Es ist ein Satz, der schreit, dass er wichtig ist, und gleichzeitig nüchtern klingen soll:
„Nach Informationen von NDR und WDR soll in Kürze eine Öffentlichkeitsfahndung nach Johann G. gestartet werden“.
Das berichtete am vergangenen Sonntag tagesschau.de, ganz „exklusiv“. Nur einen Tag später, am Montag veröffentlichten der Generalbundesanwalt und das Landeskriminalamt Sachsen die Fahndung nach Johann G.. Seitdem prangt dessen Gesicht auf Plakaten und Infodisplays und ganz oben auf der Fahndungsseite des Bundeskriminalamts.
Johann G. ist oder war der Partner von Lina E., die im Juni in Dresden wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurde. Lina E. und andere sollen organisiert und gezielt gewalttätige Übergriffe auf Menschen begangen haben, die sie für Neonazis hielten. Glaubt man den sächsischen Sicherheitsbehörden, soll Johann G. eine zentrale Person in der Gruppe gewesen sein – deswegen auch die Öffentlichkeitsfahndung.
Die Ankündigung der Fahndung ist neben der Nachricht, es gebe 20 untergetauchte Linksextremisten in Deutschland, die exklusive Neuigkeit im Beitrag der Autoren Manuel Bewarder, Florian Flade und Sebastian Pittelkow. Doch der Beitrag des Investigativ-Teams von NDR und WDR besteht zu großen Teilen aus dem, was Sicherheitsbehörden sagen.
Für den Text gab es viel Kritik in Sozialen Netzwerken. Der Tenor: Warum berichtet man über 20 untergetauchte Linke, wenn gleichzeitig 600 Rechtsextremisten per Haftbefehl gesucht werden und flüchtig sind? So einfach, wie die Kritiker*innen es sich damit machten, ist es freilich nicht: Natürlich ist es legitim, auch über ein vermeintlich kleineres Problem zu berichten. Und die in den Raum geworfenen Zahlen sind nicht vergleichbar: Wer per Haftbefehl gesucht wird, ist nicht automatisch untergetaucht. Außerdem sagt ein Haftbefehl erstmal wenig über begangene Straftaten aus. Heißt: auch ein Neonazi kann in den Knast gehen, wenn er zu oft ohne Ticket Bus fährt.
Wer gehört eigentlich zu den 20 Untergetauchten?
In der taz hat Konrad Litschko die Zahlen der Behörden aufgeschlüsselt: Gegen 674 Personen aus der extremen Rechten gibt es 915 offene Haftbefehle. Im linken Spektrum liegen gegen 104 Personen 137 Haftbefehle vor. Bei acht Haftbefehlen geht es um terroristische Taten, bei 29 um politische Gewalttaten. Litschko ergänzt, das „nur die wenigsten der Gesuchten“ als „dauerhaft abgetaucht“ gelten. Und laut tagesschau.de sind das eben aktuell 20 Personen.
Wie sich die „20 untergetauchten Linksextremisten“ zusammensetzen, geht aus dem Bericht bei tagesschau.de nicht hervor. Leser*innen erfahren, dass „die meisten der Untergetauchten“ aus dem Umfeld von Lina E. stammen sollen. Wie viele das genau sind, steht nicht im Text. Behauptet wird jedoch, es seien so viele „Linksextremisten“ untergetaucht, „wie seit Zeiten der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) nicht mehr.“ Die naheliegende Anschlussfrage, ob etwa die „RAF-Rentner“, deren DNA wiederholt bei Überfällen auf Geldtransporter und Banken gefunden wurde, zu der Gruppe der Untergetauchten gehören, wird dagegen nicht beantwortet.
Und was ist mit den deutschen Linksradikalen, die nach einem gescheiterten Anschlag in den 1990er Jahren nach Venezuela ausgewandert sind und dort heute als politische Flüchtlinge gelten? Auch das erfährt man nicht. Es bleibt also unklar, ob es den Sicherheitsbehörden bei den untergetauchten Linken nur um die geht, denen aktuell politische Gewalttaten zugetraut werden – oder um alle, die seit den Hochzeiten des linksextremen Terrorismus von den 70ern bis in die 90er Jahre jemals untergetaucht sind.
Wo ist die kritische Einordnung?
Auch bei anderen Fragen bleibt der „Tagesschau“-Beitrag vage und spinnt die Erzählung der Sicherheitsbehörden weiter. Johann G. könne an Übergriffen beteiligt gewesen sein, die Linke aus mehreren Ländern rund um einen Neonazi-Aufmarsch im Februar in Budapest begangen haben. Für die Sicherheitsbehörden scheint dies eine eindeutige Sache zu sein, die auf ein linksextremes Gewaltnetzwerk schließen lässt.
Sachsens Innenminister Armin Schuster schlussfolgert gegenüber tagesschau.de: „Wer abtaucht, der radikalisiert sich auch weiter und deswegen ist das eine sehr besorgniserregende Entwicklung.“ Eine absolute Behauptung, bei der eine kritische Einordnung helfen könnte. Aber auch die fehlt im Beitrag.
Der Historiker Robert Wolff arbeitete in einem langen Thread bei X (vormals Twitter) heraus, dass Mitglieder gewalttätiger oder verbotener linker Gruppen in der Bundesrepublik den Gang in die Illegalität zum großen Teil gescheut haben und dass die RAF mit ihren Anschlägen eine Ausnahme bildet. Wolff kommt zu einer Einschätzung, die der des sächsischen Innenministers komplett entgegensteht:
„Die Aufarbeitung der westdeutschen Stadtguerillagruppen zeigt ziemlich eindeutig, dass die meisten Menschen, die aus verschiedenen linksradikalen Spektren, aber nicht aus der RAF, in den ‚Untergrund‘ gegangen sind, nicht mehr straffällig geworden sind.“
Keine Neuigkeit als Neuigkeit verkauft
Ein anderer Absatz im „Tagesschau“-Beitrag wirkt darüber hinaus seltsam deplatziert: So wird berichtet, dass Sicherheitsbehörden vor einer Vernetzung von antifaschistischen Gruppen in Südwestdeutschland warnen, deren Ziel sei eine „bundesweite Antifa“ sei. Bei Protesten gegen einen AfD-Parteitag habe die Gruppe „gewaltorientierte Linksextremisten“ mobilisiert, 53 Polizeibeamte seien verletzt worden. Dabei handelt es sich um Polizeizahlen.
Die regionale Vernetzung von Antifa-Gruppen ist überhaupt nichts Neues – und es bleibt unklar, wieso sich daraus eine neue Gefahr für die Innere Sicherheit ergeben sollte, die es rechtifertigen würde, darüber in einem Atemzug mit Untergetauchten und Terrorismus zu berichten. So gab es in den 1990er Jahren sogar schon einmal eine bundesweite Antifa-Organisation – linksextremer Terror hat sich daraus nicht entwickelt. Über die Hintergründe, die Geschichte und die Bedeutung dieser Information erfährt man bei tagesschau.de nichts – sie wird einfach nur platziert.
Insgesamt klammern die Journalisten einiges aus bei ihrer Geschichte über die angeblich steigende Zahl der untergetauchten „Linksextremisten“. Der Beitrag bedient praktisch ausschließlich das Narrativ der Sicherheitsbehörden, die ihre Öffentlichkeitsfahndung lancieren wollen und dafür angebliche Erkenntnisse „exklusiv“ an Journalisten durchstechen. Und die helfen dann mit im Vorfeld der Fahndung dabei, diese mit einer angeblich großen, drohenden Gefahr zu legitimieren.
Dass sich ein Rechercheverbund, der sich investigativen Journalismus auf die Fahnen schreibt, für diese recht durchschaubare Sicherheitsbehörden-PR einspannen lässt, ist ein fragwürdiges Tauschgeschäft.
Korrektur, 16:30 Uhr. Wir hatten Armin Schuster zunächst fälschlicherweise „Achim“ genannt. Sorry!
Der Autor
Sebastian Weiermann ist freier Journalist und lebt in Wuppertal. Schwerpunktmäßig berichtet er für das „nd“ über nordrhein-westfälische Landespolitik. Gerne begleitet er Proteste von sozialen Bewegungen. Woran er gerade arbeitet, lässt sich am besten auf Twitter verfolgen.
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