Das Wörtchen „normal“ ist längst eine Waffe im Kulturkampf: „Normal“ ist, was die Mehrheit macht. Zeit für eine Abrechnung mit einem Begriff, der nur auf den ersten Blick normal scheint.
Natürlich ist es unfair, dass ich hier auf die arme Normalität schimpfe! Sie kann ja nichts dafür. Normalerweise würde ich mich nie über so etwas Harmloses wie das Wort „normal“ aufregen. Normalerweise. Aber was ist schon normal? Am besten fange ich vorne an.
Ich weiß noch, wann mich das Wort zum ersten Mal wütend gemacht hat. Im Bundestagswahlkampf 2021. Damals stellte die AfD ihre Kampagne unter das Motto „Deutschland – aber normal“. Was natürlich die Frage aufwirft: Was ist ein normales Deutschland? Was tun normale Deutsche? Es gäbe so viele Möglichkeiten!
In dieser Rubrik geben wir Autorinnen und Autoren die Gelegenheit, über ihr persönliches Hasswort zu schimpfen. Eine Redewendung oder Formulierung, die nervt, sinnlos ist oder falsch eingesetzt wird – die aber ständig auftaucht, in Texten, im Radio oder im Fernsehen. Alle Hasswörter finden Sie hier.
„Normale Deutsche“ singen bei „Wahnsinn“ von Wolfgang Petry „Hölle, Hölle, Hölle, Hölle!“, wenn der Refrain erklingt.
„Normale Deutsche“ schauen an Silvester einem englischen Butler beim Besaufen zu und verböllern dann anderthalb Monatsgehälter.
„Normale Deutsche“ wissen: Die einzig mögliche Antwort auf „Wie geht es dir?“ lautet „Muss ja“.
„Normale Deutsche“ verzehren im Frühling ihr Eigengewicht in Spargel und nehmen in Kauf, dass ihr Urin danach unnormal stinkt.
„Normal“ ist ein Code-Wort
Aber wir wissen alle: „Normal“ ist hier ein Code. „Normal“ bedeutet hier: weiß, ohne Behinderung, verheiratet, mit Kindern, cis, heterosexuell (außer du bist AfD-Parteichefin). Im Prinzip hätte die AfD einfach auf ihr Plakat schreiben können: „Deutschland – aber Tino Chrupalla“. Normal ist, was die Mehrheit ist. Und ganz wichtig: Normal ist richtig!
Wobei, Herr Chrupalla: Wenn automatisch normal und richtig ist, was die Mehrheit der Menschen tut… Ich will nicht klugscheißen, aber eine riesige Mehrheit der Deutschen wählt nicht die AfD! In Ihrer eigenen Logik sind Sie nicht normal. Sie sind die Hafermilch unter den Parteien.
Das kleine Wörtchen „normal“ ist also längst eine Waffe im Kulturkampf. Was nur funktioniert, weil „normal“ verwirrende Bedeutungsebenen hat. Wenn wir fragen, ob etwas normal ist, dann meinen wir meist: Ist es besorgniserregend? Gefährlich? Problematisch?
Jana Fischer arbeitet als Comedy- und Satire-Autorin für ganz normale Formate wie etwa die „heute-show“, „Die Carolin Kebekus Show“, „Kroymann“ und den Radiosender WDR5. Ursprünglich hat sie mal ein journalistisches Volontariat beim WDR gemacht – aber von dort aus ist sie sehr schnell auf die schiefe Quatschbahn abgerutscht.
In einem seltenen Anfall von Meta-Komplexität befasst sich die „Bild“ aber auch damit, wann Normalität (angeblich) gefährlich wird: „Ich bin normal. Ist das ein Problem?“, fragte im Oktober die verunsicherte Kolumnistin Evelyn Holst, die sich „gefangen in der woken Welt“ fühlt. Mit „normal“ ist hier beispielsweise gemeint: Sie raucht, gendert ungern, trinkt Kuhmilch und hält Angela Merkels „Wir schaffen das“ für einen Fehler. Ach so, und sie sehnt sich in der Werbung oder im Kino auch mal nach einem „richtigen Kerl“, „der nicht genderfluid ist oder nonbinär“.
Auch Trump hält sich für „extrem normal“
Nein, nichts davon ist ein Problem. (Gut, das mit dem Rauchen vielleicht mittelfristig. Aber halt nur für die Lunge der Kolumnistin.) Aber nichts davon macht Sie, Frau Holst, automatisch „normal“ und die Leute, die es anders handhaben, „unnormal“. Von den genannten Dingen haben wir zwei nichts gemeinsam bis auf ein bisschen Kuhmilch. Aber guess what? Irgendwie fühle ich mich kein bisschen unnormal, nur weil ich Nichtraucherin bin und mich über Vielfalt auf der Kinoleinwand freue.
Kurzer Faktencheck dazu: Bei den Oscars 2025 waren zehn von zehn der als bester Darsteller nominierten Männer Cis-Dudes, also das, was die Kolumnistin vermutlich im Kopf hat, wenn sie sogenannte „richtige Kerle“ vermisst. Daher zur Sicherheit eine kurze Service-Info: Nur weil Timothée Chalamet so einen traurigen Bartwuchs hat, ist er nicht genderfluid.
Aber natürlich: Ähnliche Gefühle wie in diesem Artikel haben wohl so einige Menschen. Da tut es gut, sich daran zu erinnern: Normal ist für uns immer das, was uns selbst vertraut ist. Aber normal ist eben nicht automatisch gut oder schlecht. Auch Donald Trump bezeichnet sich und J.D. Vance als „extrem normale Menschen“. Und klar, man könnte Essays darüber schreiben, auf welchen zig Ebenen Donald Trump definitiv nicht den statistischen Normen entspricht. Aber das wissen wir ehrlich gesagt ohnehin alle, also hier nur ein Reminder, wie der extrem normale Trump extrem normal tanzt.
Und wem diese Perversion des Begriffes „normal“ jetzt völlig anormal vorkommt: Ist sie nicht. Wir können von Glück reden, dass unsere Vorstellung von „normal“ wandelbar ist. Denn meine Güte, was ist im Laufe der Weltgeschichte nicht schon alles normal gewesen?!
Es gab hierzulande Zeiten, da war es „normales“ Vorgehen, aufsässige Frauen als Hexe zu verbrennen.
Es gab Zeiten, da war es „normal“, schwule Männer vor Gericht zu stellen.
Es gab Zeiten, da war es „normal“, fiese, stundenlang aufgeföhnte Dauerwellen mit drei Tonnen Haarspray drin zu tragen. (Machen wir uns nichts vor: Diese Zeiten werden wiederkommen. Ich weiß fast nichts über Mode, aber ich weiß: Sie ist ein Kreislauf.)
Normal ist gar nicht immer gut
All das hätte unsere Gesellschaft nie überwunden, wären nicht irgendwann irgendwelche Menschen von der ach so tollen Normalität abgewichen. Das vergisst man nur leicht, weil uns Begriffe wie „nicht normal“ oder „anormal“ quasi nie in positivem Kontext begegnen.
Vielleicht fehlen uns Medien, die die Frage: „Ist es normal…?“ auch mal beantworten mit: „Keine Ahnung, aber es ist großartig!“ Denn sehen wir es mal so: Kriegt Erling Haaland so einen unnormalen Haufen Geld in den Hintern geblasen, weil er so normal Fußball spielt? Hören wir heute noch Musik von Mozart, weil er so wunderbar normale Melodien komponiert hat? Und sind Sie jemals auf einer Beerdigung gewesen, bei der jemand gesagt hat „Sie ist immer so schön normal gewesen“? Eben.
PS: Wer sich intensiver in die Frage reinnerden will, was „normal“ ist und inwiefern dieser Begriff machtpolitische Bedeutung hat, dem sei das Buch „Bin ich normal?“ von der Autorin Sarah Chaney empfohlen – oder dieses Interview mit der Autorin.
17 Kommentare
Ich weiß, der Kommentar ist etwas unqualifiziert, aber:
Einfach nur ❤️
„Normal“ heißt „im rechten Winkel zu einer ebenen Fläche“.
Dass das Leute im politisch rechten Winkel anders verwenden, war ja klar.
@Mycroft
Tatsächlich kommt „normal“ ja von „der Norm entsprechend“ und damit einer Vorgabe. (@Autorin: Damit ist es ja mitnichten ein völlig harmloser Begriff, oder?)
Und die (deutsche) Mathematik hat sich den Begriff genau daher abgeleitet. Der „normale“ Winkel entspricht der Vorgabe der Norm bzw. des Maßes.
(Der „rechte“ Winkel indes kommt weder von rechts oder dem Recht, sondern als verballhornte Eindeutschung von „angelus rectus“)
Falls man sich wundert: das habe ich bei Gelegenheit mal für meinen Mathe-LK recherchiert, weil genau diese Fragen da aufkamen ;-)
„Rechter Winkel“ kann auch „angulus normalis“ heißen.
Das chinesische Schriftzeichen für „links“ stellt witzigerweise eine Hand und ein Winkelmaß – also mehr: Maurerdreieck – dar. Weil man das mit links benutzt, wenn man mit Rechts eine Höhe markiert.
Also ist „normal“ eigentlich alles, was gerade und ordentlich ist.
Ich glaube, man sollte nicht unterschätzen, wie sehr sich die Leute nach Jahren der Pandemie, des Krieges, der Inflation und der politischen Blockaden nach „Normalität“ sehnen (die es so natürlich nie gibt). Dennoch finde ich ein Bedürfnis nach Ruhe und Alltag nachvollziehbar – man sollte es nicht der AfD überlassen, die genial versteht, es zu bedienen.
Man kann sagen: Krisen und Angst machen konservativ, was es erschwert, Zustimmung für notwendige Transformationen zu erhalten. Ein Riesenproblem – mit der Strategie, „normal“ als doof zu rahmen, wird man es nicht in den Griff bekommen. Der Soziologe Armin Nassehi hat sich in „Kritik der großen Geste“ Gedanken dazu gemacht.
Es gab hierzulande Zeiten, da war es „normales“ Vorgehen, aufsässige Frauen als Hexe zu verbrennen.
Eher nicht. Dass die Opfer der Hexenverfolgung quasi frühe Feministinnen waren, ist ebenso ein Mythos wie die Sache mit den weisen, aber heidnischen Heilkundigen, die der Kirche ein Dorn im Auge gewesen wären.
Die Auswahl der Hexerei-Angeklagten war recht willkürlich und basierte oft auf Denunziation aus privaten Motiven. Das Phänomen als Ganzes erfüllte in der krisengeschüttelten Frühen Neuzeit eine ähnlich Funktion wie der Antisemitismus in der Moderne. Und immerhin um die 20 Prozent der Opfer waren Männer.
Witzig @KK:
„Ein Riesenproblem – mit der Strategie, „normal“ als doof zu rahmen, wird man es nicht in den Griff bekommen.“
Da es ja das sogenannte „framing“ Ihnen zufolge tatsächlich gar nicht gibt, wird hier ge“rahmt“.
Überzeugt nur so mittelgut.
Aber kommen wir mal zu Details: Das vorgeblich Normale wird benutzt, um das Unnormale zu bilden. ( Hegel: omnis determinatio est negatio ) Was als vorgeblicher Angriff auf das „Normale“ geframet wird, ist ein strategisches Othering des Nichtnormalen.
Wer verbietet am Ende Worte, Bücher oder Meinungen. Wer befeuert tatsächlich den Kulturkrieg, wenn man es mal empirisch und analytisch untersucht?
Wie sieht es denn nun aus in den USA, wo die Kulturkrieger von rechts die Regierungsgewalt übernommen haben.
Soll das immer noch tatsächlich als Überforderung der armen Normalen durchgehen?
C’mon!
Der gesamte Wahlkampf der Union und der AfD war durchzogen und zu großen Teilen getragen von Kulturkampfparolen.
Polemik gegen Transsexuelle ist gerade ein ganz heisses Thema für die Kulturkrieger.
Aber doch nicht, weil die paar Promille Transmenschen die Normalität irgendeiner Mehrheit gefährden würden!
Und warum sind gerade die heranwachsenden Männer, denen eine vermeintlich Normalität, die sie so nie gekannt haben dürften, als die eigentliche natürliche Ordnung nur erzählt wurde, dann so nachhaltig verunsichert, dass sie verstärkt rechtsradikalen Versuchungen erliegen?
Warum sind gerade diejenigen in der Provinz vom Wandel am stärksten verunsichert, die ihn am wenigsten erleben?
The Politics of Us and Them aka Faschismus. Herr Merz und die Springerpresse waren die besten Wahlhelfer der AfD, nicht irgendein non-binäres Mitglied der Linkspartei o.ä..
@Kritischer Kritiker
Zitat:
Die Auswahl der Hexerei-Angeklagten war recht willkürlich und basierte oft auf Denunziation aus privaten Motiven. Das Phänomen als Ganzes erfüllte in der krisengeschüttelten Frühen Neuzeit eine ähnlich Funktion wie der Antisemitismus in der Moderne. Und immerhin um die 20 Prozent der Opfer waren Männer.
Diese Behauptung erscheint mir auch sehr willkürlich. Fühlen oder glauben Sie das, oder basiert das auf Recherche?
Und selbst wenn die Verfolgung und Tötung “ auf Denunziation aus privaten Motiven“ basierte, was meinen Sie denn, was waren denn diese privaten Gründe?
Bestimmt nicht, weil die Denunzierten so nette, angepasste, unauffällige Frauen waren. Sondern oft eben (geschäftlich) erfolgreich, besonders aktiv (in welcher Hinsicht auch immer), Konkurrentinnen zu Männern usw.
Und wenn der Einlass mit den 20% Männern ausdrücke soll, dass die Hexenverfolgung ja überhaupt keine misogynen Frauentötungen waren sondern nur aus Versehen manchmal auch Frauen trafen, würde ich vielleicht doch einmal zumindest einen Kurs in den Grundrechenarten empfehlen .
„Etwa 75 bis 80 Prozent der Opfer der europäischen Hexenverfolgung waren Frauen, was dem geschlechtsbezogenen Hexenglauben in Mitteleuropa entsprach. Zeitlich und regional gab es jedoch Abweichungen.“
Also ist der 20% Männeranteil noch recht gering angegeben.
„In Nordeuropa ging die Hexervorstellung eher von männlichen Zauberern aus. Der Männeranteil lag hier zwischen 50 Prozent in Finnland und bis zu 90 Prozent in Island.“
vs
„So waren in katholischen Gebieten 60 bis 70 Prozent der Hingerichteten Frauen, während die Opfer in Gebieten mit protestantischer Bevölkerung zu 85 Prozent Frauen waren.“
Dass Protestanten in Mitteleuropa frauenfeindlicher sein sollen als die Katholiken, aber in Nordeuropa männerfeindlich, erscheint tatsächlich als Willkür.
Was es ja auch war.
„In der Anfangszeit wurden vor allem alleinlebende, alte und sozial schwache Frauen aus einem bäuerlichen Umfeld Opfer der Hexenverfolgungen. Ab ca. 1590 änderte sich mit der Wandlung des Hexenstereotyps auch die soziale Schicht der Verfolgten.“
Das passiert übrigens, wenn man rechtsstaatliche Standards – die es im Mittelalter tatsächlich gab – zum Fenster rausschmeißt, weil „alle“ sagen, dass die falsch sind. Ist insofern schon ein Argument, „Normalität“ nicht als „was die meisten tun oder denken, ist richtig“ zu verstehen.
Miriam Kwasny (#7):
Diese Behauptung erscheint mir auch sehr willkürlich. Fühlen oder glauben Sie das, oder basiert das auf Recherche?
Letzteres. Wikipedia hilft schon weiter. Die Angaben zu den verfolgten Männern schwanken dort zwischen 17 und 25 Prozent, je nach Quelle – ich habe mich der Einfachheit halber für 20 entschieden. Diese Zahlen gelten für die Verfolgung in Mitteleuropa, wo das heute „klassische“ Hexenbild enstand; in Nordeuropa lag das Geschlechterverhältnis bei 50/50, in Island wurden wesentlich mehr Hexer/Zauberer als Hexen verfolgt. Nachzulesen ebenfalls bei Wikipedia.
Und selbst wenn die Verfolgung und Tötung “auf Denunziation aus privaten Motiven“ basierte, was meinen Sie denn, was waren denn diese privaten Gründe?
Da müsste ich jetzt „fühlen und glauben“ – was Sie an dieser Stelle tun, obwohl Sie es mir gerade noch vorgeworfen haben. Ein wichtiges Motiv war laut Wikipedia Geld, denn die Denunziaten wurden am Vermögen der Verurteilten beteiligt.
Und wenn der Einlass mit den 20% Männern ausdrücke soll, dass die Hexenverfolgung ja überhaupt keine misogynen Frauentötungen…
Da ist mir zu viel Projektion drin. Ich habe der Aussage widersprochen, dass es „normal“ gewesen sei, „aufmüpfige Frauen“ als Hexen zu verbrennen. Ich habe weder bestritten, dass die Hexenverfolgung in Mitteleuropa vor allem Frauen traf, noch dass Misogynie dabei eine Rolle spielte. Natürlich spielte die christlich geprägte Angst vor der weiblichen Sexualität in der ganzen Hexen-Mythologie sogar eine gewaltige Rolle.
(Der Spruch mit den Grundrechenarten ist lame. Sorry.)
@Frank Gemein (#6):
Da es ja das sogenannte „framing“ Ihnen zufolge tatsächlich gar nicht gibt, wird hier ge“rahmt“. Überzeugt nur so mittelgut.
Ihr Einwurf überzeugt weniger als mittelgut, sondern ist schlicht unglaubwürdig – wir haben gefühlte zwanzigmal über das Thema diskutiert, und meine These war stets: Der Effekt existiert, aber er ist nicht allmächtig, sondern wird durch Prägung und Reflexionsvermögen konterkariert. Können Sie gerne nachlesen. Inzwischen würde ich noch ergänzen: Reaktanz.
Und hier war mein Argument, dass es wenig bringt, „normal“ als doof zu rahmen – basierend auf genannter These. Wo, bitte, ist der Widerspruch?
Der Rest Ihres Beitrags ist rein projektiv und hat nichts mit dem zu tun, was ich geschrieben habe. Gehe ich nicht weiter drauf ein.
Transparenzhinweis: Es gab leider ein paar technische Probleme mit den Kommentaren des Nutzers „Kritischer Kritiker“. Deshalb sind seine Beiträge erst gar nicht, dann teilweise doppelt erschienen.
Beste Grüße
Alexander Graf // Übermedien
@Mycroft (#8):
Danke! Und sorry für die Wiederholung Ihrer Zahlen. Geschrieben habe ich das, bevor Ihr Beitrag erschien. War etwas chaotisch mit der Technik.
@Alexander Graf (#10):
Ebenso danke! Für die freundliche Hilfe und für’s Aufräumen.
Ich habe häufig den Eindruck, dass wenn Leute von „Normal“ reden, das nur eine Illusion ist. Eine idealisierte Gedankenwelt, die ganz den eigenen Vorstellungen entspricht. Die aber gar nicht existiert oder auch gar nicht kann, weil man, wenn man sie mal nach Details fragt, Widersprüche herauskommen.
Oder anders gesagt: niemand ist „normal“. Jeder hat etwas einzigartiges, sonst wäre die Welt sehr langweilig.
„Das Normale“ soll kongruent sein mit „den Normalen“ aka „die Mitte“.
Das Normale steht unter einem Dauerbeschuss, ist komplett überfordert und wird permanent mit Verboten gegängelt, so dass sich der Normale nicht mehr traut, seinen SUV ohne Polizeischutz vollzutanken.
Normale bezahlen immer alle Rechnungen.
Diejenigen, die andere Meinungen vertreten als die Normalen, bezahlen grundsätzlich gar nichts, wollen aber überall mitreden.
Der Normale soll schwul gemacht werden durch Ansteckung.
Die letzten Jahrzehnte waren besonders schlimm für den Normalen. Ob Schaumgebäck oder Grillsauce, nichts ist mehr so, wie es früher einmal war ( zumindest heisst es nun anders ).
Also müssen wir mal langsamer machen, mit den Zumutungen! Kleine Schritte ( wäre mir ehrlich gesagt recht, da sie sowieso permanent in die falsche Richtung gehen ) sind gefordert.
Leider habe ich da eine Vermutung. Es sind gar nicht die „Woken“, die für den Dauerbeschuss verantwortlich sind. Zumindest bei Covid, Ukrainekrieg, Trumpwahnsinn und Naher Osten bin ich mir da ziemlich sicher.
Verbote hagelt es auch von anderer Seite, die Wirtschaft wird national gebraindrained.
Ich liebe das englische Wort „scapegoat“.
@Frank Gemein (#13):
Leider habe ich da eine Vermutung. Es sind gar nicht die „Woken“, die für den Dauerbeschuss verantwortlich sind. Zumindest bei Covid, Ukrainekrieg, Trumpwahnsinn und Naher Osten bin ich mir da ziemlich sicher.
Bin ich der Adressat dieser Zeilen? Dann lesen Sie nochmal den ersten Satz aus Beitrag #5!
Aber da liegt doch gerade das Problem, wenn man das Wort „Normal“ als rechts, sexistisch, rassistisch, transfeindlich, etc. markiert. Gestern dürften Millionen Menschen beim morgendlichen Nachrichtenkonsum (etwas stilisiert) so gedacht haben: „Oh Gott, seit fünf Jahren Pandemie, Krieg, Inflation und Rezession, und jetzt auch noch ein Handelskrieg! Ich will endlich mein normales Leben zurück!“
Nun könnte man lange darüber philosophieren, dass es in einer dynamischen Gesellschaft wie dem Kapitalismus keinen Normalzustand gibt, weil sich alles ständig verändert – und zwar häufig in krisenhafter Form. Völlig richtig. Man könnte aber auch festhalten, dass sich in diesem Stoßseufzer einfach das Bedürfnis nach Ruhe vor immer neuen Krisen ausdrückt, was menschlich sehr verständlich ist (mir geht es da nicht anders). Die Allermeisten dürften dabei nicht an 1959, sondern an 2019 denken.
Preisfrage: Ist es unter diesen Vorzeichen klug, wenn Progressive den Wunsch nach „Normalität“ pauschal als reaktionär zurückweisen und – identitätspolitisch aufgeladen – als Gegensatz zu sozialem und kulturellem Fortschritt hinstellen? Ich glaube nicht, auch wenn ich die Kritik von Frau Fischer in weiten Teilen treffend finde.
Damit überließe man den Begriff nämlich AfD & Co., die ihn zusätzlich anreichern mit Dingen wie Ethnizität, Verbrennungsmotor, Gasheizung, männlichem Ernährer und Mama-Papa-Kind-Familie. Was es ihnen leichter macht, diese tatsächlich reaktionäre Gesinnung als Normalzustand, sorry, zu framen.
Ich würde eher versuchen, den Begriff des Normalen auszuweiten, statt ihn zu verdammen – jegliche sexuelle Orientierung ist normal, Afrodeutsche sind normal, Patchworkfamilien und Single-Leben sind normal, kein Auto zu haben ist das – bitte sehr! – Allernormalste von der Welt, etc.
Diesen Weg zu gehen, behindert allerdings der identitätspolitische Essenzialismus, der Progressivität ja gerade als Abweichung von einer als weiß, männlich und hetero verstandenen „Normalität“ definiert. Er strebt kein „neues Normal“ an, das alle einschließt, sondern fordert Anerkennung seiner unüberwindbaren Besonderheit (im Opfer). Aus dieser Haltung lassen sich moralisch Funken schlagen – politisch und im Kampf gegen die AfD halte ich sie eher für hinderlich.
Letztlich läuft es auf Folgendes hinaus: Will man der Mehrheit nachweisen, dass sie vernagelt, reaktionär und böse ist – oder will man sie für progressive Veränderungen gewinnen. Ich neige zu Letzterem.
@KK
Nein, wenn ich Sie anspreche, dann mache ich das auch deutlich.
Aber gut, wenn Sie es schon aufgreifen:
Normalität als Sehnsuchtsort ist imho grundsätzlich nicht mit dem Wunsch nach Entsprechung irgendwelcher Normen zu verwechseln.
Die Normalität, nach der sich der Mensch mitunter sehnt, ist die Abwesenheit von Ungemach jeglicher Form und sie wird problemlos für jedes Indiviuum ein eigenes, maßgefertigtes Wohlsein bedeuten.
Der Beitrag hier und mein Kommentar beziehen sich auf einen offensichtlichen Kampfbegriff der Kulturkrieger. Natürlich sind diese Begriffe an sich unschuldig.
Das gleiche liesse sich über „die schweigende Mehrheit“, „die Mitte“ und viele andere Begriffe sagen. Dennoch wurden diese Vokabeln unlängst aufmunitioniert und sind nun vitale Werkzeuge für eine Faschisierung der Gesellschaften.
Überraschendeweise habe ich gerade in einem Spiegelartikel von Samira El Ouassil zu einem ganz anderen Thema ( das Urteil gegen LePen und die Reaktionen darauf ) einige Sätze gelesen, die ich hier seltsam passend finde.
Dass die Menschen sich nach Normalität sehnen, wird benutzt, um sie gegen die Feindbilder aufzuhetzen. Nun zu argumentieren, man dürfe dieses aber nicht skandalisieren, weil die Konsequenzen so bedrohlich sein könnten, ist imho eine de facto Kapitulation.
„Ich habe häufig den Eindruck, dass wenn Leute von „Normal“ reden, das nur eine Illusion ist. Eine idealisierte Gedankenwelt, die ganz den eigenen Vorstellungen entspricht.“
Es ist sicher so, dass damit ein Zustand gemeint ist, der vllt. nicht „ideal“ ist, aber immerhin wünschenswert, und weil alle sich unterschiedliche Dinge wünschen, ist der Begriff inhaltlich relativ offen, da haben Sie ganz recht.
Aber das ist ja hier nur das halbe Problem, das ganze Problem besteht darin, dass jeder das „Normal“, also den angestrebten Zustand, des anderen verteufelt.
Also „normal = kein Krieg“ vs. „normal = keine Schwulen“.
„Ich will nicht klugscheißen, aber eine riesige Mehrheit der Deutschen wählt nicht die AfD! In Ihrer eigenen Logik sind Sie nicht normal.“ Das ist ja nur eine andere Form der penetrant wiederholten Lüge, demokratisch von einer Merheit der Bevölkerung gewählte Regierungen würden nicht „das Volk“ vertreten. Damit soll Demokratie delegtimiert werden. Was „normal“ oder wer „das Volk“ ist, wird nicht durch Wahlen oder gesellschaftliche Diskurse festgelegt, sondern nach Vorstellung der Rechtsextremen durch sie selbst. Alle anderen werden von Mitbestimmung und Teilhabe ausgeschlossen.
Ich weiß, der Kommentar ist etwas unqualifiziert, aber:
Einfach nur ❤️
„Normal“ heißt „im rechten Winkel zu einer ebenen Fläche“.
Dass das Leute im politisch rechten Winkel anders verwenden, war ja klar.
@Mycroft
Tatsächlich kommt „normal“ ja von „der Norm entsprechend“ und damit einer Vorgabe. (@Autorin: Damit ist es ja mitnichten ein völlig harmloser Begriff, oder?)
Und die (deutsche) Mathematik hat sich den Begriff genau daher abgeleitet. Der „normale“ Winkel entspricht der Vorgabe der Norm bzw. des Maßes.
(Der „rechte“ Winkel indes kommt weder von rechts oder dem Recht, sondern als verballhornte Eindeutschung von „angelus rectus“)
Falls man sich wundert: das habe ich bei Gelegenheit mal für meinen Mathe-LK recherchiert, weil genau diese Fragen da aufkamen ;-)
„Rechter Winkel“ kann auch „angulus normalis“ heißen.
Das chinesische Schriftzeichen für „links“ stellt witzigerweise eine Hand und ein Winkelmaß – also mehr: Maurerdreieck – dar. Weil man das mit links benutzt, wenn man mit Rechts eine Höhe markiert.
Also ist „normal“ eigentlich alles, was gerade und ordentlich ist.
Ich glaube, man sollte nicht unterschätzen, wie sehr sich die Leute nach Jahren der Pandemie, des Krieges, der Inflation und der politischen Blockaden nach „Normalität“ sehnen (die es so natürlich nie gibt). Dennoch finde ich ein Bedürfnis nach Ruhe und Alltag nachvollziehbar – man sollte es nicht der AfD überlassen, die genial versteht, es zu bedienen.
Man kann sagen: Krisen und Angst machen konservativ, was es erschwert, Zustimmung für notwendige Transformationen zu erhalten. Ein Riesenproblem – mit der Strategie, „normal“ als doof zu rahmen, wird man es nicht in den Griff bekommen. Der Soziologe Armin Nassehi hat sich in „Kritik der großen Geste“ Gedanken dazu gemacht.
Eher nicht. Dass die Opfer der Hexenverfolgung quasi frühe Feministinnen waren, ist ebenso ein Mythos wie die Sache mit den weisen, aber heidnischen Heilkundigen, die der Kirche ein Dorn im Auge gewesen wären.
Die Auswahl der Hexerei-Angeklagten war recht willkürlich und basierte oft auf Denunziation aus privaten Motiven. Das Phänomen als Ganzes erfüllte in der krisengeschüttelten Frühen Neuzeit eine ähnlich Funktion wie der Antisemitismus in der Moderne. Und immerhin um die 20 Prozent der Opfer waren Männer.
Witzig @KK:
„Ein Riesenproblem – mit der Strategie, „normal“ als doof zu rahmen, wird man es nicht in den Griff bekommen.“
Da es ja das sogenannte „framing“ Ihnen zufolge tatsächlich gar nicht gibt, wird hier ge“rahmt“.
Überzeugt nur so mittelgut.
Aber kommen wir mal zu Details: Das vorgeblich Normale wird benutzt, um das Unnormale zu bilden. ( Hegel: omnis determinatio est negatio ) Was als vorgeblicher Angriff auf das „Normale“ geframet wird, ist ein strategisches Othering des Nichtnormalen.
Wer verbietet am Ende Worte, Bücher oder Meinungen. Wer befeuert tatsächlich den Kulturkrieg, wenn man es mal empirisch und analytisch untersucht?
Wie sieht es denn nun aus in den USA, wo die Kulturkrieger von rechts die Regierungsgewalt übernommen haben.
Soll das immer noch tatsächlich als Überforderung der armen Normalen durchgehen?
C’mon!
Der gesamte Wahlkampf der Union und der AfD war durchzogen und zu großen Teilen getragen von Kulturkampfparolen.
Polemik gegen Transsexuelle ist gerade ein ganz heisses Thema für die Kulturkrieger.
Aber doch nicht, weil die paar Promille Transmenschen die Normalität irgendeiner Mehrheit gefährden würden!
Und warum sind gerade die heranwachsenden Männer, denen eine vermeintlich Normalität, die sie so nie gekannt haben dürften, als die eigentliche natürliche Ordnung nur erzählt wurde, dann so nachhaltig verunsichert, dass sie verstärkt rechtsradikalen Versuchungen erliegen?
Warum sind gerade diejenigen in der Provinz vom Wandel am stärksten verunsichert, die ihn am wenigsten erleben?
The Politics of Us and Them aka Faschismus. Herr Merz und die Springerpresse waren die besten Wahlhelfer der AfD, nicht irgendein non-binäres Mitglied der Linkspartei o.ä..
@Kritischer Kritiker
Zitat:
Die Auswahl der Hexerei-Angeklagten war recht willkürlich und basierte oft auf Denunziation aus privaten Motiven. Das Phänomen als Ganzes erfüllte in der krisengeschüttelten Frühen Neuzeit eine ähnlich Funktion wie der Antisemitismus in der Moderne. Und immerhin um die 20 Prozent der Opfer waren Männer.
Diese Behauptung erscheint mir auch sehr willkürlich. Fühlen oder glauben Sie das, oder basiert das auf Recherche?
Und selbst wenn die Verfolgung und Tötung “ auf Denunziation aus privaten Motiven“ basierte, was meinen Sie denn, was waren denn diese privaten Gründe?
Bestimmt nicht, weil die Denunzierten so nette, angepasste, unauffällige Frauen waren. Sondern oft eben (geschäftlich) erfolgreich, besonders aktiv (in welcher Hinsicht auch immer), Konkurrentinnen zu Männern usw.
Und wenn der Einlass mit den 20% Männern ausdrücke soll, dass die Hexenverfolgung ja überhaupt keine misogynen Frauentötungen waren sondern nur aus Versehen manchmal auch Frauen trafen, würde ich vielleicht doch einmal zumindest einen Kurs in den Grundrechenarten empfehlen .
@#7: Ich bin zwar nicht KK, aber die Zahlen sind schon bekannt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hexenverfolgung
„Etwa 75 bis 80 Prozent der Opfer der europäischen Hexenverfolgung waren Frauen, was dem geschlechtsbezogenen Hexenglauben in Mitteleuropa entsprach. Zeitlich und regional gab es jedoch Abweichungen.“
Also ist der 20% Männeranteil noch recht gering angegeben.
„In Nordeuropa ging die Hexervorstellung eher von männlichen Zauberern aus. Der Männeranteil lag hier zwischen 50 Prozent in Finnland und bis zu 90 Prozent in Island.“
vs
„So waren in katholischen Gebieten 60 bis 70 Prozent der Hingerichteten Frauen, während die Opfer in Gebieten mit protestantischer Bevölkerung zu 85 Prozent Frauen waren.“
Dass Protestanten in Mitteleuropa frauenfeindlicher sein sollen als die Katholiken, aber in Nordeuropa männerfeindlich, erscheint tatsächlich als Willkür.
Was es ja auch war.
„In der Anfangszeit wurden vor allem alleinlebende, alte und sozial schwache Frauen aus einem bäuerlichen Umfeld Opfer der Hexenverfolgungen. Ab ca. 1590 änderte sich mit der Wandlung des Hexenstereotyps auch die soziale Schicht der Verfolgten.“
Das passiert übrigens, wenn man rechtsstaatliche Standards – die es im Mittelalter tatsächlich gab – zum Fenster rausschmeißt, weil „alle“ sagen, dass die falsch sind. Ist insofern schon ein Argument, „Normalität“ nicht als „was die meisten tun oder denken, ist richtig“ zu verstehen.
Miriam Kwasny (#7):
Letzteres. Wikipedia hilft schon weiter. Die Angaben zu den verfolgten Männern schwanken dort zwischen 17 und 25 Prozent, je nach Quelle – ich habe mich der Einfachheit halber für 20 entschieden. Diese Zahlen gelten für die Verfolgung in Mitteleuropa, wo das heute „klassische“ Hexenbild enstand; in Nordeuropa lag das Geschlechterverhältnis bei 50/50, in Island wurden wesentlich mehr Hexer/Zauberer als Hexen verfolgt. Nachzulesen ebenfalls bei Wikipedia.
Erhellend zum Thema Hexenverfolgung auch dieser Zweiteiler vom YouTube-Kanal Geschichtsfenster: https://www.youtube.com/watch?v=HNB_kyIr-3I
Da müsste ich jetzt „fühlen und glauben“ – was Sie an dieser Stelle tun, obwohl Sie es mir gerade noch vorgeworfen haben. Ein wichtiges Motiv war laut Wikipedia Geld, denn die Denunziaten wurden am Vermögen der Verurteilten beteiligt.
Da ist mir zu viel Projektion drin. Ich habe der Aussage widersprochen, dass es „normal“ gewesen sei, „aufmüpfige Frauen“ als Hexen zu verbrennen. Ich habe weder bestritten, dass die Hexenverfolgung in Mitteleuropa vor allem Frauen traf, noch dass Misogynie dabei eine Rolle spielte. Natürlich spielte die christlich geprägte Angst vor der weiblichen Sexualität in der ganzen Hexen-Mythologie sogar eine gewaltige Rolle.
(Der Spruch mit den Grundrechenarten ist lame. Sorry.)
@Frank Gemein (#6):
Ihr Einwurf überzeugt weniger als mittelgut, sondern ist schlicht unglaubwürdig – wir haben gefühlte zwanzigmal über das Thema diskutiert, und meine These war stets: Der Effekt existiert, aber er ist nicht allmächtig, sondern wird durch Prägung und Reflexionsvermögen konterkariert. Können Sie gerne nachlesen. Inzwischen würde ich noch ergänzen: Reaktanz.
Und hier war mein Argument, dass es wenig bringt, „normal“ als doof zu rahmen – basierend auf genannter These. Wo, bitte, ist der Widerspruch?
Der Rest Ihres Beitrags ist rein projektiv und hat nichts mit dem zu tun, was ich geschrieben habe. Gehe ich nicht weiter drauf ein.
Transparenzhinweis: Es gab leider ein paar technische Probleme mit den Kommentaren des Nutzers „Kritischer Kritiker“. Deshalb sind seine Beiträge erst gar nicht, dann teilweise doppelt erschienen.
Beste Grüße
Alexander Graf // Übermedien
@Mycroft (#8):
Danke! Und sorry für die Wiederholung Ihrer Zahlen. Geschrieben habe ich das, bevor Ihr Beitrag erschien. War etwas chaotisch mit der Technik.
@Alexander Graf (#10):
Ebenso danke! Für die freundliche Hilfe und für’s Aufräumen.
Ich habe häufig den Eindruck, dass wenn Leute von „Normal“ reden, das nur eine Illusion ist. Eine idealisierte Gedankenwelt, die ganz den eigenen Vorstellungen entspricht. Die aber gar nicht existiert oder auch gar nicht kann, weil man, wenn man sie mal nach Details fragt, Widersprüche herauskommen.
Oder anders gesagt: niemand ist „normal“. Jeder hat etwas einzigartiges, sonst wäre die Welt sehr langweilig.
„Das Normale“ soll kongruent sein mit „den Normalen“ aka „die Mitte“.
Das Normale steht unter einem Dauerbeschuss, ist komplett überfordert und wird permanent mit Verboten gegängelt, so dass sich der Normale nicht mehr traut, seinen SUV ohne Polizeischutz vollzutanken.
Normale bezahlen immer alle Rechnungen.
Diejenigen, die andere Meinungen vertreten als die Normalen, bezahlen grundsätzlich gar nichts, wollen aber überall mitreden.
Der Normale soll schwul gemacht werden durch Ansteckung.
Die letzten Jahrzehnte waren besonders schlimm für den Normalen. Ob Schaumgebäck oder Grillsauce, nichts ist mehr so, wie es früher einmal war ( zumindest heisst es nun anders ).
Also müssen wir mal langsamer machen, mit den Zumutungen! Kleine Schritte ( wäre mir ehrlich gesagt recht, da sie sowieso permanent in die falsche Richtung gehen ) sind gefordert.
Leider habe ich da eine Vermutung. Es sind gar nicht die „Woken“, die für den Dauerbeschuss verantwortlich sind. Zumindest bei Covid, Ukrainekrieg, Trumpwahnsinn und Naher Osten bin ich mir da ziemlich sicher.
Verbote hagelt es auch von anderer Seite, die Wirtschaft wird national gebraindrained.
Ich liebe das englische Wort „scapegoat“.
@Frank Gemein (#13):
Bin ich der Adressat dieser Zeilen? Dann lesen Sie nochmal den ersten Satz aus Beitrag #5!
Aber da liegt doch gerade das Problem, wenn man das Wort „Normal“ als rechts, sexistisch, rassistisch, transfeindlich, etc. markiert. Gestern dürften Millionen Menschen beim morgendlichen Nachrichtenkonsum (etwas stilisiert) so gedacht haben: „Oh Gott, seit fünf Jahren Pandemie, Krieg, Inflation und Rezession, und jetzt auch noch ein Handelskrieg! Ich will endlich mein normales Leben zurück!“
Nun könnte man lange darüber philosophieren, dass es in einer dynamischen Gesellschaft wie dem Kapitalismus keinen Normalzustand gibt, weil sich alles ständig verändert – und zwar häufig in krisenhafter Form. Völlig richtig. Man könnte aber auch festhalten, dass sich in diesem Stoßseufzer einfach das Bedürfnis nach Ruhe vor immer neuen Krisen ausdrückt, was menschlich sehr verständlich ist (mir geht es da nicht anders). Die Allermeisten dürften dabei nicht an 1959, sondern an 2019 denken.
Preisfrage: Ist es unter diesen Vorzeichen klug, wenn Progressive den Wunsch nach „Normalität“ pauschal als reaktionär zurückweisen und – identitätspolitisch aufgeladen – als Gegensatz zu sozialem und kulturellem Fortschritt hinstellen? Ich glaube nicht, auch wenn ich die Kritik von Frau Fischer in weiten Teilen treffend finde.
Damit überließe man den Begriff nämlich AfD & Co., die ihn zusätzlich anreichern mit Dingen wie Ethnizität, Verbrennungsmotor, Gasheizung, männlichem Ernährer und Mama-Papa-Kind-Familie. Was es ihnen leichter macht, diese tatsächlich reaktionäre Gesinnung als Normalzustand, sorry, zu framen.
Ich würde eher versuchen, den Begriff des Normalen auszuweiten, statt ihn zu verdammen – jegliche sexuelle Orientierung ist normal, Afrodeutsche sind normal, Patchworkfamilien und Single-Leben sind normal, kein Auto zu haben ist das – bitte sehr! – Allernormalste von der Welt, etc.
Diesen Weg zu gehen, behindert allerdings der identitätspolitische Essenzialismus, der Progressivität ja gerade als Abweichung von einer als weiß, männlich und hetero verstandenen „Normalität“ definiert. Er strebt kein „neues Normal“ an, das alle einschließt, sondern fordert Anerkennung seiner unüberwindbaren Besonderheit (im Opfer). Aus dieser Haltung lassen sich moralisch Funken schlagen – politisch und im Kampf gegen die AfD halte ich sie eher für hinderlich.
Letztlich läuft es auf Folgendes hinaus: Will man der Mehrheit nachweisen, dass sie vernagelt, reaktionär und böse ist – oder will man sie für progressive Veränderungen gewinnen. Ich neige zu Letzterem.
@KK
Nein, wenn ich Sie anspreche, dann mache ich das auch deutlich.
Aber gut, wenn Sie es schon aufgreifen:
Normalität als Sehnsuchtsort ist imho grundsätzlich nicht mit dem Wunsch nach Entsprechung irgendwelcher Normen zu verwechseln.
Die Normalität, nach der sich der Mensch mitunter sehnt, ist die Abwesenheit von Ungemach jeglicher Form und sie wird problemlos für jedes Indiviuum ein eigenes, maßgefertigtes Wohlsein bedeuten.
Der Beitrag hier und mein Kommentar beziehen sich auf einen offensichtlichen Kampfbegriff der Kulturkrieger. Natürlich sind diese Begriffe an sich unschuldig.
Das gleiche liesse sich über „die schweigende Mehrheit“, „die Mitte“ und viele andere Begriffe sagen. Dennoch wurden diese Vokabeln unlängst aufmunitioniert und sind nun vitale Werkzeuge für eine Faschisierung der Gesellschaften.
Überraschendeweise habe ich gerade in einem Spiegelartikel von Samira El Ouassil zu einem ganz anderen Thema ( das Urteil gegen LePen und die Reaktionen darauf ) einige Sätze gelesen, die ich hier seltsam passend finde.
„Es ist eine seltsame Art von Fürsorge – […]. Man will die Öffentlichkeit schützen, indem man ihr nichts zumutet.“ […]
Wer so denkt, beweist eine Haltung im Umgang mit Faschisten, die in ihrer taktischen Harmlosigkeit eine bemerkenswerte geistige Erschöpfung offenbart. Das formuliere ich nicht als in einen Euphemismus getarnte Abwertung, sondern ich meine tatsächlich eine besondere Form der gegenwartsbedingten Müdigkeit.“
https://www.spiegel.de/kultur/marine-le-pen-niemand-wuerde-ein-milderes-urteil-fuer-einen-korrupten-linken-fordern-a-9a62f82b-190e-4e71-8f27-c6de0e344191 ( Paywall! )
Dass die Menschen sich nach Normalität sehnen, wird benutzt, um sie gegen die Feindbilder aufzuhetzen. Nun zu argumentieren, man dürfe dieses aber nicht skandalisieren, weil die Konsequenzen so bedrohlich sein könnten, ist imho eine de facto Kapitulation.
„Ich habe häufig den Eindruck, dass wenn Leute von „Normal“ reden, das nur eine Illusion ist. Eine idealisierte Gedankenwelt, die ganz den eigenen Vorstellungen entspricht.“
Es ist sicher so, dass damit ein Zustand gemeint ist, der vllt. nicht „ideal“ ist, aber immerhin wünschenswert, und weil alle sich unterschiedliche Dinge wünschen, ist der Begriff inhaltlich relativ offen, da haben Sie ganz recht.
Aber das ist ja hier nur das halbe Problem, das ganze Problem besteht darin, dass jeder das „Normal“, also den angestrebten Zustand, des anderen verteufelt.
Also „normal = kein Krieg“ vs. „normal = keine Schwulen“.
„Ich will nicht klugscheißen, aber eine riesige Mehrheit der Deutschen wählt nicht die AfD! In Ihrer eigenen Logik sind Sie nicht normal.“ Das ist ja nur eine andere Form der penetrant wiederholten Lüge, demokratisch von einer Merheit der Bevölkerung gewählte Regierungen würden nicht „das Volk“ vertreten. Damit soll Demokratie delegtimiert werden. Was „normal“ oder wer „das Volk“ ist, wird nicht durch Wahlen oder gesellschaftliche Diskurse festgelegt, sondern nach Vorstellung der Rechtsextremen durch sie selbst. Alle anderen werden von Mitbestimmung und Teilhabe ausgeschlossen.