„exactly“

Dasselbe in Gelb? Der MDR hat dann jetzt auch ein junges Reporterformat

exactly. Jeden 2. Donnerstag eine neue Reportage

Als der MDR vor kurzem eine Pressemeldung herausgab, um für sein neues Investigativ-Format zu werben, waren bereits vier Folgen von „exactly“ veröffentlicht. Jeden zweiten Donnerstag erscheint ein neuer Film, inzwischen sind es fünf. „Online only“ versteht sich, und das steht in dieser Mitteilung so, als wäre es ein Gütesiegel. Dabei produziert die Konkurrenz von „Y-Kollektiv“ mit „Rabiat“ inzwischen für das Fernsehen, sozusagen eine Rückübersetzung des Youtube-Formats fürs Lineare. So kann es gehen.

Es scheint, als wäre der MDR etwas spät dran. Es gibt es bereits einige von öffentlich-rechtlichen Sendern produzierte junge Investigativ-Formate: „STRG_F“ vom NDR, „Y-Kollektiv“ von Sendefähig mit Radio Bremen, „reporter“ vom WDR, „Die Frage“ vom BR und „follow me.reports“ vom ZDF. Andererseits ist es nie zu spät für handwerklich gut gearbeitete, investigative Rechercheformate. Was zeichnet die MDR-Variante aus?

Die Journalist:innen „machen (…) ihre Arbeit transparent, recherchieren abseits des Mainstreams und zeigen in ihren Filmen Gesicht“, heißt es in der Presseinfo. Ihr Publikum sei „im digitalen Kosmos zu Hause, also die 20- bis Mitte 30-Jährigen“. Für „exactly“ arbeiten die Journalist:innen mit der Leipziger Investigativ-Redaktion und dem MDR-Landesfunkhaus in Magdeburg zusammen. Der Name kommt wohl daher, dass das regionale Politmagazin des Senders „exakt“ heißt. Die Themen von „exactly“ sollen bundesweit relevant sein, aber vor allem von Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen aus erzählt werden.

In den Folgen, die bereits online sind, geht es um Anti-Kohle-Aktivist:innen, Sportwetten-Sucht, Studierende und Auszubildende während der Corona-Pandemie, Fast Fashion und ihre Folgen sowie um die psychische Belastung Freiwilliger Feuerwehrleute. Jede Geschichte wird von einer anderen Autor:in präsentiert, von zwei Frauen und drei Männern. Sie dauern etwa 20 Minuten.

Kohle

Die erste Reportage über den Kampf gegen die Kohle stammt von Marcel Siepmann, der herausfinden möchte, „was die Aktivisten wirklich wollen“ (Titel). (Gegendert wird im eigentlichen Beitrag wie selbstverständlich, auch wenn sich Siepmann anfänglich noch schwertut mit dem Glottisschlag.)

Dazu fährt er in den Kreis Leipzig nach Pödelwitz, ein 25-Seelen-Dorf, das mal ein 125-Seelen-Dorf war, bis es der Kohle weichen sollte. Hier haben es die Aktivist:innen zusammen mit den Anwohner:innen geschafft, die Ortschaft zu erhalten. Nun soll sie zu einem Modelldorf werden mit solidarischer Landwirtschaft, erneuerbaren Energien und einer gemeinschaftlich orientierten Vergabe der leerstehenden Häuser.

Dagegen ist Keyenberg im Rheinland eines von sechs Dörfern, das dem nahegelegenen Tagebau noch weichen soll. Siepmann zieht für zwei Tage ins dortige Protestcamp, in dem auch alternative Formen des Zusammenlebens ausprobiert werden. Emra, die präsenteste Protagonistin im Film, teilt sich mit 14 anderen Leuten ihr Einkommen. Dieses persönliche Projekt fasst sie so zusammen: „Gesellschaftliche Zwänge kollektivieren, um es dann leichter zu haben, sie zu tragen.“ Siepmann fängt die Motivation und Visionen der Aktivist:innen gut ein und schafft es, trotz des reporterzentrierten Formats, zumindest einer Protagonistin Raum zur Entfaltung zu geben.

Ausbildung

„Jung und ausgebremst“, der zweite „exactly“-Film, handelt von Menschen, die nach der Schule studieren oder eine Ausbildung beginnen wollen, dies aber nicht können oder in einer anderen Art und Weise machen müssen – wegen der Pandemie. Die Reportage von Friederike Rohmann und Jana Gareis zeigt die Studienanfängerin Josephine, den Schulabgänger Yaza, der Schwierigkeiten hat, einen Ausbildungsplatz zu finden, und den Masterabsolventen Felix, der eigentlich im Ausland arbeiten wollte.

Im Beitrag wird erwähnt, dass mehr als ein Fünftel der Studierenden während der Corona-Pandemie nicht in der Lage war, Rechnungen und Miete zu zahlen. Die porträtierten Personen betrifft das allesamt nicht, sie haben sich mit den Umständen mehr oder weniger resigniert arrangiert.

Josephine kann keine Parties feiern, Yazan findet fast keinen Ausbildungsplatz, und Felix muss nach Frankfurt statt nach Afrika. Die Protagonist:innen sind zwar durchweg sympathisch, erzählen aber nichts Neues.

Sucht

In der dritten Reportage geht es um Sportwetten. Genretypisch leitet Autor Fabian Held den Beitrag gehend ein. Er schreitet über einen Fußballplatz, langsam genug, so dass der Kameramann David Bochmann nicht fällt. Anschließend setzt er sich neben seinen Protagonisten Paul, den „cleanen“ Spielsüchtigen, auf die Tribüne. Seine Fragen folgen einer steilen Eskalationslogik: Wie viel Geld hast du verzockt? Was macht das mit einem? Würdest du sagen, du warst depressiv? Hattest du Suizidgedanken?

Zwar wird in der Videobeschreibung eine Triggerwarnung ausgesprochen, und Paul beantwortet alle Fragen ruhig und gewissenhaft, doch das Setting wirkt wenig einfühlsam, die eigentlich erschütternden Antworten bekommen nicht den nötigen Raum.

Später lädt der Reporter Paul zu sich nach Hause ein. In einem Selbstexperiment will der Autor auch zocken, mal schauen, was das so mit einem macht. Kurz vor Wettbeginn fragt er den Ex-Süchtigen: „Ist das für dich ok oder triggert dich das?“ Paul findet es ok, und wenig später prahlt Held: „Schon dieses Wochenende einen Fuffi gemacht.“ Paul fragt daraufhin trocken: „Findest du, das wird verharmlost?“ – „Mega, mega, mega.“

Trotz dieses befremdlichen Umgangs mit dem Protagonisten schafft es der Film, aufzuzeigen, warum Sportwetten so problematisch sind: Wettanbieter verdienen an Menschen, die die Kontrolle verloren haben, Werbung sorgt zuverlässig für Nachschub, und politische Rahmenbedingungen zur Regulierung im Interesse der Wettenden fehlen.

Mode

Thema der vierten Folge ist „Fast Fashion: Wie ihr alte Kleidung sinnvoll verwenden könnt“. Olga Patlan folgt dabei anhand ihrer aussortierten Kleidung den Wegen, die diese Stücke für gewöhnlich nehmen. Im Second-Hand-Shop stellt sie ernüchtert fest, dass die in der Regel nur qualitativ hochwertige Vintagestücke einkaufen. Beim Deutschen Roten Kreuz erfährt man, dass die meiste Kleidung aus den Containern von hier aus an kommerzielle Anbieter weiterverkauft werden, was einen beträchtlichen Anteil der Spendeneinnahmen ausmacht.

Anschließend geht es zu einem Sortierwerk in Bitterfeld-Wolfen. Erst entschlüsselt Patlan das Businessvokabular des Geschäftsführers, dann bekommen die Zuschauer:innen Einblicke in die Produktionsprozesse, fast wie bei „Sendung mit der Maus“, im besten Sinne. Zuletzt besucht die Autorin noch eine Vintage-Bloggerin und näht dort ihr Kleid zu einem Rock um. Patlan resümiert schließlich, man solle es sich genau überlegen, bevor man etwas kauft.

Feuer

Der zuletzt erschienene Film handelt von jungen Menschen bei der Freiwilligen Feuerwehr. Aus einem Mangel an flächendeckenden Berufsfeuerwehren übernähmen immer häufiger auch Freiwillige Einsätze, bei denen Tote geborgen und Schwerstverletze gerettet werden müssten. Um das zu illustrieren, befragt der Autor Luca Schmitt-Walz seinen Schulfreund zu einem seiner schlimmsten Einsätze, einem Schienensuizid. „Sag‘, wenn ich zu direkt frag‘“, fordert der Reporter. „Ihr habt eine Person gefunden. Wie muss ich mir das vorstellen?“. Der junge Feuerwehrmann antwortet, offenbar mit sich ringend, aber gefasst und letztlich sehr ausführlich und bildhaft – wie von ihm verlangt. Insofern irritiert der Kommentar des Reporters im Nachgang des Gesprächs: „Ich merke, ins Detail gehen möchte er nicht so richtig. Steckt wohl doch noch tief, dieser Einsatz.“

Was dennoch deutlich wird: Junge Leute werden bei der Freiwilligen Feuerwehr mit potenziell traumatisierenden Situationen konfrontiert, jedoch psychologisch kaum begleitet. Schmitt-Walz zeigt, dass es nicht nur an politischen Maßnahmen mangelt, sondern auch an einem offenen und vorurteilsfreien Umgang mit psychologischer Betreuung. Dafür findet er eine eindrucksvolle Szene: Mit dem Chef einer Feuerwache stellt der Reporter nach, welchen Ersatz für externe Hilfe die Wache gefunden hat. Nach einem schwierigen Einsatz sitzen die Feuerwehrleute zusammen am Kaffeetisch und essen einen Seelsorger. So nennen sie die Torte, die es in solchen Fällen gibt.

Wackelnde Handkamera

Ja, diese Themen sind durchaus bundesweit relevant, aber auch nicht unüblich für Investigativ-Formate, die auf ein junges Publikum abzielen. Es überrascht kaum, dass alle Themen so oder so ähnlich schon von den Konkurrenzformaten im funk-Netzwerk aufgegriffen wurden: Aktivismus gegen Kohleabbau und Rodung bei „reporter“, junge Menschen während der Corona-Zeit bei „follow me.reports“, Spielsucht beim „Y-Kollektiv“, Fast Fashion bei „Die Frage“ und die hohe Belastung freiwilliger Feuerwehrleute bei „Tru Doku“. So ist der Erkenntnisgewinn für die informierte junge Zuschauer:in einigermaßen begrenzt. Auch die Art und Weise der Darstellung ist konventionell: Aufgenommen mit einer immerzu leicht wackelnden Handkamera folgt man den Reporter:innen, die sich selbst in das Geschehen begeben und Teil der „Geschichte“ werden.

In einem grenzt sich das Format allerdings zu ähnlichen Anderen ab: Die Wahl von Themen, Titeln und Vorschaubildern ist auffällig sachlich. Ein Streben nach möglichst hoher Aufmerksamkeit scheint den Produktionsprozess nicht maßgeblich zu prägen. Dass das bei anderen Formaten anders sein muss, wird allein beim Blick auf die Titel einiger „STRG_F“-Videos der vergangenen Wochen deutlich: „Krimineller Welpenhandel: Wie läuft das Geschäft?“, „Exklusive Datenrecherche: Wie Pädosexuelle Bilder klauen“ und „Impf-Weltmeister in Gefahr: Mutationen aus Palästina?“. Geht es hier um Information und Aufklärung oder um möglichst hohe Klickraten?

Auch das Äußerliche des MDR-Formates sollte sich laut der Agentur „Keenly“, die für das Branding des Formats verantwortlich war, „im Design stark von ähnlichen Formaten abheben“. Die Agentur hat das Rad bestimmt nicht neu erfunden, aber die grellgelbe Farbgestaltung und das markante „exactly“-X sorgen für hohe Erkennbarkeit.

Kein Alleinstellungsmerkmal

Fragwürdig ist aus strategischer Perspektive dagegen die Entscheidung, die Videos auf dem Kanal „MDR Investigativ“ hochzuladen und für „exactly“ keinen eigenen einzurichten. Die Videos für junge Leute in knallgelb stehen da neben den Reportagen, die für das lineare Fernsehen und ganz andere Zielgruppen produziert wurden. Zu Beginn mag das „exactly“ etwas an Auftrieb geben, auf lange Sicht könnte es aber eine Entwicklung der Marke und klare Ansprache der Zielgruppe verhindern. Zudem scheint auf den ersten Blick auch die Zugkraft des Kanals mit immerhin 55.600 Abonnent:innen begrenzt zu sein. Bis auf den Feuerwehr-Film haben alle „exactly“-Videos nicht viel mehr als 10.000 Abrufe oder sogar deutlich weniger.

Mit „exactly“ versucht der MDR, im florierenden Markt der öffentlich-rechtlich produzierten Reportage-Magazine für junge Leute mitzumischen. Glücklicherweise hat das Format offenbar nicht vor, in einen Unterbietungswettbewerb zu gehen. Was passiert, wenn man sein Publikum nicht ernst nimmt, konnte man bei „bento“ vom „Spiegel“, „BYou“ von „Bild“ und „ze.tt“ von „Zeit Online“ ganz gut beobachten, die heute alle nicht mehr existieren.

Allerdings mangelt es „exactly“ bislang an einem Alleinstellungsmerkmal. Ein junges Investigativ-Format unter vielen zu machen, das als einziges vornehmlich von und mit jungen Leuten aus Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen produziert wird (was man aber kaum merkt), wird auf Dauer nicht reichen. Warum also nicht die junge ostdeutsche Perspektive in den Mittelpunkt rücken? Dass ein Interesse daran besteht, hat die jüngste Vergangenheit gezeigt, etwa der Überraschungserfolg auf Youtube „Jung, männlich, ostdeutsch – Wo der Westen weit weg ist“ oder die von Christian Bangel initiierten Erfahrungsberichte in „Baseballschlägerjahre“.

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