Welche juristischen Reaktionen auf den zivilen Ungehorsam der Letzten Generation sind verhältnismäßig? Ist nicht auch unbequemer Protest durch unsere Verfassung geschützt, wie es die Leipziger Strafrechtsprofessorin Katrin Höffler gegenüber dem Magazin von Amnesty International Deutschland sagt?
Im vergangenen November schien das Landgericht München I bereits eine Antwort auf diese Fragen zu haben. „Landgericht stuft Letzte Generation als kriminelle Vereinigung ein“, lautete jedenfalls eine Überschrift bei „Zeit Online“ dazu. Das Landgericht befasste sich seinerzeit mit Beschwerden von betroffenen Mitgliedern der Letzten Generation gegen Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse, die das Amtsgericht München genehmigt hatte – und wies diese Beschwerden schließlich zurück. Die Beschlüsse und damit die Durchsuchungen seien „verhältnismäßig“ gewesen.
Gleich fünf Rügen des Presserats
Wie einige Medien über diese Entscheidung berichteten, ist allerdings diskussionswürdig. Der Presserat hat „Zeit Online“ für die Headline „Landgericht stuft Letzte Generation als kriminelle Vereinigung ein“ öffentlich gerügt. Für die Verwendung dieser Überschrift bzw. fast wortgleicher Formulierungen rügte der Presserat außerdem fünf weitere Redaktionen: die „Rheinische Post“ sowie die Online-Ableger von „Bild“, „B.Z.“ „Welt“ und „Sächsischer Zeitung“.
Über Rügen
Die Entscheidungen des Presserats finden, von wenigen spektakulären Ausnahmen abgesehen, selten große Aufmerksamkeit. Dabei wäre das eine der besten Wirkungen, die sie auslösen können: eine breite öffentliche Debatte. Wir befassen uns daher in dieser Rubrik mit interessanten Fällen.
Mit dem Presserat kontrolliert die deutsche Presse sich selbst. Getragen wird der Presserat von Journalisten- und Verlagsverbänden. Das Gremium prüft nach Beschwerden, ob Beiträge gegen den Pressekodex verstoßen. Es hat aber keine Sanktionsmöglichkeiten, sondern kann nur Hinweise, Missbilligungen oder Rügen aussprechen. Rügen sollte das betroffene Medium selbst veröffentlichen.
Warum hat sich der Presserat in diesen Fällen für die härteste Sanktion entschieden, die ihm zur Verfügung steht? Von zentraler Bedeutung ist hier der Umgang der gerügten Medien mit dem Begriff „Anfangsverdacht“.
Ein „Anfangsverdacht“ ist kein Urteil
Das Landgericht München hatte seine Entscheidung in einer Pressemitteilung unter anderem folgendermaßen begründet: „Das Amtsgericht sei zurecht davon ausgegangen, dass ein Anfangsverdacht dafür bestehe, dass die ‚Letzte Generation‘ eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 StGB bildet.“ Anschließend ist in der Mitteilung zu lesen, was aus Sicht des Gericht für diesen Anfangsverdacht spricht.
Der Presserat argumentiert daher, die Artikel-Überschrift „Landgericht stuft Letzte Generation als kriminelle Vereinigung ein“ verletze die „journalistische Sorgfaltspflicht“. Sie treffe die „falsche Aussage, dass das Landgericht die ‚Letzte Generation‘ als kriminelle Vereinigung eingestuft habe“ – obwohl das Gericht „lediglich den Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung als gegeben sah“. Die Aussage in der Überschrift gehe „weit über den tatsächlichen Inhalt des Urteils hinaus“.
So heißt es in der Entscheidung zur Berichterstattung von „Zeit Online“. Die ausführlichen Entscheidungen in den anderen fünf Fällen hat der Presserat bisher noch nicht veröffentlicht, er ist auf die Argumentation aber kurz in einer Pressemitteilung eingegangen. Im Kern unterscheiden sich die Fälle demnach nicht.
„PR-Super-GAU“ für die Letzte Generation
Dass der Presserat in diesen konkreten Fällen die fehlende Sorgfalt kritisiert, taugt als Fingerzeig für die Gesamtberichterstattung über die Letzte Generation. Die Haltung zu den Protesten in der Bevölkerung ist derart emotional aufgeladen, dass eine unpräzise Berichterstattung fatale Folgen haben kann. Bei „Bild“, „Zeit Online“ und „B.Z.“ sind die gerügten Überschriften bis heute online, während sie auf den anderen Portalen geändert wurden.
„Für uns waren diese Überschriften der PR-Super-GAU“, sagt Raphael Thelen, Aktivist der Letzten Generation, im Gespräch mit Übermedien. Die Erfahrung zeige, dass sich „solche Falschdarstellungen nie wieder einfangen“ ließen. Der frühere „Zeit“- und „Spiegel“-Autor Thelen hatte zum Jahreswechsel 2022/2023 dem Journalismus den Rücken gekehrt, um für die Klimaschutzorganisation tätig zu sein.
Zuerst auf die Rüge reagiert hat „Zeit Online“. Managing Editor Markus Horeld schreibt im „Glashaus“-Blog der Redaktion: „Zeit Online und die Rechtsexperten, die uns beraten, halten die Rüge für ungerechtfertigt und die Überschrift für rechtmäßig. Denn nach der geltenden Rechtsprechung darf in einer Überschrift pointiert zusammengefasst werden, was später im Artikel differenziert geschildert wird, eine Überschrift kann also nicht isoliert betrachtet werden.“
Raphael Thelen findet es „fragwürdig, dass Markus Horeld juristisch argumentiert. Juristisch mag das sauber sein, aber es geht hier um Publizistik, und entsprechend muss man das beurteilen. Letztlich war das ein handwerklicher Fehler, der uns massiven Schaden zugefügt hat. Ich hätte mich gefreut, wenn es da eine Entschuldigung gegeben hätte.“ Thelen kennt Horeld persönlich: Er hat in den 2000er-Jahren bei ihm hospitiert.
Es geht nicht nur um Zuspitzung
Der Medienrechtsspezialist Michael Fricke aus der Kanzlei CMS Hasche Sigle, der häufig die ARD vertritt, findet die Argumentation von „Zeit Online“, eine Überschrift fasse einen Text pointiert zusammen, aus anderen Gründen nicht überzeugend: „Wenn die Überschrift eine pointierte Zuspitzung wäre, gäbe es die Diskussion nicht“, sagt er auf Anfrage von Übermedien. Denn der Presserat hat „Zeit Online“ gar keine „Zuspitzung“ vorgeworfen. Ohnehin wird man unter Journalisten und Juristen nur schwer jemanden finden, der behauptet, dass man in Überschriften nicht zuspitzen dürfe.
Zudem, so Michael Fricke weiter, gehe der im „Glashaus“-Blog verwendete Begriff „rechtmäßig“ ein bisschen am Thema vorbei. Denn: „Die Letzte Generation ist keine juristische Person“, betont Fricke. Es sei äußerst unwahrscheinlich, dass jemand im Namen der Organisation vor einer Pressekammer gegen die Berichterstattung vorgehen könne. Mit anderen Worten: Zu behaupten, das eigene Tun sei rechtmäßig, ist ziemlich leicht, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kläger auftritt, nahe null liegt.
Vorausgesetzt, eine juristische Person wäre von den vom Presserat gerügten Überschriften betroffen und würde vor Gericht ziehen, könnte die Auseinandersetzung auch auf die Frage hinauslaufen: Handelt es sich um eine falsche Tatsachenbehauptung? Oder um eine Bewertung, die als Meinungsäußerung zulässig ist?
Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung – das ist eine der klassischen Fragen in medienrechtlichen Auseinandersetzungen. Auch „nach 20, 30 Jahren Tätigkeit im Presserecht“ könne man in solchen Fällen nur schwer voraussehen, wie eine Pressekammer entscheide und wie sich die Rechtsprechung in weiteren Instanzen entwickle, sagt Fricke.
Der Hamburger Anwalt sagt auch: „Wenn ich diese Überschriften in einem gerichtlichen Verfahren zu verteidigen hätte, würde ich argumentieren, dass wir es mit einer Bewertung der Gerichtsentscheidung zu tun haben, also mit einer zulässigen Meinungsäußerung.“ Er könne aber nachvollziehen, wenn Betroffene argumentieren, dass es sich um eine falsche Tatsachenbehauptung handle.
Eine Redaktion änderte die Überschrift rechtzeitig
Die Argumentation von „Zeit Online“ hat sich auch die „Rheinische Post“ zu eigen gemacht. Am 1. Juli bezeichnete sie die Rüge in einem Artikel in eigener Sache als „ungerechtfertigt“, lieferte als Quasi-Begründung aber nur ein Zitat aus dem „Zeit-Online“-Text. Eine eigenständige Argumentation fehlt in dem Text. Darauf angesprochen, sagt ein Sprecher der „Rheinische-Post“-Mediengruppe, es gebe zu dem, was die RP-Redaktion geschrieben habe, „nichts hinzuzufügen“.
Während „Zeit Online“ und „Rheinische Post“ darauf beharren, im Prinzip nichts falsch gemacht zu haben, gibt es zumindest eine Redaktion, die die Kritik an der „Einstufung“ in den Überschriften für berechtigt hält: „beck-aktuell. Heute im Recht“, ein Portal des Sachbuchverlags C.H. Beck, hatte zunächst „LG München stuft letzte Generation als kriminelle Vereinigung ein“ getitelt, korrigierte dies aber bald und wies unter dem Text auf die Gründe für die Änderung hin. Eine Rüge vom Presserat gab es daher nicht.
Die Überschrift sei „irreführend“ gewesen, sagt Jörg von Heinemann, Chef vom Dienst bei „beck-aktuell“, auf Anfrage von Übermedien. „Um falsche Rückschlüsse aus der zu starken sprachlichen Formulierung zu vermeiden, haben wir die Überschrift geändert.“ Durch die ursprüngliche Überschrift habe man den falschen Eindruck gewinnen können, das Landgericht habe in einem Strafverfahren bereits darüber geurteilt, ob die letzte Generation eine kriminelle Vereinigung ist, und deshalb bereits ein entsprechendes Urteil gefällt. „Tatsächlich hatte das Gericht jedoch nur im Ermittlungsverfahren über einen Anfangsverdacht entschieden. Dieses Verständnis von ‚stuft ein‘ zugrundegelegt, wäre das eine falsche Tatsachenbehauptung gewesen“, sagt von Heinemann. Deshalb habe man die Headline „aus journalistischen wie auch aus juristischen Gründen“ geändert.
Von Heinemann betont darüber hinaus, dass „einstufen“ ein „unjuristischer Begriff“ sei. Er habe „keine spezifische juristische Bedeutung, anders als zum Beispiel ‚urteilen‘ oder ‚beschließen‘“. Das hat in diesem Fall Folgen für die Rezeption der Überschrift. Jurist*innen, meint von Heinemann, würden die ursprüngliche Headline gedanklich nicht „mit einem Urteil oder einem Beschluss verknüpfen“. Andere Leser*innen aber schon: „Sprachlich suggeriert ‚einstufen‘ natürlich, dass das Gericht etwas bewertet hat und daraus eine abschließende Folgerung gezogen hat. Genau das war aber hier nicht der Fall.“
„Zeit online“ spricht von „semantischem Streit“
Markus Horeld von „Zeit Online“ sagt auf Nachfrage von Übermedien, seine Redaktion habe die Formulierung „Landgericht stuft Letzte Generation als kriminelle Vereinigung ein“ im Sinne von „Das Gericht hält für“ benutzt. Das wirft natürlich die Frage auf, warum die Redaktion nicht genau diese Formulierung verwendet hat. „Das hätte man tun können“, sagt Horeld. Er sieht die Angelegenheit als einen „semantischen Streit“.
Nach Auskunft des Presserats hat neben „Zeit Online“ und der „Rheinischen Post“ bisher nur die „Sächsische Zeitung“ die Rüge zu den Überschriften veröffentlicht. Der Beitrag ist online allerdings nicht verfügbar. Bei den drei betroffenen Springer-Medien, bild.de, welt.de und bz-berlin.de, ist zu der Sache bisher noch nichts erschienen. „Wir fordern in unseren Entscheidungen von allen Redaktionen stets, die gegen sie ausgesprochenen Rügen zeitnah zu veröffentlichen und mahnen das auch mehrfach an. Wir erwarten deshalb, dass alle in dieser Sache gerügten Medien ihre Rügen in Kürze veröffentlichen werden“, sagt Sonja Volkmann-Schluck, beim Presserat Referentin für Öffentlichkeitsarbeit. Eine konkrete Frist, innerhalb der die gerügten Medien die Rüge veröffentlichen müssen, ist in der Beschwerdeordnung des Presserats allerdings nicht festgelegt. In dieser Hinsicht ist die Beschwerdeordnung also ein schwaches Schwert.
Raphael Thelen bettet seine Kritik an der Berichterstattung über die Münchener Entscheidung zur Letzten Generation in einen größeren Kontext ein: „In den Medien ist eine unkritische Haltung gegenüber der Judikative weit verbreitet – wie auch gegenüber der Exekutive, wie wir aufgrund der Berichterstattung über Polizeieinsätze wissen.“
Derzeit laufen Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften München, Flensburg und Neuruppin, die der Letzten Generation die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorwerfen. Die Leipziger Rechtssoziologin Höffler sagt, dass diese Verfahren zu einer „Stigmatisierung von Protest und zivilgesellschaftlichem Engagement“ beitrügen.
Die vom Presserat gerügten Redaktionen haben diese Stigmatisierung mit ihren Überschriften allemal verschärft.
Der Autor
René Martens ist seit vielen Jahren Medienjournalist, er berichtet für verschiedene Verlage und ist Mitautor der MDR-Medienkolumne „Altpapier“. Er gehört außerdem regelmäßig der Nominierungskommission des Grimme-Preises in der Kategorie Information & Kultur an und hat diverse Bücher über den FC St. Pauli verfasst.
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