Bahnhofskiosk

Wo „Kartografik“ mehr ist als nur kein Wort

Die nach unten offene Skala der schlechtesten Zeitschriftentitelzeilen ist ab sofort geschlossen. Ich weiß, dafür muss man eigentlich einen Antrag einreichen in Hogwarts oder beim Verband der Zeitschriftenverleger oder was weiß ich, aber ich kann mit Überzeugung sagen, ich habe den Sieger gefunden. Die Titelzeile auf der aktuellen Ausgabe von „Katapult – Magazin für Kartografik und Sozialwissenschaft“ ist: „Staaten umbenannt in Länder mit ähnlicher Wirtschaftsleistung“, und klein dahinter noch „BIP“.

Das ist als Zeile wahnsinnig schlecht. Es ist in Wahrheit auch keine Titelzeile, sondern einfach eine viel zu groß gedruckte Bildlegende. Was wiederum nur halb überrascht, denn erstens ist das Titelbild eine erklärungsbedürftige Kartografik, zweitens ist Kartografik gar kein richtiges Wort, und drittens gibt es dann doch eine große Überraschung, was technisch gesehen bedeutet, dass dieser Punkt nicht als drittens in die Reihe gehört hätte, aber wir brechen jetzt hier einfach mal mit allem, was sich gehört: Das ganze Ding fügt sich insgesamt zu einem großartigen, schlauen Gesamtkunstwerk.

„Staaten umbenannt in Länder mit ähnlicher Wirtschaftsleistung (BIP)“ ist eine Europakarte, auf der Norwegen Griechenland heißt und Italien Mexiko und Deutschland Afrika. Ja, Afrika, und wer jetzt vor sich hindenkt „ha, Afrika ist doch gar kein Staat! Diese Muddelfuddels!“, der freut sich darüber, den Fehler gefunden zu haben genau bis zum Editorial auf Seite fünf, das beginnt mit dem Satz: „Verspüren Sie auch das Bedürfnis, uns für dieses Cover eine Mail mit dem Betreff: ‚Afrika ist kein Land‘ zu schreiben?“ Die machen das mit Absicht. Oder, wie es ein wunderschönes Meme in diesem Internet sagt: „The thing about smart motherfuckers: They look like crazy motherfuckers to stupid motherfuckers“. Ich hatte „Katapult“ bis gestern noch nie gesehen. Es sah für mich crazy aus. Jetzt fühle ich mich blöd.

Das Heft beschäftigt sich mit allen möglichen internationalen sozialwissenschaftlichen und -politischen Fragen: Gibt es weniger Kriege, wenn Frauen in einer Gesellschaft mehr zu sagen haben?* Wie verändert die Digitalisierung die Demokratie (und ist Frauke Petry eigentlich ein Bot)?** Wie kann es sein, dass der Protestantismus den Kapitalismus beflügelt hat, obwohl Luther ein Kapitalismusgegner war?*** Lauter so wunderbare Fragen, und dazu Erklärrubriken wie „Wer sind die Wirtschaftsweisen“ und Wirtschaftstheorien richtig schnell und ziemlich lustig erklärt im „Wirtschaftslexikon für Klugscheißer“ – und natürlich oft unterlegt mit eindrucksvollen Kartografiken. Das ist alles ein Hammer.

Ich kann auch meckern. Kann ich immer. Manche Texte sind auf fast lustige Weise dröge, einer fängt an mit: „Laut Serge Halimi, Chefredakteur der ,Le Monde diplomatique’, habe eine neue Studie bewiesen, dass die neoliberale Politik der letzten Jahre kein starkes Wirtschaftswachstum verursacht hat. Sie sei lediglich von wachsender Ungleichheit begleitet worden. Das stimmt fast.“ Man muss das lieben, oder? „Laut XXX“ ist sowieso schon die zweitschlechteste Art zu sagen, dass jemand etwas gesagt hat****, aber dann diese ganze indirekte Rede und dahinter steht trocken „Das stimmt fast“? Wahnsinnig gut. Wäre ich Serge Halimi würde ich den Autor seinen Text gerne essen lassen*****. Freude herrscht.

Im Editorial, das ich oben schon angerissen habe, erklärt der Chefredakteur von „Katapult“ ausführlich und aus Anlass des einjährigen Jubiläums dieses „Magazins für Kartografik und Sozialwissenschaft“ (das ist so lustig! Und Kartografik immer noch kein Wort!), warum die Redaktion in Greifswald sitzt und dass man 4.000 Abonnenten braucht, um endlich die Redakteure einigermaßen normal bezahlen zu können. Ich kann das selbstverständlich nur denjenigen Lesern hier ans Herz legen, die bereits ein Übermedien-Abo abgeschlossen haben oder es sofort hier tun, denn wir brauchen auch 4.000 Abonnenten oder so, aber der Trend geht ohnehin zum Zweitabo, und bei „Katapult“ macht man nichts grundlegend verkehrt und hat wahrscheinlich ziemlich viel Spaß damit.

Ich denke jetzt seit geraumer Zeit darüber nach, warum das Ding „Katapult“ heißt, und ich komme nicht drauf. Heimlich hoffe ich, der Name hat einfach gar keinen tieferen Sinn.

Katapult
Katapult gUG (haftungsbeschränkt)
5,80 Euro

*) ja
**) tendenziell ja
***) Das ist mir hier zu kompliziert
****) die schlechteste ist „so XXX“
*****) Allerdings wäre ich dann bei „Le Monde diplomatique“, und ich glaube, die machen sowas nicht.

11 Kommentare

  1. Sehr schön. Bisher war diese Kolumne für mich nur (gute) Unterhaltung, aber seit heute hat sie zudem einen echten Nutzwert. Ohne sie wäre ich wohl nie auf KATAPULT gestoßen. Was echt schade gewesen wäre, denn es scheint tatsächlich ein ziemlich cooles Magazin zu sein. Wovon sich auf der Website übrigens jeder selbst überzeugen kann. Es gibt also doch noch neue, originelle Ideen für Medienprodukte. Gut zu wissen. Danke für den Tipp!

  2. Danke Axel nun habe ich tatsächlich eine Stunde auf deren Webseite gelesen. Das ist jetzt schon Satire oder?
    Meine Highlights: Der Steckbrief von Frau Daum
    und der Satz aus der Jubiläumsausgabe (4. Heft):
    „Heute sind wir das weltweit größte und erfolgreichste Magazin für Kartografik und Sozialwissenschaft. „

  3. @ KAKAPO3: Wer, ich? Satire? Mein Kommentar? Oder die KATAPULT-Inhalte? Ich denke, weder noch (also, bei meinem Kommentar bin ich mir sogar sicher). Man nimmt sich dort selbst und auch sonst nicht alles immer bierernst, das stimmt – und trägt zu meinem guten Eindruck bei -, aber im Großen und Ganzen ist es wohl schon ernst gemeint. Mir gefällt das Konzept. Mal mehr, mal weniger nützliches, aber meist interessantes Wissen, allgemeinverständlich aufbereitet und mit schönen Schaubildern – pardon, Kartografiken – illustriert. Letztere kann man auch als Poster kaufen (überlege noch). Angeblich gibt es sogar eine App für iOS, was ich mangels entsprechender Apparaturen jedoch nicht verifizieren kann.

    Es wird sicher nicht leicht, ein solches Projekt dauerhaft zu finanzieren, selbst wenn es gemeinnützig ist, aber ich drücke sämtliche zur Verfügung stehende Daumen und werde einen klitzekleinen Teil dazu beitragen.

    Ach so, Steckbriefe habe ich keine gefunden (möglicherweise begünstigt durch den Umstand, dass ich auch keine gesucht hatte).

    PS: Der Name KATAPULT hat wohl keine tiefere Bedeutung. Fanden sie halt irgendwie gut.

  4. Aus aussergewöhnlich gut informierten Quellen hatte 1er vor,das Magazin „KaRtapult“ zunennen. Er wurde gebeten bei DJT Anzeichen von Intelligenz zuverorten?!

  5. das heft hatte ich aus ähnlichen gründen vor ein paar wochen in einem provinzbahnhof() erstanden und bin ebenso ähnlich zerissen.

  6. Ich habe ja immer Angst, dass die Auflösung nur die Erinnerung zweier Redakteurs an ihre gemeinsame Grundschulfreundin Katharina ist. „Weißt du noch, wie sie in Mathe bei Frau Gernhardt – Lebt die eigentlich noch? – den Regenwurm aus ihrem Gehörgang geholt hat und wir alle brüllten: ‚Iiieh, guck mal, Kata pult.'“

  7. Ich muss gestehen, ich bin viel zu selten auf übermedien unterwegs. Aber wenn ich hier bin und lese*, dann weiß ich sofort wieder, warum ich jeden Monat diesen lächerlich kleinen Beitrag dafür leiste.
    * Gemeint sind die Artikel dieser Kolumne, die ich dann im Archiv chronologisch rückwärts durchgehe.

  8. Ich verstehe das auf der Seite so, dass man die nur in Papier abonnieren kann?
    Hab mir nicht die Zeit genommen, das genauer zu ergründen, aber ich versteh sowas nicht. Sogar wenn ich akzeptiere, dass es Leute gibt, die das wollen, muss es doch wohl zumindest so sein, dass die Gruppe derer, die es nicht wollen, auch nicht ganz vernachlässigbar ist? Oder?

  9. Gleich abonniert. Erstes Fazit nach Lieferung der bereits erschienenen vier Ausgaben: jeden Cent wert. Die Texte sind teilweise wirklich zäh zu lesen, ähneln eher einer Uni-Hausarbeit als einem journalistischen Beitrag, aber die Mischung aus Text und Grafik, und unabhängig davon auch aus Tiefe und Oberflächlichkeit, ist voll und ganz stimmig.

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