Entgleisung in der Kommentarspalte

„Welt“-Redakteur bedauert „extrem zugespitzte Formulierung“ über Drosten

Ulf Poschardt, Chefredakteur und Geschäftsführer der „Welt“, kennt einen Ort, an dem gute, kontroverse Debatten geführt werden können, ohne dass sie im Hass untergehen wie oft auf Twitter: die Kommentarspalte der „Welt“. Seit einiger Zeit können hier nur noch Abonnenten kommentieren. Und Poschardt meint:

Das wird automatisch einen kultivierenden Effekt auf der Seite haben. Mehr Argumente, weniger Zorn.

Offenbar stellt sich dieser Effekt nicht auf Anhieb ein. In der vergangenen Woche erschien in der „Welt“-Kommentarspalte ein Beitrag, der dem Leiter des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, Christian Drosten, vorwarf, „wahrscheinlich Hunderttausende Menschenleben auf dem Gewissen“ zu haben.

Doch der Autor dieses Kommentars war nicht irgendein Leser der „Welt“, sondern ein Mitarbeiter: Sven Felix Kellerhoff, leitender Redakteur für Zeit- und Kunstgeschichte.

Er antwortete unter einem eigenen Artikel einem Leser, der gefragt hatte:

Christian Drosten nicht seriös? Wer denn dann? Streeck??

Kellerhoff erwiderte:

Die frage meinen Sie nicht ernst, oder? Kein klar denkender Mensch kann den Panikmacher Drosten für seriös halten.

Er mag ein guter Laborvirologe sein, das kann ich nicht beurteilen. Als Ratgeber in epidemiologischen Fragen hat er nicht nur komplett versagt, er hat die Welt mit seinem unsinnigen Test in eine Katastrophe gejagt und wahrscheinlich Hunderttausende Menschenleben auf dem Gewissen. Natürlich nicht in einem strafrechtlichen Sinne, wohl aber in einem realistischen Sinne. Vom Größenwahn (Spiegel-Interview!) rede ich noch nicht einmal.

Ohne Drosten gäbe es die coronahysterie gar nicht. Sondern nur – was zweifellos zutrifft – eine mittelschwere Grippepandemie, die nahezu ausschließlich Menschen 75plus gefährdet. Also ein Problem, das von ernsthaften Menschen angegangen werden sollte.

Kommentar von Sven Felix Kellerhoff: "Die frage meinen Sie nicht ernst, oder? Kein klar denkender Mensch kann den Panikmacher Drosten für seriös halten. Er mag ein guter Laborvirologe sein, das kann ich nicht beurteilen. Als Ratgeber in epidemiologischen Fragen hat er nicht nur komplett versagt, er hat die Welt mit seinem unsinnigen Test in eine Katastrophe gejagt und wahrscheinlich Hunderttausende Menschenleben auf dem Gewissen."
Screenshot via @michaOOO1

Der Kommentar ist inzwischen gelöscht; offenbar geschah das noch am selben Tag. Auf unsere Anfrage teilte uns Kellerhoff mit:

Ich habe diesen Kommentar in dem Drive, in den die sozialen Medien einen manchmal versetzen, verfasst und gleich ein schlechtes Gefühl dabei gehabt. Nach Rücksprache mit Oliver Michalsky [Chefredakteur Welt Digital] wurde dieser Kommentar rasch wieder gelöscht. Die extrem zugespitzte Formulierung war ein Fehler, den ich bedauere. Ich erhalte auch ausdrücklich den in diesem Kommentar formulierten, eben extrem zugespitzten Gedanken „hunderttausende Menschenleben auf dem Gewissen“ nicht aufrecht. Ich habe mich in der Diskussion mitreißen lassen, was man besser nie tun sollte.

Mitreißen ließ sich Kellerhoff wohl von dem Zuspruch, den er von vielen Mitkommentierenden zu den radikalen Thesen bekam, die er hier in der Kommentarspalte an vielen verschiedenen Stellen ausbreitete.

Weiterverbreiten, was man lieber nicht weiterverbreitet

Dabei ist sich Kellerhoff bewusst, dass man vorsichtig sein muss, einfach ungeprüft irgendwelche Geschichten zu erzählen, weil Fakenews-Produzenten unterwegs sind, die möglicherweise solche Behauptungen erfinden. Entsprechend kommentiert er an einer Stelle:

Ich kenne eine Geschichte, laut der in Italien drei Opfer eines schweren Verkehrsunfalls als Corona-Tote gezählt worden seien, weil sie post mortem positiv getestet worden sein. Allerdings muss man bei so etwas vorsichtig sein, denn es sind FakeNews-Produzenten unterwegs, die möglicherweise solche Behauptungen erfinden. Man sollte derlei also entweder gar nicht oder nur dann weiterverbreiten, wenn es geprüft ist.

Oder eben, dritte Möglichkeit, in den Kommentarspalten der „Welt“ mit ihrem kultivierenden Effekt.

Twitter lehnt Kellerhoff übrigens ab, „aus guten Gründen“, wie er schreibt. Es sei das „überflüssigste Medium aller Zeiten, das sofort ersatzlos abgeschaltet werden sollte.“

Stattdessen nutzt er die „Welt“-Kommentarspalte, um falsche oder irreführende Behauptungen rund ums Corona-Virus zu verbreiten. So schreibt er,

viele, wenn nicht die meisten der „an oder mit Corona“ Gestorbenen werden schlicht „mit“ Corona, genauer: mit einem positiven Drosten-Test, der nun einmal prinzipiell wenig aussagt […] gestorben sein, genau wie viele von ihnen „mit“ einer Brille gestorben sind.

Das Gegenteil ist wohl richtig: Pathologen in Kiel haben festgestellt, dass mindestens 85 Prozent der von ihnen obduzierten Menschen, die sich vor ihrem Tod mit Corona infiziert hatten, an Covid-19 verstorben sind. Eine Stichprobe in Regensburg kam zu einem ähnlichen Ergebnis.

Völliger Unfug, nichtssagend, untauglich

Kellerhoff behauptet, der Inzidenzwert sei „völliger Unfug“,

denn selbst ein Inzidenzwert von 1000 pro 100.000 bedeutet, dass gerade einmal ein Prozent (ein PROZENT!!!) der Bevölkerung positiv getestet ist

Da sich der Inzidenzwert auf Neuinfektionen innerhalb einer Woche bezieht, wären allerdings nach zehn Wochen schon zehn Prozent der Bevölkerung infiziert gewesen.

Kellerhoff behauptet:

90 bis 95 Prozent der positiv Getesteten bekommen aber nichts, was über einen Schnupfen oder einen grippalen Infekt hinausgeht (und im Winterhalbjahr völlig normal ist).

Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass die meisten mit SARS-CoV-2-Infizierten Symptome entwickeln. Von denen werden laut WHO ungefähr 15 Prozent ernsthaft krank, fünf Prozent schwerst krank.

Kellerhoff behauptet:

Es gibt auch keinen Nachweis dafür, dass ein symptomloser posiotiov Drosten-getetsteter Mensch ansteckend wäre, das ist lediglich eine Behauptung.

Verschiedene Studien zeigen, dass Infizierte ohne Symptome zwar deutlich weniger infektiös, aber ebenfalls ansteckend sind.

Kellerhoff behauptet:

Der Inzidenzwert ist nach der Verdopplungsrate (in Tagen) und dem R-Wert schon mindestens der dritte unsinnige, weil nichtssagende Maßstab, den sich das RKI hat einfallen lassen. Das einzige belastbare Kriterium ist hingegen die reale Übersterblichkeit – und die hat es 2020 in Deutschland nicht oder zumindest nicht in einem statistisch signifikanten Maße gegeben.

Selbst wenn man etablierte Messwerte für die Geschwindigkeit, mit der sich ein Virus ausbreitet, für „nichtssagend“ hält: Mit der realen Übersterblichkeit ließen sich Maßnahmen zur Eindämmung eines akuten Infektionsgeschehens nicht steuern: Die Menschen sterben erst Wochen nach einer Infektion. Reaktionen auf bedrohlich zunehmende Zahlen kämen dann viel zu spät.

Kellerhoff behauptet auch, der PCR-Test, den er „Drosten-Test“ nennt, sei „eigentlich untauglich“, weil er „bei 90 Prozent der positiv getesteten Menschen unzutreffende Ergebnis bringt“. Es würde den Rahmen hier sprengen, alle abseitigen Behauptungen, die Kellerhoff nur in einer einzigen Kommentardiskussion verbreitet, einem Faktencheck zu unterziehen.

Kriegsbegeisterung wie 1914

Der „Welt“-Mann konstatiert im Lauf der Debatte „ein komplettes Politikversagen“ ergänzt um „ein nahezu komplettes Versagen der Medien“.

Der Geschichts-Redakteur sieht eine Parallele zwischen dem „Krieg“ gegen das Virus heute und der nationalistischen Kriegseuphorie in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg. Ein Kommentator schreibt, dass es 1914 „in erster Linie die bürgerlichen, städtischen Mittelschichten“ gewesen seien, die in Kriegsbegeisterung verfallen seien. Heute sei das wohl ähnlich: „Begeistert von Lockdown und Co.“ seien nicht zuletzt Beamte. Kellerhoff stimmt zu:

Ich fürchte, mit der Parallele, gerade was Beamte angeht (inkl. der Damen und Herren Professoren, die an den Leopoldina-Stellungnahmen beteiligt waren), haben Sie leider sehr recht. Dito mit 1914.

Das alles gehört zu dem ganz besonderen „Drive“ in der „Welt“-Kommentarspalte, dem Kellerhoff so lange Schwung gab, bis er sich dazu hinreißen ließ, Christian Drosten vorübergehend für Hunderttausende Tote verantwortlich zu machen.

Kellerhoff meint, es gebe eine „Hysterie, die nahezu alles niederwalzt, was anderer Ansicht ist. Ich weiß das aus verschieben Redaktionen andere medienhäuser. Beim liberalen Axel Springer Verlag gibt es derlei nicht.“

13 Kommentare

  1. Letzter Absatz: „Ich weiß das aus verschieben Redaktionen andere medienhäuser.“ Ist das sic! oder kann das weg?

  2. »Das wird automatisch einen kultivierenden Effekt auf der Seite haben. Mehr Argumente, weniger Zorn.«

    Das genaue Gegenteil ist der Fall. Mit der Monetarisierung des Kommentarbereichs der WELT fiel sein einziges Korrektiv weg: linke Spatzen wie ich, die für Springerpresse keinen Cent ausgeben.

    Seither ist dort die faszinierende Melange aus Deutschtümlern, Ausländerhassern, Coronaleugnern, Trump-Klatschern, AfD-Anbetern und Z-Saucen-Verteidigern* ungestört unter sich. Die produzieren bei allen rechten Narrativen Begeisterungswellen, von denen sich nicht nur ein Kellerhoff mittragen lässt.

    *Ich habe bewusst nicht gegendert. Frauen sind unter dieser Laberglocke nicht existent.

  3. Ich kenne türkischstämmige Kabarettistinnen die für einen einzigen Satz in einem Clubhouse Talk anschließend von der Welt vernichtet wurden…

  4. P.S.: Die Welt ist nicht mehr „die BILD Zeitung für Vermieter“, sondern „Die BILD Zeitung mit Kommentarfunktion“.

  5. Was ich mich frage: Wenn Corona so harmlos ist, wie Kellerhoff meint – wie soll Drosten dann „Hunderttausende Menschenleben auf dem Gewissen“ haben? Testvergiftung?

  6. Ich kenne eine Geschichte, laut der Sven Felix Kellerhoff, leitender Hobbyepidemiologe der „Welt“, tatsächlich nur ein Pseudonym von Attila Xavier Jebsen (nach anderen Quellen von Sucharit Wodarg) ist. Allerdings muss man bei so etwas vorsichtig sein, denn es sind FakeNews-Produzenten unterwegs, die möglicherweise solche Behauptungen erfinden. Man sollte derlei also entweder gar nicht oder nur dann weiterverbreiten, wenn es geprüft ist.

    Zuverlässiger ist hingegen, was der geschätzte MFD in #2 schreibt. Die Zivilisierung der Kommentarspalte durch Beschränkung auf Abonnenten funktioniert dann nicht, wenn sich die schlimmsten Kulturverächter gerade unter den Abonnenten oder gar den Mitarbeitern finden. Nunja, wie das Produkt, so die Kundschaft. Über diese informieren nur wirklich seriöse Presseorgane sachgerecht: https://www.der-postillon.com/2012/09/welt-online-in-wahrheit-trick-um-rechte.html

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