Wieso ist das so (24)

Wieso gibt es keinen neutralen Journalismus?

Tagesschau hinter den Kulissen
Foto: IMAGO / Funke Foto Services

Guter Journalismus sollte sich auf keine Seite schlagen – so das Ideal. Dennoch wird Medien oft fehlende Objektivität und Parteinahme vorgeworfen. Manche Menschen wünschen sich auch, dass Medien komplett neutral berichten. Aber wie realistisch und wie wünschenswert ist dieser Anspruch überhaupt? Und warum kann man sich der Objektivität leichter nähern als der Neutralität? Darüber haben wir mit dem Mainzer Journalistik-Professor Tanjev Schultz gesprochen, der erklärt, welche Art der Wertung wichtig ist und wann Ausgewogenheit falsch verstanden wird.


Übermedien: Herr Schultz, welches Medium sollte ich konsumieren, wenn ich mich möglichst sachlich und objektiv informieren will?

Tanjev Schultz: Es ist gut, mehrere Medien zu konsumieren, um eine Breite an Informationen zu bekommen. Ein guter Anfang wäre eine überregionale Zeitung wie die „Süddeutsche Zeitung“ oder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ plus die „Tagesschau“.

Journalismus soll objektiv und neutral sein – für viele ist das ein Qualitätsanspruch an den Journalismus. Aber geht das überhaupt?

Es ist unmöglich, absolute Objektivität oder Neutralität herzustellen. Es ist auch die Frage, ob das überhaupt wünschenswert wäre, manche bestreiten das. Ich persönlich halte das Objektivitätsideal weiterhin für wichtig im Journalismus, und übrigens auch in der Wissenschaft. Ich sehe aber einen Unterschied zwischen Neutralität und Objektivität.

Was ist der Unterschied?

Neutral würde bedeuten, die Welt so abzubilden, wie sie ist. Das ist schon deshalb unmöglich, weil Journalismus auswählt. Was ist wert, berichtet zu werden? Hinter jeder Auswahl verbergen sich Wertentscheidungen. Neutralität zu fordern, kann zudem bedeuten, dass sämtliche Positionen zu einem Thema ohne Wertung und Gewichtung wiedergegeben werden, zum Beispiel Positionen der AfD so wie die aller anderen Parteien. Die Aufgabe von Journalismus sollte es aber sein, auch zu prüfen, ob etwas stimmt oder nicht, ob behauptete Fakten zutreffen und welche Effekte politisches Handeln hat. Journalismus ist nicht nur ein Mikrofon, das andere benutzen. Deshalb wäre es auch verfehlt, „Ausgewogenheit“ in dem Sinne zu verlangen, dass alle gleich viel Zeit, Platz, Kritik und Lob bekommen.

Viele erwarten vom Journalismus, unparteiisch zu sein.

Stimmt, es gibt aber erstens eine lange Tradition einer mehr oder weniger parteiischen Presse. Und die kann für öffentliche Debatten belebend sein, solange sie nicht einfach nur PR und Propaganda fürs eigene Lager betreibt. Zweitens kann auch von Redaktionen, die unparteiisch sein wollen, nicht verlangt werden, dass sie alle Akteure genau gleich behandeln. Stellen wir uns einen Schiedsrichter vor, der ja auch unparteiisch sein soll. Gibt er einem Team eine gelbe Karte, tut er das nicht automatisch auch beim anderen Team, nur, um ausgewogen zu handeln. Er folgt bestimmten Regeln. Übertragen auf den Journalismus heißt das zum Beispiel, dass souveräne Redaktionen Donald Trump völlig zu Recht rote Karten zeigen. Beim TV-Duell zwischen Trump und Harris wurde von Republikanern beklagt, dass die Moderation Trump häufiger korrigiert und widersprochen habe als Harris. Kein Wunder: Weil er auch öfter gegen die Regeln einer vernünftigen demokratischen Debatte verstoßen hat.

Welche Regeln sind für den Journalismus denn wichtig?

„Höre die andere Seite!“ Aber nicht im Sinne falscher Ausgewogenheit, sondern als Gebot der Fairness und als Korrektiv für zu enge Perspektiven. Was sagen andere zu einem Ereignis, zu einem Vorwurf, einer Entwicklung? Eine weitere wichtige Regel für den Nachrichtenjournalismus ist die Trennung von Information und Meinung. Auch wenn es keine völlig wertneutralen Beiträge gibt, sollte es doch, wenn ich nachrichtlich über einen Parteitag der SPD berichte, nicht darum gehen, ob ich als Journalist die Ideen dieser Partei gut oder schlecht finde. Ich soll berichten, wer welche Rede gehalten hat und welches Programm verabschiedet wurde.

Und was ist nun mit der Objektivität?

Das Ideal der Objektivität verlangt, dass ich als Journalist versuche, mich so weit wie möglich von meinem eigenen Standpunkt zu lösen und andere Perspektiven einzunehmen. Ich muss versuchen, mögliche Vorurteile und Beschränkungen in meiner Sicht zu überwinden, andere Meinungen zu hören, andere Erfahrungen zu berücksichtigen und über sie zu berichten. In nachrichtlichen Formaten geht es darum, mich in die Lage anderer zu versetzen und zu fragen: Was ist für mein Publikum oder überhaupt für die Gesellschaft wichtig zu wissen? In Meinungsbeiträgen geht es darum, nicht einfach meinen Affekten freien Lauf zu lassen, sondern das Gemeinwohl vor Augen zu haben. Nehmen wir an, ich würde als Journalist auch persönlich von einer Erhöhung des Kindergelds profitieren. Dennoch schreibe ich vielleicht in einem Kommentar, eine Erhöhung wäre politisch falsch, weil das Geld dann zu sehr mit der Gießkanne verteilt werden würde.

In der Kommunikationswissenschaft gibt es das Bild von einem Nashorn, das bei jedem Bild, das es malt, sein eigenes Horn mit malt. Das heißt: Journalisten haben auf ein Thema immer ihre persönliche Perspektive. Kann man das durch professionelle Arbeit ausgleichen?

Ich denke schon, dass man sich Objektivität zumindest annähern kann. Ich verstehe Objektivität ja so, dass wir uns von unserer eigenen Perspektive lösen und sie erweitern. Ich sollte auch stets hinterfragen, ob das Offensichtliche wirklich das ist, was den Kern der Sache trifft. Wenn ich Wassertropfen an meinem Fenster runterlaufen sehe, könnte ich einfach sagen, dass es regnet. Ich könnte aber auch ein bisschen mehr recherchieren und feststellen, dass die Nachbarin über mir die Blumen gießt. Bei vielen Themen ist das allerdings etwas komplizierter, weil es auch um Interpretationen von sozialen Verhältnissen geht.

Zum Beispiel beim Krieg im Nahen Osten. Da wird den deutschen Medien regelmäßig vorgeworfen, sie würden nicht objektiv berichten und die Perspektive Palästinas zu oft weglassen.

Das ist ein treffendes Beispiel, weil hier die Diskussion auf verschiedenen Ebenen stattfindet: Auf der einen Ebene bilden Medien viele Fakten und Details von dem ab, was in Israel und Gaza passiert. Selbst wenn das keine Falschinformationen sein sollten, die Fakten also stimmen, könnte sich auf einer übergreifenden Ebene ein unstimmiges Bild ergeben. Weil man es nicht schafft, die einzelnen Fakten zum perfekten Mosaik zusammenzusetzen. Wie die Realität erfasst und gedeutet wird, hängt stark davon ab, welche Aspekte ich groß und welche ich klein mache und welche Bedeutung ich ihnen beimesse. Und genau das führt auch bei anderen Themen immer wieder dazu, dass Leute sagen, Journalismus sei nicht objektiv.

Wie sollte man als Journalist denn damit umgehen? Man hat da ja schon eine gewisse Macht, indem man entscheidet, welchen Fakten man welche Bedeutung beimisst.

Wichtig ist, diese Macht nicht auszunutzen und bereit zu sein, sich und die eigene Berichterstattung in Frage zu stellen. Es gibt ja oft noch so eine Machtattitüde von Journalisten, nach dem Motto: Wir wissen schon, was hier los ist. Das ist das alte Denken im Journalismus, der meint, er allein habe die Deutungshoheit. Aber das war schon immer falsch. Man muss sich der Kritik von außen aussetzen. Mittlerweile gibt es ja durch Social Media mehr öffentliche Akteure als nur die etablierten Medien, sodass deren Berichterstattung auch mehr widersprochen wird.

Woher weiß ich, wie viel Meinung ich von einem Artikel oder einem Format erwarten kann? Über einem Kommentar steht immer „Meinung“, bei einer Reportage ist aber schon nicht mehr ganz klar, wie viel Meinung da tatsächlich drinsteckt.

Ich fürchte, da gibt es eine große Verwirrung bei vielen Menschen. Das unterschätzen Journalisten oft. Es gibt wenig Wissen über Darstellungsformen und wie viel da erlaubt ist. Das beginnt schon damit, dass Medien wie der „Spiegel“ schon immer Analyse und Meinung in Texten vermischt haben, anders als eine dpa-Meldung oder ein klassischer Zeitungsaufmacher. Aber auch eine Moderation des „heute journals“ oder der „Tagesthemen“ ist immer eine Einordnung und oft sind dort Meinungspartikel drin. Man bräuchte im Prinzip eine Gebrauchsanweisung für jedes Format. Und mehr Medienkompetenz, was ja viel beschworen, aber noch immer zu wenig gefördert wird. Und natürlich müssen sich Redaktionen hinterfragen, ob sie nicht selbst zu dieser Verwirrung beitragen oder die Vermischung von Meinung und Nachricht manchmal missbrauchen.

Das junge Netzwerk „funk“ macht das bei Reportage-Formaten oft transparent und zeigt die subjektive Sicht des Reporters auf das jeweilige Thema sehr offen. Ist das eine gute Idee, um damit umzugehen?

Grundsätzlich schadet Transparenz ja selten. Gleichzeitig kann es die Verwirrung noch mehr steigern, wenn es manche transparent machen und andere nicht. Es kann auch zur Attitüde werden: Dieses betont Subjektive wirkt manchmal ein bisschen gefakt, wenn man es als bloßes Erzählelement verwendet.

Jeder Mensch hat zu bestimmten Themen sehr gefestigte Haltungen. Sollte man es zum Beispiel als lesbische Journalistin vermeiden, über queere oder anti-queere Themen zu berichten?

Das ist Quatsch, natürlich kann man darüber berichten. Wir sind ja alle auch Menschen: Wir sind Väter und Mütter und schreiben über Erziehung und über Bildungsthemen, wir gehen wählen und schreiben über Parteien. Aber genau das ist die Idee vom Objektivitätsideal, hier in Distanz zu den eigenen Einstellungen zu gehen. Das heißt nicht, dass man die alle für unvernünftig hält und verwirft.

Manche Journalisten wollen ihre Meinung bewusst nicht aus ihrer Arbeit herauslassen und sehen sich häufig dem Vorwurf des Haltungsjournalismus ausgesetzt. Was halten Sie davon?

Haltungsjournalismus ist ein Kampfbegriff geworden. Da bin ich erstmal skeptisch, weil er nur dazu benutzt wird, um missliebige Meinungen oder bestimmte Menschen in den Medien damit zu belegen. Wenn Journalisten betont auf ihre subjektive Perspektive bestehen, kann das durchaus ein belebendes Element sein. In einer pluralen Medienlandschaft mit Medien wie der „Tagesschau“ oder der dpa, auf die sich alle als gemeinsame Basis verständigen, die sich um Objektivität bemüht, sollte es noch Platz für vieles andere geben.

Aber wird es zum Problem, wenn sich bekannte öffentlich-rechtliche Journalisten wie Dunja Hayali, Georg Restle oder Anja Reschke explizit und offen zu ihrer Meinung bekennen? Ihnen wird vorgeworfen, dass ihre eigene Weltanschauung zu viel Einfluss auf ihre Berichterstattung nehmen würde. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ja durch den Staatsvertrag zur Objektivität verpflichtet.

Diese Verpflichtung bezieht sich auf das Gesamtprogramm. Dass es auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk meinungsorientierte Formate und Personen gibt, die für bestimmte Dinge stehen, ist jetzt erstmal kein Widerspruch.

Machen es sich Redaktionen damit nicht ein bisschen zu leicht? Wer hat denn das gesamte Output des Öffentlich-Rechtlichen im Blick oder Zeit, jeden Tag eine Stunde Zeitung zu lesen?

Da ist wohl was dran. Man kann natürlich lange darüber streiten, ob im Gesamtprogramm der Öffentlich-Rechtlichen Sichtweisen fehlen. Aber ich bin auch kein Freund davon zu sagen: Wir haben hier jetzt eine eher linke Kolumne, also brauchen wir jetzt auch eine konservative Kolumne. Das wird schnell erwartbar. Grundsätzlich finde ich, Journalismus sollte für Überraschungen gut sein. Deshalb finde ich es spannend, wenn zum Beispiel eher linke Journalisten mit bestimmten Positionen und Akteuren des linken politischen Spektrums hadern. Das macht doch guten Journalismus aus, auch dem eigenen Lager weh zu tun, wenn es notwendig ist. Vielleicht geschieht das noch zu wenig.

4 Kommentare

  1. @#1 Nutze ich tatsächliche ab und zu. Für internationale Nachrichten sehr interessant. Für deutsche Nachrichten eher weniger.

  2. „Deshalb wäre es auch verfehlt, „Ausgewogenheit“ in dem Sinne zu verlangen, dass alle gleich viel Zeit, Platz, Kritik und Lob bekommen.“
    Auch, wenn das irgendwelche Trump-Fans vllt gerne hätten, aber die meisten Menschen verstehen unter „Neutralität“, „Objektivität“ oder auch „Ausgewogenheit“ bei Medien jetzt nicht, dass alle gleich viele „rote Karten“ bekommen.

  3. Möchte niemanden zu Nahe treten, aber ich sehe hier keinen Gedanken, den man nicht selbst vermittels allgemeinen Menschenverstand entwickeln kann bzw schon entwickelt hat – so ganz ohne professuralen Hintergrund.

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