besser halte. (Und Rücktritt aus freien Stücken nach Shitstorm ist nicht unbedingt freiwillig.)“

    Wie gnädig, und was ein „Shitstorm“ ist, das bestimmen immer noch Sie.
    Ich mag gar nicht auf die weiteren Ausflüchte eingehen. Hier ist eine brauchbare Übersetzung des Artikels von Frau Deul. Ich traue es weiterhin Marieke Lucas Rijnevelds durchaus zu, eine eigene Entscheidung zu fällen. Sie anscheinend können nur das Opfer-Framing akzeptieren (warum wohl?).

    Nun sagen Sie, Sie hätten Frau Deul ja gar nicht gecancelt, da sie ja weiter veröffentlich wird.
    Wer wird denn nun nicht mehr veröffentlicht/gehört?
    Marieke Lucas Rijnevelds? Welches der vielen anderen so laut beklagten Opfer dieser angeblichen Cancel Culture, die Sie und andere in den letzten Tagen und Wochen ohne Unterlass bejammern wird denn nun nicht mehr veröffentlicht/gehört?
    Dieter Nuhr etwa?

    Da wird dann auch noch ein katalanischer Opa ausgebuddelt, der kaum einen Satz ohne Macho Ressentiment rausbringt, als nächster Übersetzungsskandal.

    nee, ist klar. Das Leiden ist unaussprechlich allenthalben.

  12. „was ein „Shitstorm“ ist, das bestimmen immer noch Sie.“ Sie meinen, weil es ursprünglich in der Zeitung stand, ist es kein Shitstorm? Na schön, um der klaren Definition willen. Aber dann ist es auch keine Cancel-Kultur von mir, wenn ich nicht schreibe, dass Deul nicht veröffentlicht werden soll.

    „Wer wird denn nun nicht mehr veröffentlicht/gehört?
    Marieke Lucas Rijnevelds?“ Nunja, sie ist um einen Auftrag gekommen, der hoffentlich angemessen honoriert worden wäre. Sie hat auch keine Witze über Juden, Thunberg oder wenauchimmer gemacht, soweit man weiß. Natürlich ist sie keine Täterin.

    „Sie anscheinend können nur das Opfer-Framing akzeptieren (warum wohl?).“ Weil ich mich mit Selbstständigen besser identifizieren kann. Einen Auftrag ohne eigenes Verschulden zu verlieren, ist nicht toll. Selbst wenn man nach außen sich nichts anmerken lässt.

    „Ich traue es weiterhin Marieke Lucas Rijnevelds durchaus zu, eine eigene Entscheidung zu fällen.“ Natürlich ist es _ihre_ Entscheidung, aber sie hat sie nicht aus eigenen Antrieb getroffen – sonst hätte sie den Auftrag gar nicht erst angenommen – sondern auf Druck von außen.
    Aber gut, möglicherweise haben Sie Recht, und es zahlt sich doch noch aus, denn den nächsten Roman von einer nicht-binären Person wird vermutlich Rijneveld ins Niederländische übersetzen. Mit welchem Argument könnte man jetzt doch-binäre Person nehmen?

  13. Wir werden es eh nicht überprüfen können. Die Anzahl derer, die die Qualität einer niederländischen Übersetzung einer englischsprachigen Spoken-Word-Dichterin beurteilen können, dürfte auch unter den Meinungsgenies dieser Kommentarspalten eher gering sein. Von dem wirklichen Interesse für Gedichte mal abgesehen. Ich schreibe seit 40 Jahren welche und lese sie seit zehn Jahren ein. Viele finden das nicht schlecht. Und lesen und hören das fast nie. Bleibt also wieder nur das Grundsätzliche. Deutschsein heisst, etwas um seiner selbst willen zu meinen. Warum wähle ich für einen scheisse bezahlten Übersetzerjob bitte nicht mal eine PoC, die den Hungerlohn kriegt? Aber schönes Beispiel für die Verirrung ins Zweitrangige, die Identitätspolitik zur Freude der Mächtigen stets darstellt: Du wirst auf deine selbstgewählte Identität stolz sein dürfen, da sind wir sehr dafür, solange du an deinen sozialen Bedingungen nichts wirklich ändern willst. Seit es diesen Job g i b t, werden Übersetzer von Literatur erbärmlich bezahlt. Seit ca 3o Jahren stehen sie nun unter Autor und Titel und werden nicht mehr im Impressum versteckt. D a s ist Identitätspolitik: Du wirst sichtbar. Sonst ändert sich nicht viel. Danke für nichts.

  14. Und natürlich darf der Strohmann nicht ausbleiben:
    Geht es Benachteiligten materiell besser, wenn sie endlich wahrgenommen werden?
    Nein, dadurch sicher nicht, aber auch sicher nicht schlechter.
    Das wäre dann die Ebene des historischen Materialismus, die sich, auch wenn sie es bestreiten würden, die Kapitalisten mit den Marxisten als Sichtweise teilen.
    Sie verwechseln beide das Model der Realität ( welches immer nur einzelne Aspekte derselben beleuchtet ) mit der Realität selber.

    „Deutschsein heisst, etwas um seiner selbst willen zu meinen.“

    Vielleicht heisst Deutschsein auch einfach nur zu meinen, dass man anderen immer erzählen muß, was Deutschsein zu sein hat.

  15. Ja, und vielleicht sind Leute, die auf ihrem Twitter-Account oder sonstwo beteuern auf keiner Mission zu sein, gerade deswegen auf einer Mission. So kann jeder allen möglichen Quatsch vor sich hin behaupten, wenn der Tag nur lang genug ist.

  16. Ich glaube die Debatte war und ist wichtig. Und es ist besser, sie wie geführt, als wenn es in geräuschloses Business as usual gibt. Auch Poesie möchte Dinge ändern. Das ist wichtiger als eine neutralste und bestmögliche Übersetzung. Es ist alles ein Prozess. Der Weg ist noch lang!

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