Der Autor
Sebastian Wilken ist freier Wissenschaftler und Autor. Er liebt Zugfahren, lässt sich aber ungern Blödsinn erzählen, insbesondere von Medien. In seinem Online-Magazin „Zugpost“ schreibt er über Bahnreisen. Wilken lebt in Turku, Finnland.
Die Bahn hat es in diesem EM-Sommer nicht leicht. Nach all der Häme aus dem Ausland erschien in der Nacht zum Mittwoch beim „Spiegel“ auch noch ein Enthüllungsbericht. Das Magazin beruft sich darin auf ein „vertrauliches Schreiben der Deutschen Bahn an die Bundesnetzagentur“, in dem stehen soll, die Bahn plane, mehrere Linien im Fernverkehr aufgrund gestiegener Trassenpreise einzustellen.
Die Rede war zunächst von drei Intercity-Linien: von Karlsruhe über Nürnberg nach Leipzig (Linie 61), von Gera über Erfurt nach Köln (Linie 51) und von Norddeich über Hannover nach Leipzig (Linie 56). Zudem sollen einige touristische ICE-Verbindungen an die Ostsee in der Nebensaison ausgedünnt werden. Woraus der „Spiegel“ dann die Überschrift machte: „Bahn plant offenbar, Fernzüge zu streichen – besonders im Osten“. Alle Linien, über die der „Spiegel“ ursprünglich berichtete, haben zumindest einen Endpunkt in Ostdeutschland. Da schien es ausgemacht: Die Bahn hat es auf den Osten abgesehen.
Allerdings musste der „Spiegel“ später seine Meldung korrigieren, denn es gab eine Verwechslung: die Linie 56 von Norddeich über Hannover nach Leipzig ist gar nicht betroffen. Es handelt sich laut dem Papier um die Linie 34. Diese beginnt zwar auch in Norddeich, führt aber über Münster, Dortmund und Siegen nach Frankfurt am Main. Und das liegt bekanntlich alles: im Westen. Der „Spiegel“ besserte den Fehler aus und machte die Korrektur unter dem Text transparent. Die Überschrift „Bahn plant offenbar, Fernzüge zu streichen – besonders im Osten“ ließ er bis heute (Stand 27.6.) unverändert. Auch im Text blieb dieser Satz stehen: „Besonders betroffen sind Orte in Sachsen, Thüringen sowie Mecklenburg-Vorpommern.“
Andere Medien nahmen den Ball dankbar auf und trugen die Geschichte des „Spiegel“ mit dem Spin vom vernachlässigten Osten praktisch unverändert weiter. „Der Osten ist abgefahren“, titelte die FAZ noch am Mittwochabend, als der „Spiegel“ seine Meldung längst korrigiert hatte. „Deutsche Bahn kürzt IC-Verbindungen im Osten“, hieß es zwischenzeitlich beim Portal „T-Online“, das die Überschrift zwar änderte, im Vorspann aber weiter behauptete, dass im Osten Deutschlands „Reisende wohl bald auf einige Bahnverbindungen verzichten“ müssen. Das Onlinemagazin „Telepolis“ konstatierte: „Deutsche Bahn hängt Osten weiter ab“. Und die „Mitteldeutsche Zeitung“ fragte: „Droht dem Osten der Bahn-Kahlschlag?“
Auch wenn einige Meldungen mittlerweile nachträglich korrigiert und Überschriften geändert wurden, war der Take vom abgekoppelten Osten natürlich zu gut, um nicht auch in den sozialen Medien die große Runde zu machen. „Es wäre fatal ganze Regionen im Osten abzuhängen“, versenkte Grünen-Parteivorsitzende Ricarda Lang die Vorlage auf Twitter lässig.
Nun ist es erstmal nicht schlecht, über die Einstellung von Zugverbindungen zu berichten und sich darüber zu beschweren. Im Gegenteil: In Zeiten der Klimakrise ist jede gestrichene Verbindung eine zu viel, und Medien sollten der Bahn und ihrem Hauptanteilseigner, dem Bund, stets kritisch auf die Finger schauen. Wenn sie aber einen Vorwurf wie „Deutsche Bahn hängt Osten weiter ab“ in ihren Überschriften und Texten formulieren, sollte das zumindest von Fakten gedeckt sein.
Der „Spiegel“ hatte auch eine Karte der betroffenen Linien in seinen Artikel eingebunden, sie zeigte interessanterweise auch schon vor der Korrektur die richtige Linie 34, also die durch den Westen. Ein Blick auf diese Karte hätte genügt, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dass die Erzählung vom abgehängten Ostdeutschland irgendwie schief ist.
Die These gerät erheblich ins Wanken, wenn man sich einmal anschaut, wie viele Züge eigentlich pro Tag auf den jeweiligen Routen unterwegs sind. In der korrigierten Fassung des „Spiegel“ geht es, wie gesagt, gar nicht um die verkehrsreiche Linie 56, während die tatsächlich betroffene Linie 34 nicht durch Ostdeutschland verläuft. Linie 51 ist eine Verbindung, die nur von einer Handvoll Intercitys am Tag bedient wird, und auf der Linie 61, die erst kürzlich bis Leipzig verlängert wurde, enden weiterhin knapp die Hälfte der Züge bereits in Nürnberg, erreichen Ostdeutschland also gar nicht.
Bezieht man das alles mit ein, kommt man darauf, dass auf den drei betroffenen Intercity-Linien rund 17 Prozent der Kilometerleistung in den ostdeutschen Bundesländern erbracht wird, wie der Blogger und passionierte Bahnfahrer Marco Bereth auf Mastodon vorgerechnet hat. Selbst unter Berücksichtigung der kleineren Fläche und Bevölkerung Ostdeutschlands kann von einer überproportionalen Benachteiligung keine Rede sein.
Doch das sind Details, die niemanden mehr interessieren. Die Geschichte ist längst in der Welt und schwappt wie eine La Ola durch die Medien. Einige, wie der „Tagesspiegel“, wiesen immerhin auf die Korrektur des „Spiegel“-Artikels hin, zogen daraus aber keine Schlüsse und berichten weiter über „zahlreiche Verbindungen im Osten“.
Am Mittwochnachmittag meldete sich dann auch die Deutsche Bahn und dementierte in einer Pressemitteilung die Berichterstattung des „Spiegel“ ungewöhnlich deutlich:
„Es gibt aktuell keine konkreten Pläne zur Streichung der genannten Fernverkehrsverbindungen. Wir haben im April unsere Planungen für den Fahrplan 2025 abgeschlossen. Dieser Fahrplan sieht derzeit keine der genannten Angebotskürzungen vor.“
Im zweiten Absatz wird allerdings nachgeschoben:
„Die derzeit im Raum stehende drastische Erhöhung der Trassenentgelte stellt die DB Fernverkehr AG (…) vor erhebliche Herausforderungen. Je nach Höhe der zusätzlichen Belastungen sind wir gezwungen, den Umfang unseres Fahrplanangebotes bundesweit zu überprüfen.“
Heißt: Im kommenden Jahr dürfte es zu keinen Streichungen kommen. Was danach passiert, ist jedoch völlig offen. Es wird darauf ankommen, wie hoch die Erhöhung der Trassenentgelte durch die Infrastruktursparte der Deutschen Bahn tatsächlich ausfällt. Die Entscheidung darüber soll im Herbst fallen. Insofern hat der „Spiegel“ da schon einen Punkt. Er ist vermutlich auf ein Papier gestoßen, das in einem Giftschrank der DB schlummerte, um für den Fall der Fälle ein politisches Druckmittel zu haben. Dass es in den kommenden Jahren zur Einstellung von Fernverkehrsstrecken kommt, ist also durchaus eine realistische Gefahr. Und darüber muss selbstverständlich berichtet werden.
Mit dem Osten hat das Ganze aber wenig zu tun. Was die betroffenen Verbindungen eint, ist etwas anderes: Es handelt sich nicht um das Rückgrat des deutschen Fernverkehrs, sondern um Ergänzungslinien – das so genannte B-Netz, das früher von Interregio-Zügen bedient wurde. Heute sind hier zumeist Doppelstock-Züge unterwegs, die sich abgesehen von der weißen Lackierung und der etwas besseren Innenausstattung kaum von einem Regionalexpress unterscheiden. Für die Bahn sind diese Linien in der Provinz recht aufwändig zu unterhalten. Demgegenüber steht eine – zumindest abschnittsweise – schwache Auslastung, da es attraktive Parallelangebote im Regionalverkehr gibt.
So bitter es für die betroffenen Orte ist: Dass die Bahn diese Verbindungen als Erstes auf den Prüfstand stellt, wenn sie finanziell in die Bredouille gerät, ist nachvollziehbar. Rein wirtschaftlich betrachtet wäre es sogar sinnvoll, die Züge dort abzuziehen und auf stärker nachgefragten Routen, auf denen sich Profit erzielen lässt, einzusetzen.
Ob so eine gute Eisenbahn aussieht, die dem Gemeinwohl dient, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das sind aber Fragen, die in der Berichterstattung des „Spiegel“ und ihrer Multiplikation in anderen Medien mal wieder untergehen.
Hinweis: Wir haben die Bahn selbst um eine Stellungnahme gebeten, etwa dazu, ob die betroffenen Linien komplett von der Einstellung bedroht sind oder nur einzelne Zugfahrten. Bis auf die oben genannte Pressemitteilung haben wir keine individuelle Antwort erhalten.
Sebastian Wilken ist freier Wissenschaftler und Autor. Er liebt Zugfahren, lässt sich aber ungern Blödsinn erzählen, insbesondere von Medien. In seinem Online-Magazin „Zugpost“ schreibt er über Bahnreisen. Wilken lebt in Turku, Finnland.
Ich habe mich beim Blick der Spiegel-Grafik noch gewundert, inwiefern das Geschrieben zum Visuellen passen soll, weil ich dachte, es sei wirklich *der Osten* betroffen. Danke für die Richtigstellung!
Gut recherchiert. Danke!
Sehr guter Artikel, sowohl als Medienkritik als auch als Bahnjournalismus.
Liebe Übermedien-Fans,
vielen Dank für die positiven Kommentare! Noch eine kleine Ergänzung von meiner Seite: Der „Spiegel“ hat inzwischen einen Kommentar veröffentlicht, der völlig konträr zum ursprünglichen Artikel ist und die „Ost“-Debatte heftig kritisiert:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/deutsche-bahn-einsparungen-im-db-fernverkehr-diese-ostdeutschland-debatte-braucht-kein-mensch-a-ee8eb661-bfe5-464c-a441-4fd7cf87fd5b
Das finde ich respektabel und der Kommentator hat einige gute Punkte. Interessant ist allerdings, dass er völlig ignoriert, dass der „Spiegel“ selbst die Debatte überhaupt erst lostgetreten hat.
Naja, offenbar stürzen sich nicht nur Politiker lieber ins Schwert, statt öffentlich einen Fehler zuzugeben – sondern auch Journalisten. Als Ostdeutscher hatte ich zunächst auch erst mal den „Ossi-Wut-Reflex“, der sich dann aber wieder gelegt hat. Hier dürfte das D-Ticket an der schlechten Auslastung der IC’s schuld sein – dann wäre statt Streichung evt. eine Umwandlung in (qualitativ hochwertige) RE-Linien die bessere Idee?