Massenanfall von Falschmeldungen (MANF)
Natürlich, für „Bild“ ist es nicht nur ein Mann, der da gestern in einem Kino in Viernheim von der Polizei erschossen wurde, nachdem er Geiseln genommen hatte – nein, es ist: der „Sprengstoff-Mann“. Weil – „nach ‚Bild‘-Informationen“ – neben der Leiche des Mannes „eine Handgranate und ein Sprengstoffgürtel“ gefunden wurden. So hatte es „Bild“ gestern gleich gemeldet. Und so haben sie es auch heute groß in die Zeitung gedruckt:
Das stimmt allerdings allenfalls zur Hälfte. Oder sogar gar nicht.
Für alle, die zwingend so einen boulevardesken Begriff brauchen, würde sich heute eher „Sprengstoffattrappen-Mann“ anbieten. Wie sich gestern schon andeutete, war nichts, was der Mann bei sich trug, besonders gefährlich. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt teilt heute mit, der Täter habe keine scharfen, sondern Schreckschusswaffen bei sich geführt. Die Stabhandgranaten waren nur Attrappen. Und von einem Sprengstoffgürtel ist gar keine Rede mehr.
Es ist – leider: wieder – einiges schief gelaufen, nachdem gestern Nachmittag publik wurde, ein Amokläufer oder Terrorist oder wer auch immer habe sich in einem Kino verschanzt. Schnell hieß es, als noch alles völlig unklar war, es habe bis zu 50 Verletzte gegeben. Weltweit wurde das so berichtet, dabei ist, jedenfalls körperlich und bis auf den Täter, niemand verletzt worden bei der Geiselnahme. Aber wie kam die Zahl dann überhaupt in Umlauf?
At least 20 people injured after man attacks cinema complex in German town of Viernheim https://t.co/7iBzsXZW4s pic.twitter.com/AT0IuTDVvA
— BBC Breaking News (@BBCBreaking) 23. Juni 2016
BREAKING: Armed man opens fire in German cinema complex, up to 50 hurt: media https://t.co/3p9wGqwTFV
— Reuters Top News (@Reuters) 23. Juni 2016
Bei der Polizei in Darmstadt, die für den Fall zuständig war, ist man auch überrascht: „Wenn Sie das herausfinden, würde uns das auch interessieren“, sagt eine Sprecherin. Die Polizei jedenfalls habe das nie behauptet.
Dann vielleicht die Zentrale Leitstelle Kreis Bergstraße, die Feuerwehr also, die in einem Artikel als Quelle genannt wird. Bei „Echo Online“ heißt es:
In einer Erstmeldung der Leitstelle Bergstraße hatte es geheißen, es sei mit 20 bis 50 Betroffenen zu rechnen.
In diesem Satz steckt auch schon das ganze Missverständnis, so nennt es auch Franz Knietig, der Leiter der Rettungsstelle. Es wurde nämlich lediglich mit Verletzten gerechnet. Niemand hat gesagt, es gebe sie bereits.
Die Zahl, erklärt Knietig, stamme aus einer automatisch generierten SMS, die zu jedem Feuerwehreinsatz an alle Journalisten verschickt werde, die im Verteiler stehen. Die Leitstelle schrieb dort von einem „MANV 25-50“, wie sie es immer formulieren. Klingt kryptisch, aber „normalerweise weiß jeder Journalist hier, was die Zahl bedeutet“, sagt der Chef der Leitstelle.
MANV steht für: „Massenanfall von Verletzten und Erkrankten“ und ist ein (interner) Begriff aus dem Rettungsdienst. Die Zahl dahinter steht für eine Anzahl von Verletzten, allerdings zeigt sie nur an, wie viele Verletzte es bei einem vorliegenden Notfall geben könnte, also: mutmaßlich.
Die MANV-Ziffer ist eine Annahme: „Das Einsatzstichwort besagt, dass wir uns auf so und so viele Verletzte einstellen, damit wird unsere taktischen Einheiten danach zusammenstellen können“, so Knietig. Viele Medien haben die Zahl aber so verkauft, als gäbe es tatsächlich bis zu 50 Verletzte.
+++ EIL +++ 20 bis 50 Verletzte in Viernheim, wo ein Bewaffneter im Kino um sich schießt. https://t.co/1k2oKprtNW pic.twitter.com/sR5sxtirIy
— BILD (@BILD) June 23, 2016
Die Zahl, die in der Rettungskette der Behörden wichtig ist, werde seit Jahren an Journalisten weitergegeben, damit sie einen Eindruck davon bekämen, wie groß der Einsatz werde, so Knietig. In der Regel klappt das offenbar und die Zahl wird nicht verkündet. Aber das hier war eine Ausnahmesituation. „Wahrscheinlich wurde sie fälschlicherweise so berichtet, weil es nicht so oft zu einem Einsatz in dieser Größenordnung kommt“, vermutet Knietig.
Für die Behörden ist das ein Dilemma. Einerseits, sagen sie, wollen sie so transparent wie möglich über ihre Arbeit berichten, andererseits nützen dann solche Falschinformationen natürlich niemandem. Das ist auch ein Grund dafür, dass Behörden manchmal zurückhaltend Auskunft geben, gerade wenn die Lage (noch) unübersichtlich ist. Wie in Viernheim.
Vielerorts war auch die Rede von einer Nachrichtensperre, die von der Polizei Darmstadt verhängt worden sei. Die sagt auf Anfrage, das stimme nicht. Niemand habe eine Nachrichtensperre verhängt, man habe lediglich zunächst selbst alles sortieren müssen. „Anfangs“, so eine Polizei-Sprecherin, „wussten wir ja selbst noch nicht viel“, was nachvollziehbar ist, Journalisten aber gerne als Schikane werten oder über „gestresste Pressesprecher“ schreiben.
Natürlich sind sie gestresst. Alle sind gestresst, wenn so etwas passiert: Behörden, Geiseln, auch Journalisten. Und in so einer Situation ist es dann nicht schlecht, sich auszukennen mit den Fachbegriffen, was die Journalisten vor Ort ja angeblich auch tun. Doch wenn es nur einer falsch schreibt, ist es schwer wieder einzufangen. Die Behörden in Viernheim wollen deshalb den aktuellen Fall auswerten. Knietig sagt: „Wir werden uns intern Gedanken machen, inwieweit wir unsere Praxis da anpassen bzw. optimieren können.“
sehr schöner Text.
Was ich ebenfalls schlimm finde – ich hatte das gestern leider auf hr3 Radio mitbekommen: Mit welch Leichtigkeit es mittlerweile pobligen Radio-Moderatoren über die Lippen geht: SEK hat Mann getötet.
Ich bin mir sicher, dass in dem Moment der SEK so handeln musste und dass sich heute einige von denen fragen: „Hätte ich erkennen können/müssen, dass der arme kranke junge Mann, nur Schreckschuss und Attrappen da hatte. Ich bin doch Profi.“
Mit den Beratern und Betreuern werden alle zur Erkenntniss kommen, dass sie schnell handeln mussten und sie daher keine Chance hatten, dies zu erkennen. Aber, das ist der SEK – das sind Profis.
Zurück zur Radio-Moderatorin: Da wurde in Südhessen ein Mensch erschossen. Tot. Klar, ist der selbst Schuld, weil er die Eskalation erzeugt hat. Aber ich kann mich daran erinnern, dass man früher trotzdem immer gefühlt hatte, dass es trotzdem traurig ist, dass es so fatal enden musste.
Aber heute bzw. gestern: Geiselnehmer im Kino, SEK hat Mann erschossen. Alle Geiseln wohlauf. Und nun das neue Lied von Justin Timberlake und danach erste Zeugenbericht, hier auf hr3
Ich wollte zu dem Artikel noch sagen, das ein MANV nicht nur bei vermutlichen sondern auch bei tatsächlichen verletzten zahlen ausgerufen wird. Somit kann es durchaus zu Irritationen kommen.
Heißt eigentlich Übermedien nur, über Medien zu schreiben, aber nicht mit ihnen zu reden oder gar bei ihnen zu recherchieren, Herr Rosenkranz? Sie werfen aus großer (zeitlicher und örtlicher, offenbar nicht sachlicher) Distanz Bild und Lokalmedien in einen Topf. Schade. Gerade bei dem Anspruch von Übermedien.
Disclaimer: Das schreibe ich hier als beinahe „Betroffener“. Mein Kollege hatte Dienst.
@3 Götz Münstermann: Sie sind sehr aufgebracht, ne? Was halten Sie davon, Ihre Kritik einfach etwas auszuführen? Statt gleich loszupoltern und auf Twitter zu verbreiten, wir hätten Ihren Kommentar „gelöscht“, weil man Übermedien nicht kritisieren dürfe, was doppelter Unsinn ist.
@ Boris Rosenkranz
Was ist los mit Ihen? Immer wenn man Sie zart kritisiert, werfen Sie dem Übonennten Aufgebrachtheit vor. Sie operieren mit Ironie, haben aber immer die stereotype Antwort. Ist Langweilig.
Man sollte in den Info-SMSen verschiedene Typen von Mitteilungen haben / versenden, die unterschiedlich heissen.
Eine für vermutete, eine andere für tatsächliche Opferzahlen.
„MANV steht für: „Massenanfall von Verletzten und Erkrankten“ und ist ein (interner) Begriff aus dem Rettungsdienst. Die Zahl dahinter steht für eine Anzahl von Verletzten, allerdings zeigt sie nur an, wie viele Verletzte es bei einem vorliegenden Notfall geben könnte, also: mutmaßlich.“
Wenn die Nachricht „Massenanfall von Verletzten und Erkrankten“ aussagt, und nicht explizit benannt wird, daß es eine Vermutung/Abschätzung ist, und man erst im Handbuch nachschlagen muß (das sicherlich kaum einer kennt, so es denn existiert), daß dies aber die Bedeutung der Meldung ist, braucht man sich nicht wundern, daß irgendwer das falsch versteht/interpretiert, wenn er’s wörtlich nimmt.
Das Problem wäre schon durch eine Nachricht vom Typ VMANV: „Vermuteter Massenanfall von Verletzten und Erkrankten“, die von einer MANV zu unterscheiden wäre, zu lösen.
Das würde die Wahrscheinlichkeit für Fehlinterpretationen zumindest drastisch senken.
In dem Falle müssen sich die SMS-Nachrichtenerfinder also mal an die eigene Nase fassen.
Ungenaue Ansage, ungenaue Replikation.
Kann ja wohl nicht so schwer sein, das mal zu korrigieren?!
@3 Auch nach dreimaligem lesen des Textes kann ich den Vorwurf, bild und lokalmedien in einen Topf zu werfen nicht nachvollziehen…
@5 Auch langweilig…
@3
Ich würde auch gern wissen, an welcher Stelle des Textes Sie Ihren Vorwurf festmachen.
Hm, ich arbeite auch bei ner Lokalzeitung, aber von der Bedeutung dieses MANV hab ich noch nie gehört – und auch noch nie das in den Sofort-SMS (von Polizei) gelesen, da kommt ein Satz mit Was, wann, wo. Danke für die Info, vllt braucht man’s ja mal…
@5 Frank Reichelt
Ganz ironiefrei: Ich werfe niemandem etwas vor, ich erkundige mich bloß. Hier zum Beispiel, weil jemand eilig auf Twitter verbreitete, man dürfe uns nicht kritisieren und wir hätten seinen Kommentar gelöscht. Stimmt nicht. Kommentare müssen manchmal freigeschaltet werden. Und das kann hier im Moment, gerade am Wochenende, schon mal etwas dauern. Außerdem soll hier ausdrücklich kritisiert und diskutiert werden.
Und Sie fragte ich neulich, ob Sie aufgebracht seien, als Sie mir, auch recht aufgebracht, empfahlen, bei „Bild“ zu arbeiten. Aber Sie haben recht: Ich frage demnächst anders. Ich überleg mir was. Versprochen. Vielleicht.
Hallo Herr Rosenkranz, ich habe mich nicht aufgeregt, sondern gewundert.
Sie haben mit dem Polizeipräsidium Darmstadt und der Rettungsleitsstelle im Kreis Bergstraße gesprochen und diese im Text zitiert. Ich kann in ihrem Beitrag nicht erkennen (und ich schaue auf Lokalmedien), dass sie mit Journalisten bei ihrer Recherche gesprochen haben. Sie zitieren Echo-Online aus Darmstadt (btw: für Viernheim so relevant wie die Frankfurter Rundschau für Wiesbaden). Sie beschreiben Journalisten, die sich von „gestressten Pressesprechern“ angeblich schikaniert fühlen würden und verlinken dazu als Beleg einen Artikel von rnz.de (mein Arbeitgeber), in dem im letzten Absatz steht: „Die Polizei habe den Mann im Kinokomplex lokalisieren können, dann sei es zu „einer Bedrohungssituation“ gekommen, heißt es im Jargon der gestressten Polizeisprecher gegenüber hartnäckig fragenden Journalisten.“
Ich kann in Ihrem Text nicht erkennen, dass Sie mit einem betroffenen Journalisten oder Medium, der vor Ort war oder das sie erwähnen, gesprochen haben. Wie reagieren Journalisten/Redaktionen, wenn eine solche SMS bei ihnen ankommt? Wie interpretieren sie diese? Wie unterschiedlich gehen lokale und überregionale Medien mit den Gerüchten und Falschmeldungen um?
Das meinte ich damit, dass sie alle in einen Topf werfen, pauschalisieren, nicht differenzieren. So vielschichtig wie die Medienlandschaft ist, so viele Menschen dort ihrem Beruf nachgehen, so vielschichtig sind auch die Reaktionen und lassen sich (erst Recht in diesem konkreten Fall) nicht mal hoppladihopp „besser kritisieren“. Nach meinem Kenntnisstand waren vor Ort Reporter von Mannheimer/SüdhessenMorgen (morgenweb.de), Weinheimer Nachrichten (wnoz.de), Rhein-Neckar-Fernsehen (rnf.de), SWR Mannheim, HR Südhessen, Rhein-Neckar-Zeitung (rnz.de), uvm.
Und ja: Auch ich, meine Kollegen in der Redaktion und Region machen nicht alles richtig und wir müssen für unsere Fehler gerade stehen. Ich sehe sie in ihrem Text nur gerade nicht belegt.
Viele Grüße und nichts für ungut, Götz Münstermann
PS: Ich wollte nicht „poltern“. Mein Kommentar stand lange auf „Wartet auf Freischaltung“, dann war er plötzlich weg und trotz Refresh und Browserwechsel einfach nicht auffindbar. Da kann man schon mal auf die Idee kommen, dass der Kommentar statt freigeschaltet gelöscht wurde. Schön, dass er dann online gegangen ist.
@11 Götz Münstermann: Vielen Dank, Herr Münstermann, dass Sie Ihre Kritik nochmal ausgeführt haben. Das hilft. Und Sie haben recht in dem Punkt, dass ich nochmal bei Lokalmedien hätte nachfragen sollen, wie so aus deren Sicht das Prozedere ist mit den Polizei-SMS und wie es konkret an diesem Tag war. Dass diese Zahl von etlichen Medien verbreitet wurde, obwohl sie nicht korrekt war, steht dabei aber ja außer Frage. Und in dieser Hinsicht waren, bei aller Unterschiedlichkeit, viele Medien sehr gleich in Ihrer Arbeitsweise. Sonst hätte sich die Zahl nicht so verbreitet.
Und was die „gestressten Pressesprecher“ angeht: In dem von Ihnen zitierten Satz ist von „hartnäckig fragenden Journalisten“ die Rede und eben von „gestressten Pressesprechern“ – da lese ich schon raus, dass die Journalisten in diesem Fall „hartnäckig“ alles richtig gemacht haben, die Behörden aber nur gestresst sind und Jargon reden. Das ist ja auch nicht ganz richtig. Und, wie geschrieben: Ja, alle sind gestresst. Normal.
Wenn jemand aus Ihrer Redaktion, der für Fall Viernheim unterwegs war, Lust hat, mir mal seine Sicht der Dinge zu schildern – sehr gerne! Soll sich bitte unter kontakt [at] uebermedien.de melden. Viele Grüße!
In solch einer unübersichtlichen Situation kann es zu Missverständnissen kommen. Daraus nun einen „MANF“-Vorwurf zu basteln, wird der Sache nicht gerecht.
Die Leitstelle der Feuerwehr wäre durchaus in der Lage, die Presse-SMS anders zu gestalten als – wie hier geschehen – ein internes Einsatz-Stichwort unverändert weiterzuleiten. Mal abgesehen von der Frage, ob die Feuerwehr in einem solchem Fall nicht lieber der Polizei den Presseruf überlassen sollte.
Dass in den ersten Minuten eines solchen Geschehens journalistische Sorgfalt oft hinter Schnelligkeit zurücktritt, ist inzwischen Alltag. Das macht es nicht besser, gewiss. Einerseits wollen wir als Leser Genauigkeit, anderseits Tempo. Auch das ist keine Entschuldigung, gehört aber zum Thema hinzu.
Wer nun aber Sorgfalt anmahnt, selbst jedoch einen ganzen Tag lang Zeit hat zum Verfassen seiner Medienkritik und es dann nicht schafft, diejenigen zu befragen, die er aufs Korn nimmt, sollte sich vielleicht etwas weniger aus dem Fenster lehnen.