Wie „Welt“ und AfD einander die Bälle zuspielen
Wer sich darüber informieren will, was für Leute in Deutschland wegen Straftaten verurteilt werden – wie viele, welchen Alters, und, natürlich, welcher Nationalität – muss nicht lange suchen. Das Statistische Bundesamt hält eine Statistik vor, die praktischerweise Strafverfolgungsstatistik heißt, und stellt all diese Informationen online für jeden abrufbar zur Verfügung.
Wenn man aber Bundestagsabgeordneter, sagen wir, der AfD ist, bietet sich ein anderer Weg an: Anstatt sich die Zahlen schnell selbst rauszusuchen, lässt man es die Bundesregierung für einen machen. Man stellt eine entsprechende Kleine Anfrage im Bundestag. Der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesjustizministerin lässt dann jemanden die gewünschten Zahlen aus der Strafverfolgungsstatistik heraussuchen. Er schickt sie dem AfD-Bundestagsabgeordneten. Der leitet sie, mit ein paar Interpretationshilfen, an die „Welt“ weiter. Die veröffentlicht sie, ganz im Sinne der AfD, als handele es sich um exklusive Informationen oder Neuigkeiten. Und die AfD und ihre Anhänger danken es dem Blatt mit Zustimmung und Klicks.
Steiler Anstieg
Am Mittwoch veröffentlichte die „Welt“ einen Artikel, der in seiner Überschrift von einer dramatischen Entwicklung kündet:
51 Prozent!
Das ist an sich schon eine merkwürdige Schlagzeile, denn die Angabe ist sinnlos ohne den Zeitraum, auf den sie sich bezieht. Im Text stellt sich heraus, dass es um den Zeitraum zwischen 2010 und 2019 geht.
Nun sind irgendwelche neun Jahre eine im journalistischen Alltag gar nicht so geläufige Bezugsgröße. Aber das ist nun mal der konkrete Zeitraum, den der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer bei der Bundesregierung erfragt hatte, und darauf beruht ja der „Welt“-Artikel.
Wobei – genau genommen hatte Springer nach mehr Zahlen gefragt. Er wollte wissen, wie sich
die Zahl der in Deutschland verurteilten Personen in den Jahren 2000, 2005, 2010, 2015 und 2019 entwickelt [hat] (bitte insgesamt sowie getrennt nach Deutschen und Ausländern unter Angabe des relativen Anteils der Ausländer an allen Verurteilten ausweisen) (…).
Der AfD-Abgeordnete hat uns auf Anfrage die Antworten zugeschickt. In seinem PDF mit dem Dateinamen „EXKLUSIV_Antwort der Bundesregierung_Strafverfolgungsstatistik_Ausländerkriminalität.pdf“ hat er netterweise gleich einige aus seiner Sicht besonders bemerkenswerte Zahlen markiert und Bemerkungen hinzugefügt:
Der von ihm hervorgehobene Vergleich von 2019 mit 2010 ist der, der für den größten prozentualen Zuwachs an Verurteilungen von Ausländern sorgt. Verglichen zum Beispiel mit dem Jahr 2000 hätte der Zuwachs „nur“ gut 40 Prozent betragen.
Die „Welt“ bezog sich in ihrem Artikel ebenfalls ausschließlich auf den besonders spektakulären Neun-Jahres-Vergleich.
Immerhin fügte „Welt“-Redakteur Marcel Leubecher eine Erklärung für die Entwicklung hinzu:
Der starke Anstieg der Verurteilungen von Ausländern erklärt sich vor allem durch die in dem Zeitraum 2010 bis 2019 laut Statistischem Bundesamt von 7,2 auf 10,1 Millionen gewachsene ausländische Bevölkerung (plus 40 Prozent). Auch sind in diesen Angaben Verurteilungen wegen Straftaten gegen das Aufenthaltsgesetz enthalten, die fast nur Ausländer begehen können.
Je nachdem, welche Statistik man benutzt, ist der Zuwachs der ausländischen Bevölkerung in Deutschland in diesem Zeitraum noch größer. Es gibt zum einen die Ausländerstatistik. Nach der stieg die Zahl zwischen 2010 und 2019 sogar von 6,75 auf 11,22 Millionen (plus 66 Prozent). Und zum anderen die Bevölkerungsfortschreibung, auf die sich Marcel Leubecher offenbar beruft. Die hat ausgerechnet nach dem Jahr 2010 einen Knick nach unten – mit dem Zensus 2011 wurde die Zahl der ausländischen Bevölkerung deutlich nach unten korrigiert. Das lässt den Zuwachs über neun Jahre kleiner erscheinen.
Betrachtet man einen längeren Zeitraum, ergibt sich folgendes Bild:
Zugespitzt gesagt: Nichts deutet darauf hin, dass Ausländer in Deutschland krimineller sind als früher. Es gibt nur viel mehr Ausländer in Deutschland als früher.
Nun kann man natürlich – gerade als AfD-Politiker oder -Anhänger – genau das für das eigentliche Problem halten. Und kann auch – nicht nur als AfD-Politiker oder -Anhänger – die seit Jahren verhältnismäßig hohe Kriminalitätsrate unter Ausländern für ein Problem halten. (Ein direkter Vergleich der Kriminalitätsraten von Deutschen und Ausländern ist aus diversen Gründen schwierig.)
Aber es gibt keine Explosion der Kriminalität in Deutschland, nicht insgesamt, und nicht unter Ausländern. Genau das, was die Schlagzeile der „Welt“ mit ihrer plakativen Zahl suggeriert – und von vielen über die sozialen Medien weiterverbreitet wurde –, gibt es nicht.
„Schreiben, was ist“
Auf Fragen an den „Welt“-Redakteur antwortet „Welt“-Pressesprecher Christian Senft, man habe sich auf den Neun-Jahres-Zeitraum konzentriert, weil das „wegen der zeitlichen Nähe und der starken Zuwanderung in diesem Zeitraum relevanter ist als die Information über diese Entwicklungen in früheren Jahrzehnten“.
Gefragt haben wir auch, warum eine AfD-Anfrage, die nur bereits veröffentlichte Zahlen noch einmal abfragt, für die „Welt“ einen Nachrichtenwert hat. Die Antwort:
„Die AfD hat angefragt, die Bundesregierung hat geantwortet. Schreiben, was ist – das ist das Prinzip. Wichtiger noch: Die Anfrage hat nicht ’nichts Neues‘ gebracht. Im Gegenteil – sie hat eine Antwort der Bundesregierung hervorgebracht, die von öffentlichem Interesse ist. Die Regierung stellt darin eine bemerkenswerte Entwicklung dar; diese hat Nachrichtenwert über die Rohdaten, die in Datenbanken auffindbar sind, hinaus. Im zurückliegenden Jahrzehnt gab es drei signifikante Bewegungen in der Statistik: deutlich weniger Verurteilungen insgesamt, deutlich weniger Verurteilungen von Deutschen, deutlich mehr Verurteilungen von Ausländern.“
Er bekräftigt damit also den einfachen Weg der AfD-Themen auf die Nachrichtenseiten der „Welt“: Durch den Umweg über eine Kleine Anfrage werden öffentlich zugängliche Informationen, auf die man sonst zum Beispiel mit einer schnöden Pressemitteilung hinweisen müsste, zu einer brisanten „Antwort der Bundesregierung“.
Und die „Welt“ übernimmt das Framing der AfD und lässt auch – und ausschließlich – deren Bundestagsabgeordneten zu Wort kommen:
„Der AfD-Politiker Springer fordert Reaktionen der Bundesregierung auf den ‚starken Anstieg der Verurteilungen von ausländischen Straftätern‘. Wer die ‚Gastfreundschaft‘ missbrauche und Straftaten begehe, müsse ‚sein Aufenthaltsrecht verlieren und abgeschoben werden‘.“
Auf dieser Basis diskutiert die „Welt“ dann noch ausführlich die Probleme bei der Ausweisung und Abschiebung von kriminellen Ausländern.
2010, 2011, 2012, 2013, 2014,
2015, 2016, 2017, 2018, 2019.
Sind das neun oder zehn Jahre?
Und welcher Zeitraum ergibt sich daraus?
Ja sicher. Jede vernünftige Darstellung sollte Zeitraum, Grundwert, Prozentwert und Prozentsatz beinhalten. Nur ist gerade dies beim Haltungsjournalismus unüblich, wofür die allerdings selten getadelt, in der Regel mit Journalisten- und Couragepreisen überhäuft werden.
Besonders im Corona-Theater hat die Regie gern dieses gestalterische Mittel eingesetzt. Da ist schon mal die Zahl der COVID-Patienten in der Intensivstation 400% angestiegen. Huch.
Dass es ein Anstieg von 1 auf 4 war, mit dieser Information muss man ja die Leser nicht belasten
Aber wenn es um die gute Sache geht …
Im Übrigen ist die Ausländerkriminalität leider kein randständiges Problem, wie der Artikel hier insinuiert.
In der von der Website des BKA downloadbaren Publikation
Kriminalität im Kontext von Zuwanderung – Bundeslagebild 2019
Kann man lesen:
Fallkonstellation: Zuwanderer tatverdächtig – Opfer deutsch:
Was ich oben noch vergessen habe (weil ich das bestimmt schon viele Male irgendwohin geschrieben habe): Ein Vergleich der Kriminalitätsraten von Ausländern und Deutschen ist aus vielerlei Gründen schwierig. Schon deshalb, weil natürlich auch Ausländer in die Statistik eingehen, die gar nicht in Deutschland leben: Touristen, Pendler, durchreisende Diebesbanden. Deshalb ist ein direkter Vergleich des Anteils von Ausländern in der Statistik mit ihrem Anteil an der in Deutschland lebenden Bevölkerung irreführend.
Und, um der Einfachheit halber mal die Bundesregierung zu zitieren:
„…Der AfD-Politiker Springer…“
Damit ist es auf den Punkt gebracht.
@Stefan
Zweiter Absatz, nach dem Doppelpunkt:
Das „lassen“ kann da weg gelassen werden. ;-)
51 Prozent? Am Arsch die Räuber! Die AfD und ihr Leib- und-Magen-Blatt haben nicht nur die harmlosen Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz zu den Schwerverbrechen gezählt. Die drölfzig Millionen Fälle von Beförderungserschleichung haben sie ebenfalls dazugepackt.
Dabei kann kein Mensch hier in Deutschland das richtige Öffi-Ticket ziehen. Weder ein deutscher Akademiker noch eine syrische Flüchtige. Allein für die 15 Kilometer von Millrath nach Flingern gibt es 17 Möglichkeiten zwischen 2,30 € und 34,40 €.
Aber von diesem Staatsversagen liest man natürlich nichts in der rechtsgesteuerten Kampfpresse. Ich prangere das an!
AfD-Mann Springer pfeift, die welt schreibt.
Heißt ja auch nicht umsonst „Springer-Presse“…
Finde ich recht interessant zum Thema Kleine Anfragen:
https://www.deutschlandfunk.de/die-kleine-anfrage-im-bundestag-neugierige-abgeordnete.724.de.html?dram:article_id=477073
#2, Jörn
„Die Bilanz im Jahr 2019: 27 : 1. Vielleicht doch ein Grund, sich Sorgen zu machen?“
Ernsthaft? Der Grund zur Sorge ist nicht die (rückläufige) absolute Zahl 27, sondern die Bilanz? Ihre Sorge ist, dass es im Verhältnis zu deutschen Opfern zu wenige ausländische Opfer gibt? Ich geh‘ dann mal kotzen…
Das ist oft so. Am Anfang sieht die Aufgabe einfach aus. Wenn man die dann anpackt, kommen immer mehr Stolperdrähte zum Vorschein.
Für uns an der Seitenlinie ist das ein Problem. Aber warum ist das eins für die Besitzer der Daten?
Die Daten liegen ja vor. Wenn der Tatverdächtige ermittelt ist, wird mit den Personalien der Wohnsitz festgestellt. Der ist in Deutschland oder im Ausland. Steht in den Akten. Kann doch nicht so schwierig sein, dieses Datum in die Excel-Tabelle (oder was die dort haben) einzutragen.
Ebenso irritierend ist der Hinweis der Bundesregierung auf das männliche Geschlecht. In den letzten Jahren war man mindestens Frauenfeind, wenn nicht gar Nazi, wenn man sich im Diskurs auf Unterschiede zwischen Männern und Frauen kaprizierte. Und jetzt, wach ich oder träum ich? wird dieser Unterschied als regierungsamtliche Erklärung gemeldet.
Verwirrend.
Verwirrend auch die Aussage der Bundesregierung, die
Dem will ich gar nicht widersprechen. Nur darauf hinweisen, dass das so klar nicht ist.
Bei den Neugeborenen ist des Verhältnis m:w ziemlich genau 1:1, egal ob bei Deutschen oder Ausländern.
Und was die Neuankömmlinge betrifft, da wurde uns vor 6 Jahren im Fernsehen die Ankunft Familien der syrischen Fachkräfte gezeigt, deren telegester Teil die süßen kleinen Mädchen mit den großen dunklen Kulleraugen waren.
Das passt alles nicht zusammen. Auch in dieser Hinsicht:
Das wurde uns schon mal ganz anders verklickert.
Der SPIEGEL, 07.09.2016, Flüchtlinge in Deutschland sind oft überqualifiziert meldete
Und via UNHCR wurde uns über die Qualifizierung der Flüchtlinge gesagt:
86% mit Abitur, die Hälfte mit Hochschulabschluss. Sieht nicht aus wie „untere Bildungsschichten“.
Egal wo man hinfasst, überall wird es offiziell und semioffiziell gedreht, wie die es gerade brauchen.
Das ist kein reiner Wein, den die uns einschenken. Jeden einzelnen Fall kann man mit den üblichen menschlichen Schwächen erklären, aber nicht die Menge.
Offenbar geht es nicht um die Verbreitung der Wahrheit sondern des gewünschten Narrativs. Eines Narrativs, was einige so fest als Glaubenswahrheit verinnerlicht haben, dass die in der Konfrontation mit der Realität in existenzielle Not geraten, wie der verbale Veitstanz von Wildtyp und Michael Frey-Dodillet demonstriert.
Das alles macht den WELT-Artikel nicht zur journalistischen Glanzleistung. Im Umfeld der allgemeinen Kakophonie liegt er mitten in der Mitte.
Wer sich fürs Kriminalitätsgeschehen interessiert, die polizeiliche Kriminalstatistik findet man hier:
https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/pks_node.html
Und fürs Protokoll:
Die 27:1 beziehen sich nicht auf Beförderungserschleichung, sondern Tötungsverbrechen.
@2
Sachma, was ist denn falsch mit dir? Du zeigst hier auf, dass gefährliche Straftaten von Ausländern in 2018 -> 2019 stark zurück gegangen sind, und dafür wesentlich mehr Ausländer Opfer eines solchen Tatversuchs wurden.
Und dann willst du die absoluten Todeszahlen benutzen um doch noch irgendwie Furcht zu verbreiten? Das ist einfach nur widerlich.
Und, um mal wieder eine klassische Perspektive dahinter zu setzen: 2019 sind 3059 Menschen bei Unfällen im Straßenverkehr umgekommen. Aber ja, um die Ausländer, um DIE würde ich mir echt Sorgen machen.
Die Welt macht solche Artikel in der Rubrik ‚Kriminalität‘ immer wieder gut mit Meinungsstücken u.a. von Alan Posener:
„Migration hat Deutschland weltoffener und moderner gemacht“
und natürlich auch durch Fake-News gegen AfD-Politiker, wie sie bei Übermedien auch schon berichtet wurden: „Hexen verbrennen fürs Klima? Journalisten entstellen AfD-Rede“. Da war die Welt prominent mit dabei.
Es ist eine Verschwörungstheorie, dass durch Verdrehungen in beide Richtungen nichts kompensiert, sondern stabil für maximale Polarisierung der Öffentlichkeit gesorgt wird.
@10, Jörn: „überall wird es gedreht, […] wie die es gern brauchen.“ Außer von Ihnen natürlich. Sie sind der einzig Rechtschaffende, der sich traut, den Menschen zu sagen, was ist: Der Ausländer ist böse und will euch umbringen! Vermutlich wird die linksgrüne Meute Sie dafür canceln. Oder gendern. Oder beides.
Bei der ganzen mühseligen Diskussion fehlt leider eine wesentliche Einordnung: straffällige Ausländer haben nicht deshalb kriminelle Taten vollbracht, weil sie Nicht-Deutsch sind. Das hieße ansonsten ja auch, dass mehr Deutsche in anderen Ländern statistisch straffällig werden als hierzulande.
„Auch, ich bin ja nicht von hier, da muss ich jetzt mal was Dummes anstellen.“
Oder anders gesagt, wenn angenommenerwweise mehr Ausländer als Deutsche klauen, tun sie das sicher aus anderen Gründen. Etwa Benachteiligung, Neid, ungünstiges Umfeld etc. Alles Dinge, die durchaus durch eine Andersartigkeit und der daraus folgenden Benachteiligung begünstigt werden, aber nicht ursächlich in der Andersartigkeit zu finden sind. Letztlich sind es alles Individuen, die eigenständig Entscheidungen treffen und nicht von einem ominösen Ausländersein quasi zu gewissen Taten gezwungen werden.
Letztlich können Statistiken überhaupt nichts über Individuen aussagen, sondern lediglich über Strukturen und Systeme. Wenn alle kumulierten Ausländer also tatsächlich statistisch signifikant zu mehr Straftaten neigen, ist das ein Indiz dafür, dass sie vermehrt in anderen Strukturen leben. Ich behaupte mal, würden Deutsche in denselben Strukturen leben, würde es da ähnlich aussehen.