Bahnhofskiosk

Geschäftsmodell Vergesslichkeit

Das ist eine Premiere – Georg, Wilhelm und Cordt, die hier regelmäßig Magazine besprechen, sind sich einig über die Qualität eines Heftes. Hat es noch nie gegeben. Wilhelm, der konservative Non-Konformist, lobt die Texte des Heftes, die Georg, den Feministen, langweilen; Georg lobt die Texte, die Cordt missfallen. Aber die Schnittmenge zwischen den dreien ist erstaunlich, und reicht für eine gemeinsame Besprechung der aktuellen „Edition Brand eins“.


Bereits veröffentlichte Texte thematisch zu bündeln und noch mal an den Kiosk zu bringen, gehört schon länger zum verlegerischen Know-how. Auch die Redaktion von „Brand eins“ setzt mit seiner inzwischen fünften Ausgabe der „Edition Brand eins“ auf das Interesse neuer Leser und die Vergesslichkeit von Stammlesern. Thema dieses Sammelheftes: „Risiko“.

„Edition Brand eins“

Quartalszeitschrift, Ausgabe 3/2019, 194 Seiten, keine Anzeigen, 15 Euro.

Inhalt: 22 Texte, 7 Reports, 6 Interviews,  3 Reportagen, 2 Essays.

Gestaltung: durchgestaltetes, minimalistisches Layout.

„Das Wirtschaftsmagazin für alle, die ihr Leben selbst gestalten“ erscheint seit 20 Jahren, wird von einer kreativen Redaktion und einem erfindungsreichen Verlag geschickt an allen Abgründen der Printkrise vorbei gelotst. Gabriele Fischer, ehemals stellvertretende Chefredakteurin des „Manager Magazins“, erfand 1998 mit „econy“ eine neue Art Wirtschaftsjournalismus und als der Spiegel-Verlag viel zu schnell die Zuversicht verlor, rettete sie ihre Vision zur neuen Firma „Brand eins“ hinüber.

Damals war ich als Blattkritiker geladen, fasziniert von der Sicht auf neue Themen, dem kreativen Team, dem reduzierten Layout, neidisch auf die Aufbruchstimmung dieser Journalisten, die ihr eigenes Magazin machen konnten. Gezweifelt habe ich daran, ob man über eine lange Strecke die immer gleiche Geschichte erzählen kann: Mann/Frau hat eine Idee, gründet ein Unternehmen, hat Erfolg oder scheitert. Was für ein ängstlicher Pessimismus!

Das Heft „Risiko“ ist so etwas wie ein Musterheft des neuen Erklärjournalismus von „Brand eins“, der mehr sein will als Erzähljournalismus. Und das Heft zeigt, wie ein guter zweiter Aufguss konzipiert sein muss: moderiert als Unterhaltung zwischen Texten, die zu unterschiedlichen (auch zeitlichen) Zusammenhängen entstanden sind, aber thematisch zusammen hängen.

Die sieben Reports, sechs Interviews, die drei Reportagen und die beiden Essays, entstanden zwischen 2001 und 2019, beleuchten das Risiko des Lebens und des Unternehmens von fünf Seiten: Brauchen wir Regeln und Planung, um das Risiko in den Griff zu bekommen? Wie wichtig ist Sicherheit und Führung? Hilft Erfahrung bei der Erfindung von Neuem oder schadet sie? Wie schützt man sich vor zu viel Risiko? Und wie erlebt man das volle Risiko?

Warum strebt der Mensch zu Neuem, warum stürzt er sich immer wieder ins Risiko? „Die Not,“sagt der Philosoph Alexander Kluge im Interview, „macht erfinderisch“ – keine neue Erkenntnis, aber eine, die sich immer wieder bestätigt. Darum riskieren heutzutage so viele Söhne Afrikas ihr Leben, „Wanderungsbewegungen gehören zum großen Innovationspotenzial des Menschengeschlechts“. Der Mensch sei nicht fähig, „in einem Status quo zu verharren, darum sei ein Konservativer nicht realistisch.“

Der Maschinenbau-Professor Günther Schuh riskiert nicht sein Leben, ihn treibt der Ehrgeiz, den großen Autofirmen zu beweisen, dass ein günstiges Elektroauto technisch machbar und ökonomisch erfolgreich sein kann. 15.900 Euro kostet sein „e.Go Life“, die ersten 600 sollen bis Ende des Jahres ausgeliefert sein. Die wichtigste Frage für Schuh auf dem Weg zur Entwicklung von etwas Neuem: Wie man sich in der ersten Phase durch Erfahrungswissen nicht behindern lässt – und in der zweiten Phase von der Erfahrung profitiert.

Zerstörung kann ein Impuls sein für das Neue; wie man die negativen Folgen von Zerstörung begrenzt, damit beschäftigen sich Versicherungen, die das Risiko durch Terrorismus berechnen und daraus Tarife entwickeln. „Extremus“ ist die einzige deutsche Versicherung, bei der man sich gegen die materiellen Folgen von Terrorismus schützen kann, das Unternehmen hat rund 7800 Risiko-Orte mit dem Gesamtwert von 650 Milliarden Euro in Deutschland lokalisiert.

Mit 22 Jahren Mitgründer des Videoportals Vimeo, mit 25 Millionär, mit 27 Jahren das nächste Start up – der Amerikaner Zach Klein ist ein leidenschaftlicher Internet-Bastler, der das Leben als chronische Entdeckungsreise sieht. Sein Radar funktioniert so:

„Entweder sind es vernünftige Ideen, deren Zeit gekommen ist und die man einfach jetzt umsetzen muss. Oder es sind autobiografische Firmen wie Vimeo, bei denen mich meine Leidenschaft und Erfahrung antreiben.“

Was Klein genauso reizt wie das Netz:

„Wie verändert das Netz die Art und Weise, wie wir in Offline-Gemeinschaften miteinander umgehen?“

Darum trieb es ihn mit Freunden aufs Land, um ein Blockhaus zu bauen. Um daraus für die Idee für DIY CO zu kreieren: eine Bastelplattform für Kinder und Jugendliche.

Das Netz und die Digitalisierung vergrößern die Gefahren des menschlichen Zusammenlebens, besonders spürbar dort, wo sich Mensch und Maschine sehr nahe kommen. Das Risiko dieser Begegnung zu verringern, ist die Aufgabe des schwäbischen Unternehmens Pilz, das mit 2.200 Mitarbeitern Weltmarktführer für den Schutz vor Robotern ist.

Roboter verletzten Menschen, Roboter töten Menschen. Roboter können Menschen nicht unterscheiden von Maschinen oder Kartons. Das höchste Sicherheitsrisiko ist allerdings der Mensch, der versucht, die Sicherheitssysteme der Roboter zu überlisten.

Wenn der Mensch alle Sicherheitsleinen kappt, wenn er sich ins volle Risiko des Lebens stürzt, wenn er sich wie der Architekt Jan Augsberg vornimmt, in einem Jahr 100 Klavierkonzerte rund um den Erdball zu geben – dann ist er so sehr Mensch, dass seine Mitmenschen Angst bekommen, neidisch werden, vielleicht auch traurig über das eigene Leben.

Was ist aus Jan Augsberg geworden? Wie ist der aus diesem Jahr des puren Risikos heraus- – und heimgekommen? Das erfahren wir nicht am Ende des Textes aus dem Jahre 2016, aber im Heft des Jahres 2019 vermisst man genau diesen Absatz. Das ist der einzige kleine Mangel: Man möchte erfahren, was aus den Leuten geworden ist, die sich vor Jahren dem Risiko aussetzten, die das Risiko scheuten oder ihm trotzten. Ein Epilog würde jedem Text gut tun.

2 Kommentare

  1. Georg, Wilhelm und Cordt haben mir ganz gehörig die Nerven geraubt (der Millenial in mir sagt: Die sind mir auf den Sack gegangen!) Ich lasse mich aber trotzdem gerne vom „Bahnhofskiosk“ unterhalten. Gerne weiter so, ohne diese abiturientenhafte Volte.

  2. Ich wusste gar nicht, dass Sie eine dreigespaltene Persönlichkeit sind, lieber Kollege Schnibben. Oder viergespalten: Was sagt Herr Schnibben zu den Ansichten von Cordt, Georg und Wilhelm? ;-)

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