Eine Stimme. Ein Erzähler. Eine Anekdote aus der Vergangenheit, nur wenige Minuten kurz: „The Memory Palace“ ist ein absolut minimalistischer Geschichtspodcast, der selbst wie aus der Zeit gefallen wirkt. Trotzdem passt er perfekt in das Podcast-Jahr 2020, weil er wie ein Gegenentwurf zur aktuellen Medienmode wirkt: Dieser Podcast erscheint viel zu selten, ist viel zu kurz und verliert kein einziges unbedachtes Wort.
Wäre „The Memory Palace“ ein reales Gebäude, dann wäre der Podcast im Bauhaus-Stil erbaut. Schnörkellos und von zeitloser Schönheit. Es ist ein Podcast, der die überraschenden und eher unbekannten Momente der Geschichte feiert. Es ist kein pädagogischer Geschichtspodcast, der besonders bedeutsames Lehrbuchwissen und nüchterne Jahreszahlen in die Menschen prügeln will. Es ist ein Podcast mit viel Liebe für die Menschen, Schicksale, Momente, Kuriositäten der Vergangenheit. Seine Episoden sind nur vier oder sechs, manchmal acht Minuten lang; aber sie strotzen nur so vor schönen Details.
Die Kolumne
Podcasts haben es längst verdient, genauso ernsthaft wie andere Medien besprochen, gelobt und kritisiert zu werden. Alle zwei Wochen machen Marcus Engert und Sandro Schroeder das abwechselnd für uns – in der „Podcast-Kritik“.
Sandro Schroeder ist durch Podcasts überhaupt erst schleichend zum Fan des Mediums Audio geworden. Er berichtet seit 2016 regelmäßig über Podcasts und schreibt seit Mitte 2017 den Podcast-Newsletter Hören/Sagen. Nach seinem Journalistik-Studium in Bremen arbeitete er als freier Journalist in Leipzig, unter anderem für das Onlineradio detektor.fm. Seit 2018 ist er bei Deutschlandradio in der Abteilung Multimedia schwerpunktmäßig für Podcasts und Audio-Drittplattformen zuständig.
Jede Episode eine Achterbahnfahrt
Über 150 Episoden und zehn Jahre hat sich dieser Podcast nicht grundlegend verändert; von den ersten Episoden 2008 bis heute trägt alles unverwechselbar die Handschrift des Podcast-Architekten: Nate DiMeo. Für mich ist er nicht nur stimmlich eine Art Roman Mars, bloß für Geschichtspodcasts. Kein Wunder also, dass „The Memory Palace“ mittlerweile auch zum US-amerikanischen Indie-Podcast-Label Radiotopia gehört, das auf einzigartige AutorInnen-Produktionen jenseits der etablierten Genres und Formate setzt.
Jede Episode hat ihren eigenen Rhythmus und ihre eigene Stimmung. Eine der Konstanten ist aber der kunstvolle Umgang mit Gegensätzen und Wendungen. Es gibt kein festes Muster, keine etablierte Struktur. Jede Episode ist eine emotionale Achterbahnfahrt, mit offensichtlichen wie überraschenden Plot-Twists. Immer ausgehend von einem winzigen, zunächst scheinbar unbedeutenden Ausschnitt aus der Vergangenheit.
So erzählt Episode 16 „Secret Kitty“ die Anekdote, wie der US-Auslandsgeheimdienst CIA in den 1960er Jahren Katzen als Spione einsetzen wollte. Absurd. (Ja, das ist sogar dokumentiert.) Und mit den Tieren wurde experimentiert. Uff. Eine Katze wurde dafür mit chirurgischer Grausamkeit erfolgreich in einem Cyborg verwandelt, bekam Drähte, Elektroden und ein Mikrofon implantiert. Wirklich?! In einem ersten Test sollte die „Acoustic Kitty“ den Eingang einer sowjetische Botschaft abhören. Ernsthaft?!
Über dreieinhalb Minuten schafft die Episode so einen Spannungsbogen – gespannt über reale Fakten und angedeutete Szenen – und endet dann so:
„On a weekday afternoon in 1966, several CIA agents and one cat climbed into a van. […] When they were sure that everything was working, that all systems would go, one of the agents cracked open the door and sat Peanut down on the sidewalk. And as he closed the door and put on his own headphones, he must’ve been excited. After years of watching Soviet secrets being shared with impunity in broad daylight, they were finally going to hear them. They had cracked it. Fifteen million dollars and several years well spent.
And the men in the van sat and listened…
… as Peanut the cat started off on his mission …
… as he stepped into the street …
… and got hit by a cab and died.“
Dieser Auszug soll zeigen, dass dieser Podcast theoretisch auch in geschriebener Form funktionieren würde. Nate DiMeo klingt nicht nach einem natürlichen Erzähler. Sein Stil widerspricht der künstlich geschaffenen Natürlichkeit im Klang, nach der viele Podcasts Post-„Serial“ streben. Auch das hebt diesen Podcast angenehm von der Masse ab, von den unbearbeiteten Podcast-Gesprächen genauso wie von den hölzern durchgeskripteten Formaten. DiMeo versucht nicht so zu tun, als ob ihm jedes Wort just im Moment der Aufnahme einfiele. Eine Illusion, an der sich viele Storytelling-Formate und PodcasterInnen versuchen und an der fast genauso viele Podcasts scheitern.
Mut zur Lücke
Stattdessen gelingt DiMeo das noch viel seltenere Kunststück, seine durchaus literarischen Texte auf eine Art vorzutragen, die übliche Kategorien sprengt. Am ehesten zu vergleichen mit dem Stil von Jonathan Goldstein in „Heavyweight“. „The Memory Palace“ klingt nicht ungelenk und steif vorgelesen, aber auch nicht nach laut ausgesprochenen Spontangedanken. Er plaudert nicht locker, aber er zitiert auch nicht förmlich.
Nate DiMeo gibt keinen Host, der die Show dominiert – aber ohne ihn und seine klugen Texte würde sie trotzdem nicht funktionieren. Wahrscheinlich ist es diese Zwischenform, die es beim Zuhören erlaubt, diesen echten Menschen am Mikrofon zu vergessen und sich ganz der Erzählung zu widmen. Auf ihre zurückhaltende Art lassen Nate DiMeo und „The Memory Palace“ damit viele Lücken, akustische wie inhaltliche. Die Musik schafft die Stimmung, die Lücken die Zeit, die Texte das Futter zum Nachdenken.
Teil dieses Muts zur Lücke ist übrigens auch, dass die Episoden eher kryptische Titel tragen und es nicht wie sonst üblich eine Kurzbeschreibung der Episode gibt. Die HörerInnen sollen unvoreingenommen hören.
Die Episoden entwickeln auch durch DiMeos Stil ein gewisses Pathos – im besten, angenehmsten Sinne: Sie verstärken Emotionen. Der Podcast verwandelt die Kopfhörer in Stethoskope, in Werkzeuge, um in sich reinzuhören: Wie beurteile ich dieses Stückchen Vergangenheit? Was sagt das über mich?
Es ist ein Geschichtspodcast, der Hören die Gegenwart verlangsamt. Der aus wenigen Minuten Erzählung mit kaum mehr als Worten, Pausen und einer Handvoll Musik ein kleines Universum entstehen lässt. Der Blick zurück von „The Memory Palace“ hat etwas angenehm Entschleunigendes. Das mag esoterisch klingen, wie der Podcast in seiner Anmutung vielleicht für so manches Ohr esoterisch klingen mag.
In einer Podcast-Szene, in der die Anzahl der abonnierten Podcasts mittlerweile zum Angeben taugt und genutzt wird, in der Podcasts in allen erdenklichen Lebenslagen auf anderthalb- bis zweifacher Wiedergabegeschwindigkeit angehört werden und Podcast-MacherInnen bitteschön gefälligst Kapitelmarken anbieten sollen, damit ich die mir so unwichtigen Inhalte gleich überspringen kann – in dieser Szene wird „The Memory Palace“ wohl wenig Anklang finden.
Viel zu kurz, um mit der Länge zu protzen. Die Erzählbögen zu kunstvoll, um sie mal eben als Punchline schnell weiterzuerzählen. Das Wissen zu unnütz, um davon zu profitieren oder damit zu optimieren. So ganz ohne Experten und Auskennertum, ohne Promis, ohne Egos. „The Memory Palace“ ist einfach verdammt gutes Podcast-Handwerk.
Podcast: „The Memory Palace“ Episodenlänge: 5 bis 15 Minuten, insgesamt über 150 Episoden
Offizieller Claim: „Short, surprising stories of the past, sometimes heartbreaking, sometimes hysterical, often a little bit of both.“ Inoffizieller Claim: Der unterhaltsame Trivia-Teil von toternsten Wikipedia-Artikeln zu bedeutenden Personen und Momenten der Zeitgeschichten
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