Wenn ich mir zuhöre, langweile ich mich. Ich kenne meine Meinungen, ich kenne all meine Argumente. Seit Jahren produziert mein Hirn genau das, was ich von mir erwarte. Mein Hirn ist nicht dumm, es blamiert mich nicht. Es liefert exakt das, was man von mir hören will.
Die Kolumne
Im wöchentlichen Wechsel gehen vier Autor/innen zum Bahnhofskiosk, entdecken dort Zeitschriften und schreiben drüber.
Cordt Georg Wilhelm Schnibben ist Wirtschaftswissenschaftler, hat die Henri-Nannen-Schule besucht, war Redakteur bei der „Zeit“ und fast 30 Jahre lang beim „Spiegel“, wo er unter anderem das Gesellschafts-Ressort leitete und sich in den letzten sechs Jahren um Digitalisierung und neue multimediale Erzählformen kümmerte. Seit seinem Ausscheiden aus der Redaktion baut er die Lernplattform „Reporterfabrik“ auf. Er ist außerdem Mitbegründer des Reporterforums.
In den nächsten Wochen schreiben: Johanna Halt, Arno Frank und Sigrid Neudecker.
Wenn ich eine der Talkshows sehe, weiß ich schon, was ich denken werde, nachdem ich gesehen habe, wer reden wird bei Illner, Will, Maischberger. Darum sitzt seit einiger Zeit Georg neben mir vorm Fernseher. Oder Wilhelm. Manchmal beide.
Georg, von mir George genannt, ist einer von diesen Männern, die feministischer sind als viele Feministinnen. Wilhelm überrascht mich immer wieder durch seinen Nonkonformismus, man könnte auch sagen, für ein bisschen Beifall von der falschen Seite geht er über Leichen.
Beide verwickeln mich immer wieder in Dialoge, die mich glücklich machen, weil sie mein verschlafenes Hirn reizen. Mein Therapeut hat seinerzeit die Stirn gerunzelt, als ich ihm erzählte, ich würde mir gelegentlich beim Sex zuschauen, wenn ich Sex habe. Er hatte was von „frühen Symptomen einer Schizophrenie“ gemurmelt, aber darüber sollte ich nicht scherzen.
Meine Eltern hatten damals bei meiner Geburt sicher etwas anderes im Sinn, als sie mir Georg und Wilhelm mit auf den Weg gaben, aber nun kann ich sie gut gebrauchen. Sie werden sich ab sofort im Bahnhof herum treiben, um Zeitschriften zu finden, über die ich viel zu schnell die Meinung hätte, die ich von mir erwarte.
Zeitschriften sind – wenn man die richtigen erwischt – Expeditionsberichte aus Parallelwelten. Leider habe ich bisher ganze Abteilungen der Zeitschriftenregale vor meiner Neugier weggesperrt, „Hobby“, „Familie“, „Frauen“ waren No-Go-Areas, da schicke ich nun Georg und Wilhelm hin. Georg tauchte mit „Brigitte Mom“ auf, Wilhelm mit „Retrowelt“, und – durch sie angeregt – wagte ich mich an „elctrified“.
„Brigitte Mom“
Von Georg Schnibben
„Das Magazin mit starken Nerven“, Vierteljahresheft, Ausgabe 01.2019, 154 Seiten, davon 17 Anzeigenseiten, davon wohl 7 im Gegengeschäft mit anderen Medienprodukten. Gruner+Jahr. 4 Euro.
Gestaltung: dickes Papier, kein eigener Fotosstil, kein einheitliches Layout.
Auch als Mann fühle ich mich von einigen Artikeln angesprochen, so von der schockierenden Reportage über Vergewaltiger, denen in vielen US-Bundesstaaten das gemeinsame Sorgerecht zugesprochen wird über ihre durch Gewalt gezeugten Kinder. Oder von der Fotostrecke über Mütter, die bei der Geburt ihrer Enkel Geburtshilfe leisten. Oder von der Reise-Reportage einer Mutter, die auf einem Trip nach Kreta ihrem Sohn die Angst vorm Wasser nehmen will.
Früher habe ich mich arrogant über solchen Selbsterfahrungs-Journalismus lustig gemacht, inzwischen merke ich, dass Texte, mit denen JournalistInnen eigene Erfahrungen weitergeben, oft glaubwürdiger sind als Texte, in denen JournalistInnen Erfahrungen von Leuten beschreiben, die sie mühsam gesucht, gecastet und dann durch die Recherche gecoacht haben („Was unterscheidet solche Texte von denen, die Blogger und Influencer schreiben?“ / Cordt)
Eine ähnliche Meinung hatte ich über News-to-Use -Texte; heute kann ich nachvollziehen, dass für manche junge Mutter der Artikel über gesunde, leckere Frühstücksalternativen relevanter ist als der Text über das Mutterbild in „Games of Thrones“.
Sehr anregender Report über Mütter, die aus dem Müttertrott ausbrechen und sich etwas erlauben: als korpulente Frau mit Speckrollen und den Spuren von drei Schwangerschaften Modell sitzen für Kunststudenten; sich in einem Heavy-Metal-Chor einmal in der Woche die Lunge aus dem Leib brüllen; sich gelegentlich Haschkuchen reinziehen („Und wie sollen solche Mütter dann ihren Kindern klarmachen, dass Marihuana dem Hirn schadet?“ / Wilhelm)
Der Mutter zu helfen, den Alltag zu ihrem Wohl und auch zum Wohl ihres Kindes gestalten zu können, das ist Aufgabe von „Brigitte Mom“. Väter kommen in diesem Heft nicht vor, es ist ein Magazin für alleinerziehende Mütter oder für Mütter, die nicht mehr daran glauben, dass der Vater irgendeine Rolle spielen könnte im Familienalltag. („Wie wäre es mit ‚Brigitte Dad‘ für miterziehende Väter?“ / Cordt)
„Mom“-Autorin Alexandra Zykunov thematisiert in ihrem Text „Siehst du denn deine Kinder überhaupt noch?“ das Unverständnis, das ihr entgegenschlägt, weil sie mit zwei Kindern (fünf und zwei Jahre alt) wieder Vollzeit arbeiten will:
„Ich weiß, dass auch dieser Text anecken wird, bei Freundinnen, Kolleginnen, anderen Müttern aus meiner Kita. Sie werden sich angegriffen fühlen in ihrem Lebensentwurf. Laut Statistischem Bundesamt arbeiten nur 10 Prozent aller Mütter mit kleinen Kindern unter drei Jahren Vollzeit.“
(„Kann es sein, dass all diese Väter und Mütter glücklich sind mit ihrem Familienmodell?“ / Wilhelm) Kleiner Tipp für alle Väter, die mehr sein möchten als Erzeuger: Lest „Brigitte Mom“! Das wird euch helfen, eure Frauen zu verstehen.
„Retrowelt“
Von Wilhelm Schnibben
„Magazin für Lebensart und Fahrkultur“, Vierteljahresheft, Nummer 12, 122 Seiten, davon 11 Seiten Anzeigen. Retro Messen GmbH. 9,80 Euro.
Inhalt: 9 Fotostrecken mit begleitendem Text in Deutsch und Englisch, 7 Meldungsseiten.
Gestaltung: dickes Papier, vom Foto dominiertes Layout.
„Retrowelt“ ist ein Magazin, das man früher Coffee-Table-Magazin nannte. (Oder noch nennt?) Ein Heft, in dem man gern blättert, um zu schauen und en passant zu lesen. Fast alle Texte drehen sich um alte Autos; ein Artikel um individuelle Vermögensverwaltung, einer um den Orient-Express, einer um das Grundgesetz. („Um das Grundgesetz? Was hat das Grundgesetz mit Oldtimern zu tun – weil es 70 Jahre alt ist?“ / Cordt)
Ich fahre einen über 35 Jahre alten Mercedes 280 SL Roadster, Baureihe 107, ferrarirot, als Cabrio und als Coupé zu fahren. Jeden Tag zeigen mir Passenten und Autofahrer durch hochgeklappte Daumen und hochgezogene Augenbrauen, dass mein Auto für sie mehr ist als ein PKW. („Okay, aber warum muss einer mit so einem Angeber-Auto auch noch eine Angeber-Zeitschrift lesen?“ / Georg)
Für Leser der „Retrowelt“ ist dieser Youngtimer natürlich nicht ernst zu nehmen, in ihrem Magazin geht es um den Mercedes 300 SL mit Flügeltüren von 1955 oder um Neo Classics wie den Ferrari 488 GTB oder den 600 PS starken McLaren 600 LT. („Wie viel kosten die, was blasen in die Luft?“ / Georg)
Wer interessiert sich für den sizilianischen Schumacher „Ciccio“ Liberto, der für alle großen Rennfahrer von Jackie Ickx über Niki Lauda bis Sebastian Vettel Schuhe fertigte, auch für den Schauspieler und Lauda-Darsteller Daniel Brühl oder für Romy Schneider? Und wer will etwas wissen über das Oldtimer-Rennen Mille Miglia, das drei Tage dauert und so manchen Oldtimer nur geschoben das Ziel erreichen lässt? Ich.
„electrified“
Von Cordt Schnibben
„Magazin für zeitgemäße Mobilität“, Vierteljahresheft, Januar-Ausgabe, 100 Seiten, davon 7 Anzeigenseiten. Electrified Media GmbH. 5,20 Euro.
Inhalt: eine Fotostrecke, 9 längere Artikel, 5 Meldungsseiten.
Gestaltung: zwei Papiersorten, durchgestaltetes Layout, eigene Foto-Sprache, Illustrationen.
Wenn eine Zeitschrift neidisch macht, weil man gern zu den Machern gehören möchte, muss man eigentlich nicht mehr viel sagen. In den Achtzigern ist mir das passiert, als ich das erste „Tempo“-Heft in die Finger bekam, und dann noch mal Ende der Neunziger, als ich Blattkritiker bei „Econy“ war, dem Vorgänger von „Brand Eins“.
„electrified“ ist mit „Tempo“ und „Econy“ nicht zu vergleichen, dem Heft fehlt die optische, journalistische und textliche Qualität der beiden anderen Hefte. Aber „electrified“ könnte das Denken verändern, es thematisiert den radikalen Umbau einer Gesellschaft, die ökologischer, nachhaltiger und klüger werden muss, um eine menschliche Zukunft zu haben.
Im Mittelpunkt aller Artikel: der neue Mensch, der sein Leben dem Wissen unterordnet, das heutzutage in vielen Köpfen herumschwirrt, aber bisher bei zu wenigen Leuten das Leben verändert hat. („Klingt nach einem Zentralorgan der Ökodiktatur!“ / Wilhelm)
Die „zeitgemäße Mobilität“ im Untertitel des Magazins steht nicht nur für Fortbewegung sondern auch für Bewegung im Kopf: Ernährung, Lifestyle, Kleidung soll neu gedacht werden: Esst weniger Fleisch! Tragt mehr Secondhand-Klamotten! Zieht Konsequenzen aus dem, was ihr wisst! („Der in allen Artikeln mitschwingende Appell an den ökologischen Menschenverstand macht das Lesen zur Gehirnwäsche.“ / Wilhelm)
Fünf Artikel beschreiben Testfahrten mit Elektroautos, vier Artikel beschäftigen sich mit Entwicklungen in Autofirmen. („Sollte ökologisch denkenden Leuten nicht klar sein, dass die Zeit des Autos abläuft? Und wie viele dieser Texte sind durch Firmen gekauft?“ / Georg)
Ein Text thematisiert die mobile Zukunft in Städten; und im Interview mit dem Chef des digitalen Geschäftszweiges der Deutschen Bahn darf der Chef von ioki Alternativen zum Individualverkehr preisen; auf einer Fahrt in einem Elektromobil von CleverShuttle erörtert die Greenpeace-Chefin die Bedingungen für glaubwürdigen Klimawandel. („Mehr Ideologie als Sachverstand.“ /Wilhelm)
Auf den Meldungsseiten bieten die Texte Einblicke in ein künftiges Leben, das schon jetzt ausprobiert wird: das Elektro-Motorrad aus dem 3D-Drucker; neue Elektro-Boards; der Ford Mustang als 408-PS-Elektromonster; die Digitalisierung des Porsche; die Rennboliden in der Formel E. („Geht’s noch? Schwachsinniger Elektro-Luxus für Leute, die ihr bisheriges Leben nicht ändern wollen, sondern sich ein Öko-Käppi aufsetzen, um stolz als neuer Mensch im Elektro-Cabrio durchs Leben zu brausen!“ / Georg)
Die spannende Botschaft von „electrified“: Wenn das nachhaltige Denken auch von ganz oben in die Gesellschaft sickert, könnte es zum Mainstream werden, der die Gesellschaft tatsächlich verändert. Die hohen Sympathiewerte für die Grünen, die bisher zu einem großen Teil vor allem Ausdruck sind für das schlechte Gewissen von Leuten, die wissen, dass sie ihr Leben ändern müssten, aber sich bisher damit begnügen, die Veränderung an die Grünen zu delegieren, könnte sich ausweiten zu einer schwarz-grünen Realpolitik. („Oh Gott, dann lieber Merkel!“ / Wilhelm – „Wie wäre es, wenn Du mal damit anfängst, deinen Mercedes still zu legen?“ / Georg)
4 Kommentare
Wird Herr Schnibben immer drei Zeitschriften gleichzeitig kommentieren? Wenn ja, ist das auf Dauer vllt. etwas unübersichtlich.
Und der „sizilianische Schumacher“ müsste doch „Schuhmacher“ geschrieben werden, oder?
Das ist Cordts Anfängerehrgeiz, der legt sich, ist auch zu teuer, mal wird er schreiben, mal ich, mal Wilhelm, aber wir werden immer dem anderen in dessen Text fallen, wenn nötig. Schumacher kann man als Fehler sehen oder als Einfall, jeden Text kann man wie ein Hologramm betrachten. Georg
Gleich drei Hefte und auch mal ein paar Rahmendaten nüchtern vorangestellt – klasse! Schöner Einstand, musste sehr schmunzeln bei der Lektüre der Einleitung und hoffe, die neuen, frischen Perspektiven bleiben Ihnen lange erhalten.
Auf Dauer sind die Zwischenrufe der anderen Ichs aber in der Tat etwas … unübersichtlich, wie es #1 so schön formuliert. Ich wage daher nochmal, bei Fortsetzungsabsicht der drei Herren Cordt, Georg und Wilhelm, sanft das Thema Fußnoten in den Raum zu schubsen.
Herr Schnibben,gut Sie an Bord zuhaben.
Willkommen!
Und was dem einen Übersichtlichkeit,ist dem anderen Aufforderung zum freudigen Genau-Hin-Guckens und Nicht-Einfach-Wech-Lesens!
Wird Herr Schnibben immer drei Zeitschriften gleichzeitig kommentieren? Wenn ja, ist das auf Dauer vllt. etwas unübersichtlich.
Und der „sizilianische Schumacher“ müsste doch „Schuhmacher“ geschrieben werden, oder?
Das ist Cordts Anfängerehrgeiz, der legt sich, ist auch zu teuer, mal wird er schreiben, mal ich, mal Wilhelm, aber wir werden immer dem anderen in dessen Text fallen, wenn nötig. Schumacher kann man als Fehler sehen oder als Einfall, jeden Text kann man wie ein Hologramm betrachten. Georg
Gleich drei Hefte und auch mal ein paar Rahmendaten nüchtern vorangestellt – klasse! Schöner Einstand, musste sehr schmunzeln bei der Lektüre der Einleitung und hoffe, die neuen, frischen Perspektiven bleiben Ihnen lange erhalten.
Auf Dauer sind die Zwischenrufe der anderen Ichs aber in der Tat etwas … unübersichtlich, wie es #1 so schön formuliert. Ich wage daher nochmal, bei Fortsetzungsabsicht der drei Herren Cordt, Georg und Wilhelm, sanft das Thema Fußnoten in den Raum zu schubsen.
Herr Schnibben,gut Sie an Bord zuhaben.
Willkommen!
Und was dem einen Übersichtlichkeit,ist dem anderen Aufforderung zum freudigen Genau-Hin-Guckens und Nicht-Einfach-Wech-Lesens!