Stößt sauer auf: Journalisten ganz besoffen von Apfelessig

Kennen Sie die Holy Spirit University im Libanon, nördlich von Beirut? Ich auch nicht. Jedenfalls kannte ich sie bis gestern nicht, da las ich von ihr zum ersten Mal. Aber Apfelessig kannte ich, Apfelessig kennt ja jeder. Das Internet ist voll damit, seit ein paar Tagen ganz besonders: Aus allen Nachrichtenseiten tropft Apfelessig. Aus dem „Berliner Kurier“, der „Fuldaer Zeitung“, „Focus Online“, „Bild“, „Stern“, „Business Insider“ … wirklich: überall! Weil die Holy Spirit University im Libanon angeblich bewiesen hat, dass Apfelessig nicht nur gesund ist, sondern man mit Apfelessig sogar abnehmen kann!

Apfelessig – ich sag’s Ihnen!

Aber vielleicht sollte man skeptisch sein, wenn plötzlich alle Apfelessig über den grünen Blattsalat loben, auch wenn es sich um eine Studie einer Universität handelt, denn Studien gibt es ja solche und solche.

Apfelessig!

Los ging das mit dem Apfelessig so Mitte voriger Woche, am 13. März. Die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) berichtete über die einen Tag zuvor publizierte Studie, die behauptete, die regelmäßige Einnahme von Apfelessig habe übergewichtigen Jugendlichen dabei geholfen abzunehmen. Die SZ wies deutlich darauf hin, dass der sechs Seiten umfassende Text zur Studie, der im „British Medical Journal“ (BMJ) erschienen war, „eine Reihe von Problemen und offenen Fragen“ aufweise. Die Autorin merkte beispielsweise an, dass unklar sei, wie viele Kalorien die Versuchsgruppen zu sich nahmen.

In der SZ und zwei Tage später in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ äußerten auch Wissenschaftler ihre Zweifel an der gewichtsreduzierenden Wirkung von Apfelessig. Sie haben etliches auszusetzen: Dass an der Studie nur 120 Proband:innen teilgenommen hätten, zum Beispiel. Und nur junge übergewichtige Personen, was sich schlecht übertragen lasse auf eine breitere Bevölkerung. Und dass die Jugendlichen nur ungenau Tagebuch geführt hätten über ihre Ernährung und ihre körperliche Aktivität. Dass allein der Apfelessig für die Gewichtsabnahme sorgte, ist also nicht sicher.

Vorsicht, Apfelessig-Studie!

Die Schlussfolgerungen aus der Studie seien „fragwürdig“, sagt Helen Truby von der University of Queensland in Australien. Und Miguel Ángel Martínez-Gonzálezvon von der spanischen University of Navarra in Pamplona warnt:

„Hier ist Vorsicht geboten, sehr viel Vorsicht.“

Aber das ist ja von Apfelessig besoffenen Medien wurscht. Immerhin ist es ja eine Studie, eine STUDIE, klingt doch seriös, und diese Studie ist ja im BMJ erschienen, einem Fachjournal, also bitte – das muss ja wohl was heißen!

Ja.

Dass die Studie, wie es die FAZ formuliert, „ein gutes Beispiel dafür ist, wie komplex Ernährungsstudien sind und welche Schwächen Ergebnisse haben können, die in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht werden“.

Aber nun steht halt trotzdem überall, was für ein super Abnehmessig Apfelessig ist. Das BMJ hat auf seiner Internetseite unter dem Text zur Studie ein Tool von Altmetric eingebettet, einem Unternehmen, das nachverfolgt, wo aktuelle Forschung so überall erwähnt wird. Die Liste ist beeindruckend. In den USA, Großbritannien, Deutschland, aber auch in der Türkei, Saudi-Arabien und in Malaysia werde darüber berichtet. Insgesamt 103 Artikel auf Nachrichtenseiten hat Altmetric aufgelistet; es dürften allerdings bei weitem nicht alle sein. Zumal etliche ganz wichtige aus Deutschland fehlen.

„Bild“ und der „Schlank-Schluck“

Bei „Bild“ sind sie seit Tagen völlig drauf auf Apfelessig. Sie ziehen da Apfelessig schon durch die Nase. An fünf Tagen sind insgesamt zehn süßsauer riechende Berichte über Apfelessig erschienen. Daran waren zehn (!) Apfelessig-Journalistinnen und -Journalisten beteiligt, an einem Artikel auch mal drei gleichzeitig. Irgendwann werden sie in einer Medien-Selbsthilfegruppe sitzen und sich fragen: Was hat Apfelessig nur aus uns gemacht?

Der erste Artikel erscheint am 18. März:

„So wirkt der Schlank-Schluck der Stars noch besser“.

Apfelessig wird bei „Bild“ nämlich „Schlank-Schluck“ genannt.

„Starten Sie Ihren Tag mit einem sauren Drink“, appeliert „Bild“. „Stars und Promis schwören längst auf Apfelessig als Abnehm-Hilfe. Laut einer neuen Studie ist das alte Hausmittel sogar effektiver als die Abnehm-Spritze Ozempic.“ Und „der Clou“ sei, dass die Diät damit „hundertmal günstiger“ sei als die Spritze. (Die im Übrigen auch umstritten ist, weil sie eigentlich gegen Diabetes eingesetzt wird. Angestachelt durch Prominente wurde die „Abnehm-Spritze“ aber ebenfalls zum großen Medien-Trend. Was teilweise zu Engpässen in der Produktion führte: Menschen mit Diabetes, die die Spritze benötigten, bekamen sie zeitweise nicht mehr.)

Gleicher Tag, paar Stunden später: zweiter „Bild“-Apfelessig-Text.

„DAS Geheimnis hinter dem Schlank-Schluck der Promis“.

Jetzt erklärt die französische Biochemikerin und Essig-Influencerin Jessie Inchauspé noch mal die „Geheimwaffe Essig“.

Am nächsten Tag erscheinen dann drei Essig-Artikel bei „Bild“:

1. „Der Schlank-Schluck kann noch viel mehr“.

Im Mittelalter habe Essig als „Wundermittel gegen die Pest“ gegolten: „Wer sich durch das Waschen mit Apfelessig desinfizierte, sollte vor der Ansteckung mit dem ‚Schwarzen Tod‘ geschützt sein.“ Außerdem, bitte mal alle herlesen: „Apfelessig ist ein echter Beauty-Hammer!“

2. „Getestet! Das sind die besten Schlank-Schluck-Produkte“.

Die Studie über das „Abnehm-Wundermittel Apfelessig“, schreibt „Bild“, habe auch in Deutschland einen „Hype“ ausgelöst und einen „Run auf die Supermarkt-Regale“. (Ach, wieso nur?) Reporter haben mit einer Verkäuferin eines Drogeriemarkts gesprochen und mit einer Rentnerin, die jetzt wieder mehr Apfelessig zu sich nehmen will, nachdem sie davon gelesen hat. „Bild“ schreibt deshalb aus „Ökotest“ ab, welches die besten Apfelessige sind.

3. „Mit nur einem Löffel DAVON bis zu 8 Kilo verlieren“.

„Bild“ schildert noch mal unkritisch die Studie.

Nächster Tag, zwei Artikel:

1. „Der Schlank-Schluck hält sogar den Blutzucker im Zaum“.

„Bild“ erklärt unter anderem, dass schon Hippokrates „den Menschen die Anwendung von Apfelessig ans Herz“ gelegt habe. Okay.

2. „Hilft jeder Essig beim Abnehmen?“ („Bild“-Antwort: Ja, scheint so.)

Kim Kardashian und ihre Schwestern hätten schon vor Jahren erklärt, der „saure Tropfen“ sei ein „Gamechanger, wenn es ums Abnehmen geht“. Und nun sorge eine Studie aus dem Libanon „für Furore“. „Der Wirbel um Apfelessig als Schlank-Essenz nimmt nicht ab!“

In den nächsten beiden Tagen folgen dann noch vier weitere Artikel:

„So machen Sie den Schlank-Schluck der Stars einfach selber“
„Wann der saure Schlank-Schluck am besten wirkt“
„‚Mit dem Schlank-Schluck purzeln bei mir die Kilos'“
„Hier gibt es den Schlank-Schluck am billigsten“

Fehlt nur noch die obligatorische Schlagzeile: „Jetzt spricht der Apfelessig!“

In diesem Text hier über Apfelessig steht übrigens so oft (40-mal) Apfelessig, damit Google begreift, dass es sich hier um einen sehr wichtigen Apfelessig-Text handelt. Einen Apfelessig-Text über Apfelessig-Texte. Irgendwie muss man sich in diesem Meer aus Apfelessig ja bemerkbar machen. Und darum geht es doch: um Klicks! Und um Apfelessig.