Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Es wird noch viel diskutiert werden in den nächsten Wochen, ob die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) über den Verdacht berichten durfte, dass Hubert Aiwanger als 17-Jähriger ein antisemitisches Papier verfasst hat, juristisch. Aber es lohnt sich auch, darüber zu reden, wie die SZ über diesen Verdacht berichtet hat, journalistisch.
Vor allem die Seite-3-Geschichte, die sie am Samstag veröffentlichte, ist problematisch, weil sie nicht nüchtern über die Vorwürfe berichtet, sondern all jenen Munition gibt, die ihr unterstellen, eine Agenda zu haben: Aiwanger kurz vor der Wahl wegzuschreiben. Es ist ein Text, dem jede Distanz zu sich selbst fehlt, und der gleich mit einem Balanceakt auf der Meta-Ebene beginnt:
„Man sollte nicht mit dem Flugblatt anfangen, nicht mit dem ‚Vergnügungsviertel Auschwitz‘ und dem antisemitischen Wahnsinn. Man sollte zweieinhalb Wochen zurückspulen, um zu begreifen, welche Welle dieser Mann gerade reitet. Und um die Wucht zu erfassen, mit der die Welle nun brechen könnte.“
In den ersten beiden Sätzen spricht der Text mit sich selbst und diskutiert, wie er sein sollte. Dem Publikum erklärt er auf diese Weise, was er damit erreichen will. Und am Ende des Absatzes nimmt der Text seine eigene erwartete Wirkung schon vorweg: Er geht davon aus, dass diese Recherche, die eigene Recherche, die Macht haben kann, die riesige „Welle“ zu brechen, die Aiwanger gerade reite.
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Vom ersten Absatz an ist der Text beschäftigt mit seiner eigenen möglichen Wirkung. Es ist schwer, daraus nicht auch den dringenden Wunsch zu lesen, dass diese Wirkung eintreten möge. Die Botschaft: Der Chef der Freien Wähler erlebt gerade einen Höhenflug, der nicht gut ist und der eigentlich längst hätte enden müssen. Aber ich, dieser Text, diese Recherche, diese Zeitung, kann ihn jetzt stoppen.
Das Motiv zieht sich durch den ganzen Artikel. Im vierten Absatz beschreiben die Autoren, wie „manche“ nach dem Auftritt Aiwangers auf einer Demo in Erding „dachten, dass seine Welle bricht“. Damals hatte er gerufen, die „schweigende große Mehrheit“ müsse sich „die Demokratie wieder zurückholen“, und man müsse „denen in Berlin sagen: Ihr habt ja wohl den Arsch offen da oben“.
„Nur ist die Welle nicht gebrochen“, konstatiert die SZ. „Sie ist gewachsen. Aber jetzt?“
Aber jetzt, nachdem dieser Text erschienen ist, genau dieser Text, den Sie gerade lesen?
Ein paar Absätze weiter fragt der Text, „was das Flugblatt aus dem Schuljahr 1987/88 mit dem Landtagswahlkampf 2023 macht, und mit der bayerischen Regierung“. Bislang habe Ministerpräsident Söder seinem Vize immer alles durchgehen lassen. „Aber jetzt, kann Söder einfach so weitermachen?“
Noch ein paar Absätze weiter stellt der Text noch einmal fest:
„Es läuft gerade für Hubert Aiwanger, das ist sicher. Nicht so sicher ist, ob er weiß, wie gefährlich das Spiel ist, das er spielt.
Und wie das jetzt alles weitergeht.“
Jetzt, wo dieser Text erschienen ist.
Noch ein paar Absätze weiter fragt der Text wieder: „Wie werden Aiwangers Leute also reagieren, auf das Flugblatt und manches, was Schüler und Lehrer von damals erzählen? Die Aiwanger-Welle rollt doch gerade so schön. Und es sagt ja niemand, dass er die Freien Wähler wählt. Alle sagen: Ich wähl den Aiwanger.“
Der Artikel endet mit einer Szene aus dem Bayerischen Landtag. Die Präsidentin Ilse Aigner habe gesagt: „Wir müssen uns die Demokratie auch nicht zurückholen“, und jeder habe gewusst, wen sie meinte. Hubert Aiwanger habe dagesessen wie eingefroren. „Man schaut jetzt noch mal anders auf ihn, wenn man hört, was die Leute von damals erzählen“, schreiben die SZ-Autoren über sich selbst. „Wenn das alles stimmt, kann man sich kaum mehr vorstellen, dass er in einer Gedenkstunde sitzen könnte für Auschwitz oder Dachau.“
Wie, wenn das alles stimmt? Das wird ja wohl stimmen, sonst hätte die SZ doch nicht all diese Zeilen geschrieben, die schon die Wirkung ihrer Enthüllung vorwegnehmen, ersehnen, herbeischreiben?
Natürlich erhoffen sich Journalisten, dass ihre Arbeit nicht wirkungslos ist. Dass sich etwas ändert, wenn Dinge an die Öffentlichkeit kommen, die bisher unbekannt waren, insbesondere wenn es Aufreger oder Skandale sind.
Das Aufdecken von Missständen gehört zu den wichtigsten Aufgaben von Journalismus. Das Abstellen von Missständen ist nicht seine Aufgabe. Dazwischen liegt manchmal ein schmaler Grat.
Und manchmal ein breiter Graben. Anfang 2012 schienen viele Journalisten davon überzeugt, dass Christian Wulff als Bundespräsident nicht mehr haltbar ist. Ihre tatsächlichen oder scheinbaren Enthüllungen waren teilweise offenkundig angetrieben von dem Ziel, ihn endlich wegzubekommen. Ihre Recherchen schienen allein diesem Ziel zu dienen.
Die Wählerschaft war davon anfangs übrigens keineswegs so überzeugt wie die veröffentlichte Meinung. Ich glaube, die Wulff-Berichterstattung, die viele als Hetzjagd einer Medienmeute empfanden, war ein zu oft vergessener Schlüsselmoment, in dem das Vertrauen mancher Menschen in den Journalismus einen Knacks bekam.
Inzwischen ist die Unterstellung interessierter Kreise, dass hinter einer Recherche oder einer Veröffentlichung nicht journalistische, sondern politische Motiven stehen, Alltag. So einfach sie dahinbehauptet ist, so schwer lässt sie sich entkräften. Aber Journalisten können zumindest den Versuch machen, ihr nicht zusätzliche Nahrung zu geben – indem sie versuchen, möglichst sachlich zu berichten und nüchtern, nicht besoffen von sich selbst. Weniger meinungsstark, weniger effekthascherisch, weniger voreingenommen: weniger angreifbar.
Dass der SZ-Text die Bedeutung seiner eigenen Recherche so sehr betont, hat natürlich noch ein anderen Grund: Er muss rechtfertigen, dass Vorgänge, die 35 Jahre zurückliegen und einen damals Minderjährigen und den eigentlich geschützten Raum einer Schule betreffen, an die Öffentlichkeit gebracht werden. Das ist nachvollziehbar, aber gleichzeitig ebenfalls heikel. Je mehr ein Text beteuert, wie gravierend das ist, was er da enthüllt, umso leichter wächst der Zweifel daran: Ist ein solches „Auschwitz-Pamphlet“, wie es die SZ nennt, nicht ungeheuer genug? Brauchen die Leser wirklich Journalisten, die ihnen sagen, wie ungeheuer das ist – nicht in einem Kommentar, sondern im zentralen Text der Enthüllung selbst?
„Diese Zeilen in dem Flugblatt, zynisch, menschenverachtend, man hat so was noch nicht gelesen von einem Regierungsmitglied in Bayern, in der Bundesrepublik. Es wäre ungeheuerlich“, schreibt die SZ. Der ganze Text schreit: „Es ist ungeheuerlich.“
Mindestens ungeheuer ist der SZ aber auch schon der Erfolg Aiwangers. Mit maximaler Abscheu beschreiben ihn die Autoren in der Seite-3-Geschichte. Sie brauchen gleich drei Berufe, um einen Auftritt des Politikers in Eitting zu beschreiben: Er reißt das Mikro aus der Halterung, „wie ein Rockstar“. Er krempelt die Ärmel hoch, „wie ein Metzger, der gleich die Sau zerlegt“. Er schwitzt, „wie ein Heizungsbauer“.
Über „all die Schnipsel im Netz“ von Menschen, die Aiwanger zujubeln und „Hubsi! Hubsi! Hubsi!“ rufen, „kann man ja nur noch staunen, seit Wochen“, schreibt die SZ, dabei wünschte man, dass Journalisten noch etwas anderes können.
„In Erding hat Hubert Aiwanger zum Umsturz eines Systems aufgerufen, das ihn selbst nach oben getragen hat, bis ins zweithöchste Amt in Bayern“, schreibt die SZ. „So konnte man ihn ja verstehen.“ Ja. Man konnte ihn auch anders verstehen. Aiwanger selbst sagt, er wollte so verstanden werden, dass „wieder Politik für die Mehrheit gemacht wird“. Aber die SZ kann diesen Erklärungs- oder Relativierungsversuch nicht einmal erwähnen, weil sie den behaupteten Aufruf zum „Umsturz“ braucht als Parallele zum antisemitischen Flugblatt. Als „Linie vom Gestern ins Heute“, wie sie mit einem Fragezeichen formuliert, das ein bisschen pro forma wirkt.
Die SZ hat in Niederbayern nach eigenen Angaben mit vielen früheren Weggefährten Aiwangers gesprochen:
„Man kann das nicht alles wiedergeben, nicht alles überprüfen, jeder hat seine eigenen Erinnerungen. Und aus all den Erinnerungen ergibt sich ein Bild, das Hubert Aiwanger als einen jungen Mann zeigt, der mindestens eine Faszination gehabt haben soll für Hitler, für das ‚Dritte Reich‘. Kann es sein, dass ein halbes Dutzend Leute das alles nur erzählt, um Aiwanger zu schaden?“
Man kann sich an dieser Stelle den Chor der braven SZ-Leser vorstellen, die dem Text gemeinsam: „Natürlich nicht!“ zurufen. Aber was ist das für ein unscharfes Bild? „Mindestens eine Faszination“ für Hitler und das Dritte Reich? Was bedeutet denn das? Was ist das für ein Vorwurf? Noch dazu eingeschränkt durch den Satz: „Jeder hat seine eigenen Erinnerungen“.
Später formuliert die SZ, dass frühere Schüler und Lehrer Aiwanger „als Nazi-Bewunderer beschreiben“ – das ist eine deutliche Verschärfung, aber worauf gründet die sich? Sie taucht hier nur noch in einem längeren Satz als Tatsache auf. Später gibt es, ebenfalls fast beiläufig, noch eine Zuspitzung: „frühere Klassenkameraden bescheinigen“ ihm, „als Schüler ein Rechtsextremer gewesen zu sein“. „Bescheinigen“ ist ein interessantes Wort, es klingt wie ein Attest, aber es ist von niemandem unterschrieben, und die konkreten Symptome bleiben ungenannt.
Im Zeichnen einer langen Linie von dem antisemitischen Pamphlet 1987 nach Erding 2023 beleuchtet die SZ auch Aiwangers überraschende Wahl zum Landeschef der Freien Wähler 2006.
„Die Wahl fällt knapp aus, Pfiffe, Buhrufe. Seine Gegner fürchten einen ‚Rechtsruck‘, einer sagt, es gehe ‚in Richtung populistische Partei‘. Kann man alles in den Zeitungen nachlesen.“
Der letzte Satz ist möglicherweise so gemeint, dass niemand heute über den von der SZ aktuell diagnostizierten Rechtsruck oder Populismus bei den Freien Wählern staunen könnte, weil ja damals alles schon in den Zeitungen stand, aber er klingt gleichzeitig merkwürdig pampig-defensiv: Kann man alles nachlesen! In der SZ stand im April übrigens, Aiwanger klinge fast wie ein Jungsozialist, „und zwar einer aus den 70er Jahren“. Er wettere nämlich gegen den politischen Einfluss der Großkonzerne. Und die „Grundversorgung des Bürgers mit Energie, Wasser, Gesundheit und Nahverkehr muss in politischer Hand bleiben und darf nicht in die Hand von Konzernen geraten“.
Heute schreibt die SZ stattdessen, Aiwanger habe „schon geredet, wie er heute redet, als es die AfD noch gar nicht gab“.
Ein weiterer Punkt auf der Linie vom antisemitischen Pamphlet in die Gegenwart ist der Herbst 2012, als Aiwanger auf dem Gillamoos-Volksfest in Abensberg spricht und der Kanzlerin zuruft: „Komm rüber, du altes Schlachtross, hier ist die Alternative!“ Er habe gebrüllt: „Wir sind die Demokraten, hinter uns steht die Mehrheit“ – immerhin kann er sich das weder bei Trump noch der AfD abgeguckt haben. „Die anderen machen das Gegenteil von dem, was die kleinen Leute wollen“, zitiert die SZ Aiwanger und fügt hinzu: „Abensberg 2012, Erding 2023, im Grunde ist das ein und dasselbe.“ Dieser Kleine-Leute-Populismus, dieser Wir-sind-die-Mehrheit-Wahn – alles auf einer Linie, einer Ebene mit dem antisemitische Pamphlet 1987/88?
Die SZ nimmt sich in ihrer Seite-3-Geschichte viel Raum fürs Raunen. Das Dementi von Aiwanger kommt dagegen erstaunlich knapp daher:
„Er könne ‚weitergeben, dass Hubert Aiwanger so etwas nicht produziert hat‘, teilt der Sprecher mit. Und sollte die SZ über das Flugblatt berichten, kündigt er an, dass sich Aiwanger juristisch ‚gegen diese Schmutzkampagne‘ wehren werde.“
Anscheinend war die Aussage des Sprechers noch ein bisschen länger. Inzwischen schreibt die SZ, Aiwanger habe „die Darstellung, er sei überhaupt in den Vorfall damals involviert gewesen und bestraft worden, bei Veröffentlichung der Recherche zunächst von einem Sprecher kategorisch zurückweisen lassen“. Das ist ein anderes Dementi als das, das man am Samstag in der SZ lesen konnte, und das ist nicht irrelevant. Diesem Dementi würde nämlich Aiwangers späterer Verteidigung widersprechen, er habe das Pamphlet zwar nicht geschrieben, aber bei ihm seien „ein oder wenige Exemplare in meiner Schultasche gefunden“ worden, er sei zum Direktor einbestellt und es sei mit der Polizei gedroht worden, er habe daraufhin ein Referat zur Strafe halten müssen.
Das spricht nicht gerade für die Glaubwürdigkeit der Einlassungen Aiwangers – aber der Widerspruch ist auf Anhieb nicht zu erkennen, weil die SZ nicht vollständig wiedergab, wie umfänglich der Sprecher dementiert hatte. Vielleicht war sie zu sehr damit beschäftigt, davon zu träumen, wie sie die Welle bricht, auf der Aiwanger reitet.
Mindestens unglücklich und möglicherweise juristisch unzulässig ist, dass die SZ das klare Dementi Aiwangers, was die Urheberschaft angeht, in der Online-Version Ihres Seite-1-Artikels zum Thema hinter die Paywall packte. Frei zu lesen war dort der Vorwurf „Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben“:
„Bayerns Vizeministerpräsident verbreitete in seiner Jugend offenbar rechtsextremes Gedankengut. Das legt ein Schriftstück nahe, das nun aufgetaucht ist. Der Freie-Wähler-Chef spricht von einer ‚Schmutzkampagne‘.“
Der Halbsatz „dementiert, so etwas produziert zu haben“ wurde erst später eingefügt. Auch in der Online-Version des Seite-3-Artikels wurde der Satz „Bayerns Wirtschaftsminister lässt bestreiten, so etwas produziert zu haben“ erst nachträglich in den Vorspann eingefügt.
Der Medienrechtler Carsten Brennecke, der auf Twitter gegen die SZ-Berichterstattung wettert, hält das für „klar rechtswidrig“.
Zurück zur Wirkung der SZ-Geschichte, von der die SZ-Geschichte selbst so besessen war: Bricht jetzt die Welle, die Aiwanger reitet, trotz seiner Erklärung, er habe damals den wahren Autor des Pamphlets nicht verpfeifen wollen, und der Erklärung seines Bruders, der wahre Verfasser gewesen zu sein? Oder begräbt eine ganze andere Welle die „Süddeutsche Zeitung“ unter sich, eine Welle der Wut über einen angeblichen als Journalismus getarnten parteipolitisch motivierten Rufmord?
Wessen Ruf wird geschädigt dadurch, wessen Glaubwürdigkeit sticht am Ende?
Der SZ-Artikel hatte zweifellos die Wirkung, dass der zentrale Verdacht, Aiwanger habe ein antisemitisches Pamphlet verfasst, trotz diverser Fragezeichen im Text von vielen als Tatsache verbreitet wurde. Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli etwa twitterte: „Als Schüler verfasste Aiwanger ein antisemitisches Flugblatt, das alles überschreitet, was man für möglich gehalten hat.“ (Der Tweet ist inzwischen gelöscht.)
Und er hatte auch zweifellos die Wirkung, dass zahlreiche Gegner des etablierten Journalismus sich in ihrer Ablehnung aus Übelste bestätigt sahen.
Offenbar vor diesem Hintergrund twitterte „Spiegel“-Redakteur Jonas Schaible – ohne sich explizit auf die Aiwanger-Diskussion zu beziehen:
„Der Journalismus braucht dringend konzeptionelles Nachdenken darüber, wie Unparteilichkeit als Standard in einem Umfeld bewahrt und kommuniziert werden kann, in dem zunehmend aktiv versucht wird, Politikberichterstattung als angeblich parteipolitisch zu delegitimieren.“
Die Unparteilichkeit zu „bewahren“ und sie zu „kommunizieren“ sind dabei zwei verschiedene Dinge. Wie ergebnisoffen die SZ tatsächlich in Sachen Aiwanger recherchiert hat (oder wie sehr sie auch Politikern anderer Parteien hinterherrecherchiert oder -recherchieren würde), lässt sich von außen nicht sagen. Aber der Eindruck, den sie in ihrer Kommunikation erweckt hat, war das Gegenteil von unparteilich. Dazu gehört auch die Wahl von Foto und Bildausschnitt, die Aiwanger geradezu dämonisch wirken lässt.
Natürlich ist die unmittelbare Frage, ob die SZ angesichts der Beweislage und der Tatsache, dass der umstrittene Vorfall Jahrzehnte zurückliegt, überhaupt über den Verdacht berichten durfte. Darüber werden wohl demnächst Gerichte entscheiden. Aber selbst wenn man sie bejaht, ist die Art, wie die SZ den Fall erzählt, schlecht. Viel mehr als zum Beispiel der Politikteil der FAZ setzt die „Süddeutsche“ (auch jenseits der Kommentare) auf eine wertende Art der Berichterstattung. Das kann man prinzipiell schon problematisch finden. Es ist es aber ganz besonders bei einem Fall wie diesem, bei dem es um einen gravierenden Vorwurf gegen einen Politiker geht, der der SZ alles andere als Nahe steht, bei dem die Beweislage schwierig ist und die Veröffentlichung wenige Wochen vor einer Wahl stattfindet.
Danke!
„Man sollte nicht mit dem Flugblatt anfangen, nicht mit […] “
Schon klar, SZ, hast ja extra den Konjunktiv benutzt, weils Du es dann doch tust in den eckigen Klammern…
Herzlichen Dank für diese exzellente Analyse.
Darauf habe ich gehofft: Dass Übermedien etwas zu „SZ gegen Aiwanger“ schreibt. Hier berichtet eine Zeitung nicht über Politik, sondern sie will Politik machen. Sie ist besoffen von Ihrer eigenen Macht. Aber Niggemeier bleibt nüchtern.
>Es wird noch viel diskutiert werden in den nächsten Wochen, ob die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) über den Verdacht berichten durfte, dass Hubert Aiwanger als 17-Jähriger ein antisemitisches Papier verfasst hat, juristisch.Es wird berichtet, Aiwanger habe damit geprahlt, er habe vor dem Spiegel Hitler-Reden einstudiert und dessen verbotenes Buch “Mein Kampf” gelesen.<
Weder der Besitz noch gar das Lesen von "Mein Kampf" war je verboten (auch nicht der Verkauf antiquarischer Exemplare).
Ich stimme den meisten Ihrer Einschätzungen zu, sehe aber wesentlich mehr Qualitätsmängel in der SZ-Berichterstattung. Ausführlicher: https://www.spiegelkritik.de/2023/08/26/hubert-aiwanger-am-sz-pranger/
„Aber Journalisten können zumindest den Versuch machen, ihr nicht zusätzliche Nahrung zu geben – indem sie versuchen, möglichst sachlich zu berichten und nüchtern, nicht besoffen von sich selbst. Weniger meinungsstark, weniger effekthascherisch, weniger voreingenommen: weniger angreifbar.“
Ein Appell, dem ich eine möglichst große Wirkung wünsche. Allerdings fürchte ich, dass eher das Gegenteil eintreten wird.
Bei meinem ersten Post ist offenbar etwas durcheinandergeraten. Er sollte lauten:
>Es wird noch viel diskutiert werden in den nächsten Wochen, ob die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) über den Verdacht berichten durfte, dass Hubert Aiwanger als 17-Jähriger ein antisemitisches Papier verfasst hat, juristisch.Es wird berichtet, Aiwanger habe damit geprahlt, er habe vor dem Spiegel Hitler-Reden einstudiert und dessen verbotenes Buch “Mein Kampf” gelesen.<
Weder der Besitz noch gar das Lesen von "Mein Kampf" war je verboten (auch nicht der Verkauf antiquarischer Exemplare).
Ich stimme den meisten Ihrer Einschätzungen zu, sehe aber wesentlich mehr Qualitätsmängel in der SZ-Berichterstattung. Ausführlicher: https://www.spiegelkritik.de/2023/08/26/hubert-aiwanger-am-sz-pranger/
Neben der allgemeinen indifferenten Art, die das mehr nach Anti-Aiwanger-Kampange aussehen lässt als alles andere, gibt es ja noch inhaltliche Fehler.
– wenn das Pamphlet 1987 geschrieben wurde, war Hubert Aiwanger zum Zeitpunkt der Erstellung 16 und nicht 17, was jetzt keine Blanko-Entschuldigung wäre, aber offenbar wurde die schlimmere Zahl gewählt
– das Pamphlet ist sicher _holocaustverharmlosend_, aber der Autor richtet sich nicht mehr gegen Juden als bspw. gegen Sinti und Roma, ergo ist es genauso sehr oder so wenig antisemitisch wie es antiziganistisch ist, oder man könnte es auch einfach „menschenverachtend“ nennen (auch das wäre keine Entschuldigung); das sieht jetzt etwas nach Haarspalterei aus, aber derartig ernste Vorwürfe verdienen etwas mehr Präzision im Denken und Schreiben als „freie Assoziationen“
(- dass „Mein Kampf“ nicht verboten war, kann man mMn als „geschenkt“ verbuchen; ein sich rebellisch gebender Jugendlicher wird das uU trotzdem so behauptet haben, aber bei der Widergabe sollte man das dann vllt als Zitat oder so kennzeichnen)
Und das verstärkt den Eindruck, dass die SZ sich vllt als Kämpferin für Demokratie und gegen Rechtsextremismus sieht, dass sie es sich aber viel zu leicht macht und dass der Eindruck einer „Kampagne“ vllt nicht nur ein Versehen ist.
Meinetwegen kann Aiwanger nächstes Mal komplett abgewählt werden, aber ich habe leider nicht den Eindruck, dass die SZ dazu beiträgt.
Warum soll das 1987 und nicht 1988 gewesen sein? Nur wegen dem angegebenen „Terminschluss“ 1.1.88? Aber das war ja ohnehin kein echter Wettbewerb, und die „1.1.88“ passt perfekt zu dem Inhalt eines rechtsextremen Flugblatts.
Oder man nimmt halt den 20.4.88, Hitlers 99. Geburtstag.
Anders gefragt – hat die SZ recherchiert, wann genau das Pamphlet in Umlauf kam, und die Altersangabe „17 Jahre“ basiert auf dieser Recherche?
Danke. Vor Wochen hab ich das SZ Abo gekündigt (Rammstein Berichterstattung). Das war mein letztes Abo einer grösseren deutschen Zeitung. Hier und bei Steady hab ich noch eins. Bin übrigens Wählerin links der SP Schweiz, komme nicht etwa aus dem rechtem Spektrum. Ich gehöre nun auch zu Denen, die abgesprungen sind. Hier kann ich die Entwicklung verfolgen und manchmal habe ich noch Hoffnung.
Der Kommentar #5 ist ein schönes Beispiel dafür, wie rechtsgerichtete Propaganda funktioniert: Zunächst wird die Banalität verbreitet, dass „der Besitz noch gar das Lesen von ‚Mein Kampf‘ … je verboten“ war, was bei dem flüchtigen Leser (vgl. #8) den Eindruck hinterlässt, das (Mach-) Werk als Solches sei nicht verboten gewesen. Unausgesprochen bleibt, was mit der Aussage bewiesen oder (zumindest) insinuiert werden soll – und es bleibt weniger als eine Halbwahrheit: Von volksverhetzenden Schriften Kenntnis zu nehmen, ist nicht verboten. Es bleiben aber volksverhetzende (und strafbare) Schriften.
Danke, Stefan. Es tut sehr weh, zu lesen, wie die SZ vermeintlich machttrunken endlich™ Aiwanger absägen zu können glaubt.
Ein in meinen Augen wesentliches Detail, das ich nicht verstehe:
Wer „findet“ Flugblätter in einer Schultasche? Gab es damals in bayerischen Schulen generelle Taschenkontrollen? Von wem durchgeführt? Wie muss man sich das vorstellen (mit der Stimme von Reinhold Beckmann gesprochen)?
Ich bin etwas älter als Aiwanger und hatte in ähnlichem Alter zur selben Zeit in einem Artikel in unser Schülerzeitung einen Satz geschrieben, mit dem ich die Absurdität der Behauptung, dass ein von mir sehr geschätzter, sehr strenger, aber besonders guter Mathe-Lehrer „ein Rechter“ sei, belegen wollte. Das hat nicht so gut geklappt und eben dieser Lehrer fühlte sich von mir als Nazi beleidigt und wollte mich von der Abschlussfahrt ausschließen lassen. Auch er drohte mir mit Anzeige bei der Polizei („Viel Erfolg!“). Wenn irgendwer aus der Schule auch nur versucht hätte, meine „Schultasche“ anzufassen, wäre Polen offen gewesen. Vielleicht waren wir in Hessen, oder ich schon damals (1986) total anarchistisch links-grün-versifft?
Mein damaliger Schulleiter hat die Situation in kürzester Zeit vollständige geklärt („Wenn Sie mit Herrn R. nicht auf Abschlussfahrt fahren wollen, dann bleiben Sie halt hier….An Ihrem Textverständnis hapert es scheinbar, wenn es nicht um Mathematik geht…Beleidigt hat er Sie nicht…Werden Sie erwachsen.“). Am Ende bin ich gefahren und er nicht.
Was ich sagen will. Was waren das für merkwürdige Zustände in bayerischen Gymnasien? Liegt es vielleicht auch an den damaligen Verhältnissen, dass Aiwanger der erzkonservatistische Populist geworden ist, der er geworden ist?
@Th. Koch Wo immer Sie jetzt rechtsgerichtete Propaganda sehen, aber wenn mein Hinweis „bei dem flüchtigen Leser (vgl. #8) den Eindruck hinterlässt, das (Mach-) Werk als Solches sei nicht verboten gewesen“, dann hat er es richtig verstanden. Verboten war stets nur der Nachdruck, weil der Freistaat Bayern das Urheberrecht geerbt hatte und damit allein über die Nutzungsrechte verfügen durfte. BGH-Urteil: https://research.wolterskluwer-online.de/document/c6c8d84a-e74a-474f-83fd-19a39170a751
@ Th. Koch #12:
Das ZDF hat das mal schön für Sie zusammengefasst:
Was genau „bleibt weniger als eine Halbwahrheit“? Wo genau sind die Kommentare #5 und #8 „rechtsgerichtete Propaganda“?
@Stefan Niggemeier (#9): Sie fragen hier nach dem Publikationsdatum? Steht nicht in Ihrem Text oben: „Im Zeichnen einer langen Linie von dem antisemitischen Pamphlet 1987 nach Erding 2023 beleuchtet die SZ auch Aiwangers überraschende Wahl zum Landeschef der Freien Wähler 2006.“
Man könnte natürlich auch einfach Helmut Aiwanger fragen, aber auch dessen „Begründung“ für seinen Gemütszustand, nämlich dass er sitzengeblieben ist, spricht für die erste Hälfte des ominösen „Schuljahrs 1987/88“.
#15: Man sollte nicht jeden (Kurz-) Schluss von ÖRR-Journalisten glauben: Richtig ist, dass der BGH vor mehr als 50 Jahren mit einer haarspalterischen Fehlentscheidung seine schützende Hand über NS-Propaganda gehalten hat und Neupublikationen aus urheberrechtlichen Gründen nicht verkauft werden durften, weshalb das Thema nur geringe praktische Bedeutung hatte. Der Vergleich bezieht sich daher bewusst auf § 130 StGB, der objektiv eindeutig erfüllt sein dürfte (und bei dem bedingter Vorsatz grds. ausreicht).
Auf die Schnelle:
https://www.fr.de/kultur/literatur/hitlers-mein-kampf-bleibt-ver
boten-11162024.html
Bizarre investigativ-journalistische Hervorbringung: die abenteuerliche atemberaubende fesselnde Thriller-Story in epischer Breite „Das verräterische W“
https://www.sueddeutsche.de/bayern/aiwanger-flugblatt-gutachten-1.6165864
„…was bei dem flüchtigen Leser (vgl. #8) den Eindruck hinterlässt, das (Mach-) Werk als Solches sei nicht verboten gewesen…“
Die Behauptung was, dass Aiwanger es gelesen habe. Bzw., dass er damit geprahlt habe, es gelesen zu haben (und irgendwer, Aiwanger selbst, die Zeugen oder die SZ haben es als „verboten“ deklariert). Es ist aber nicht der Vorwurf, dass er es illegal erworben habe, anstatt es bspw. im Schrank von seiner Oma zu finden, insofern stellt sich schon die Frage, was genau mit „verboten“ gemeint sein soll.
Alles bezogen auf die Rechtslage und Rechtsprechung von 87/88.
Wie gesagt, ist schon eher haarspalterisch, aber addiert sich zu einer gewissen Gedankenlosigkeit, weil der eigentliche Vorwurf – Interesse an Hitler und Prahlen damit – ja auch ohne das „verboten“ belegt wäre. (Bzw. so belegt, wie Hörensagen von Leuten, die sich nicht so richtig festlegen wollen, halt ist.)
Ich finde, man kann der SZ nicht genug danken, dass sie so einen Dreck nach oben spült.
@Stefan Niggemeier:
Starker Text. So sehr ich dem Herrn Aiwanger eine Wahlniederlage gönne, so unwohl ist mir bei der Art und Weise, mit der hier seit Tagen eine 35 Jahre alte Sau durchs Dorf getrieben wird.
@nömix (#18):
„die abenteuerliche atemberaubende fesselnde Thriller-Story in epischer Breite `Das verräterische W'“
Danke. Das ist ja fast schon Realsatire!
Zu vermittelnder Inhalt: Ein schadhaftes „W“ legt nahe, dass das Flugblatt auf derselben Schreibmaschine getippt wurde, die Hubert Aiwanger später für eine Facharbeit verwendet hat.
Gewählte Form: Drei Leute berichten auf 9.300 Zeichen über den Lebenslauf des Schriftexperten; sie liefern einen Grundkurs über die Häufigkeit von Buchstaben im Deutschen und einen in Schreibmaschinen-Kunde; sie erzählen von einer Heldenreise durch Rottenburg (mit retardierendem Moment) und vom Gutachten des Schriftexperten (noch ein retardierender Moment).
Sie versteigen sich zu der Behauptung, „der linke Schenkelbereich der Majuskel W“ verrate (da kaputt) „sehr viel über die Vergangenheit von Hubert Aiwanger“; er spiele „womöglich“ eine Rolle für „die politische Zukunft des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bayerns.“
Und im vorletzten Absatz verstecken sie dann den Haken (auf den man als Leser freilich selbst schon kam), dass ja auch Huberts Bruder Helmut die Maschine benutzt haben könnte – womit gar kein Widerspruch zur Version der Aiwangers besteht und das ganze Soufflé in sich zusammenfällt.
Wow. Was für ein aufgeblasener Unfug.
@Th. Koch #17: Was genau „bleibt weniger als eine Halbwahrheit“? Wo genau sind die Kommentare #5 und #8 „rechtsgerichtete Propaganda“?
Wie schön, dass Sie und die Frankfurter Rundschau – ist ja kein „(Kurz-) Schluss von ÖRR-Journalisten“, sondern freier, privater Qualitätsjournalismus – genau Bescheid wissen und das BGH keine Ahnung hat.
Ds ist aber auch vollkommen egal. Denn: Warum sollte in der Diskussion wichtig sein, ob heute oder 1987/88 Mein Kampf verboten ist bzw. war? Das macht keinen Unterschied.
#22: Nun ja: Das rechtswissenschaftliche Schrifttum und die Rechtsprechung sind sich in der Beurteilung des genannten (Mach-) Werkes mit Blick auf § 130 StGB indes einig. So findet sich bei Schäfer/Anstötz, Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 130 Rn. 68 (mwN in Fn. 315) folgende Passage:
„Die Vorschrift findet – anders als § 86 – auch Anwendung bei einem Inhalt, der vor Inkrafttreten der Norm verfasst wurde. Hierunter fallen vor allem solche aus der NS-Zeit, etwa … Hitlers „Mein Kampf“.
Aus der Rechtsprechung sei genannt VG Aachen, Beschl. v. 5.2.2003 – 8 L 1284/02, Rn. 10.
Ergänzend noch ein kurzes Statement von RA Solmecke:
https://www.wbs.legal/medienrecht/mein-kampf-adolf-hitlers-mein-kampf-bleibt-verboten-20160/
Aber schön, dass Sie offenbar die nötige Expertise haben, um diese Einschätzung(en) zu widerlegen. Nur zu.
Berechtigt ist die Frage, warum in der Diskussion wichtig sein sollte, ob heute oder 1987/88 „Mein Kampf“ verboten ist bzw. war. Da bin. ich aber der falsche Adressat. Bitte wenden sie sich dazu an diejenigen, die dieses Fass objektiv anlasslos aufgemacht haben. Mir fällt als Grund nur der Wille zur Relativierung des Vorgangs ein. Aber womöglich mangelt es mir da an Phantasie.
@Kritischer Kritiker #21: Vielen Dank für die Zusammenfassung des Artikels hinter der Bezahlschranke der SZ. Moneyqoute:
Noch nie war sich ein Sachverständiger weniger sicher.
@Th. Koch #23:
Noch mal, Sie (und auch leider ich) bedienen hier Nebenkriegsschauplätze.
Meines Wissens bezichtigt niemand die Aiwanger-Brüder Mein Kampf neu aufzulegen und verkaufen zu wollen.
Das Besitzen, Lesen oder Verkaufen von Mein Kampf ist und war nie strafbar. Selbst das auswendig Aufsagen können von Passagen daraus oder anderer Hitler-Reden mit „passender“ Gestik, Mimik und Betonung vorm heimischen Spiegel nicht. Und das angebliche Prahlen damit auch nicht.
Es. Ist. Und. Bleibt. Egal.
@SvenR (#24):
Gerngeschehen. Das „legt nahe“ stammt allerdings aus meiner Paraphrase. Der Gutachter schrieb laut SZ von „sehr wahrscheinlich“.
Ich finde es halt nur absurd, was für ein Brimborium da betrieben wird, um nachzuweisen, dass das Flugblatt auf einer Schreibmaschine im Hause Aiwanger getippt wurde – was ja, da sich der Bruder dazu bekannt hat, niemand bestreitet. (Natürlich kann das brüderliche Bekenntnis eine Schutzbehauptung sein, aber dazu weiß der Artikel nichts beizusteuern.)
Um den Bogen zum anderen Thema zu schlagen: Man erfährt auch, dass besagter Schriftexperte Proben von eben der Schreibmaschine besitzt, auf der das Manuskript von „Mein Kampf“ getippt wurde – warum man das erfährt, weiß ich nicht, aber das gilt für die meisten Informationen aus dem Artikel .
@ Kritischer Kritiker
„Ich finde es halt nur absurd, was für ein Brimborium da betrieben wird, um nachzuweisen, dass das Flugblatt auf einer Schreibmaschine im Hause Aiwanger getippt wurde.“
Den Artikel und das Gutachten über die Schreibmaschine hatte die SZ sehr sicher schon lange voher parat, aber die Info nicht im hier besprochenen „Enthüllungsartikel“ verwertet. Das Kalkül – ich unterstelle es – war hier bestimmt: Wenn der Aiwanger behauptet, er habe damit nix zu tun, ziehen wir ein zwei Tage später diesen Joker aus dem Ärmel und sagen „ha!“. Die Erklärung mit dem Bruder nahm dem ganzen dann natürlich fast vollständig die Wucht und deswegen und der vorbereitete Artikel wurde verschämt ergänzt und trotzdem veröffentlicht.
Warum diese Petitesse im größeren Rahmen interessant ist: Es zeigt, dass die SZ eine Eskalationsstrategie geplant hatte: Nicht alles auf den Tisch legen, den Aiwanger dementieren lassen, dann nachlegen.
All das zeigt, wie ja auch der hervorragende Beitrag hier -, dass dies ganz klar ein geplanter „Abschuss“ war.
Hässlich finde ich das…
Wenn der Experte Hitlers Schreibmaschine hat, ist er für Nazisachen noch viel expertiver als irgendein anderer!
Ich halte es tatsächlich für möglich und sogar plasusibel (per Ferndiagnose), dass Hubert mehr mit den Flugblättern zu tun hatte als er sagt, aber wenn die SZ das nicht plausibel beweisen kann, nutzt ihr das nichts.
Und wenn die Schule damals, wie es wohl richtig gewesen wäre, Huberts Schulranzen von der Polizei hätte durchsuchen lassen, und wenn es dann zu Anzeige gekommen wäre wegen §130, dann hätte der Prozess wegen Jugendstrafrecht unter Auschluss der Öffentlichkeit (SZ) stattgefunden, und wenn er verurteilt worden wäre, wäre der Eintrag in seinem Führungszeugnis längst gestrichen.
Immer wieder schön, wenn schlaue Menschen rechtstaatliche Schutzvorschriften umgehen können.
@Kritischer Kritiker
Vielen Dank für den Blick hinter die Bezahlschranke.
Bleibt nur eine Frage offen: Was ist eine Schreibmaschine?
Zurück zum Programm: Ich finde @Niggis Analyse/Kritik sehr gelungen und notwendig.
Ich würde noch einen Punkt anmerken: Der Stil der Veröffentlichung lässt vermuten, dass auch die Anfrage an Aiwanger ähnliche Untertöne hatte.
Damit hatte Hubsi überhaupt keine Chance (so er das denn gewollt hätte) zu antworten: ‚Damals bin ich Neo-Nazis auf den Leim gegangen, mein Gott, was war ich für ein Idiot, aber diese Lehre habe ich beherzigt.‘
Das wirklich Deprimierende an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist ja bis heute, dass fast keiner der tatsächlichen Täter sich je dazu bekannt und dann abgeschworen hat. Man hatte entweder nichts gewusst, nur auf Befehl gehandelt oder das Beste gewollt und war von Hitler reingelegt worden. Man lese Speer.
Nicht mal Grass war bei der Waffen-SS.
Ich sehe darin einen der Gründe, warum die Höckes dieser Welt überhaupt eine Chance haben, die Scheiße als Schokolade zu verkaufen.
Und damit zurück zur SZ, die offenbar nicht kapiert, dass „wir haben das Beste gewollt“ ein Synonym für „wir haben es nicht gekonnt“ ist.
@Chateaudur (#27):
„Wenn der Aiwanger behauptet, er habe damit nix zu tun, ziehen wir ein zwei Tage später diesen Joker aus dem Ärmel und sagen ‚ha!‘.“
Ja, das klingt plausibel. Ohne die Sache mit dem Bruder wäre der Text zwar auch prätentiös gewesen – aber ein Joker, der sticht. So ist er einfach nur peinlich.
@Mycroft (#28):
„Wenn der Experte Hitlers Schreibmaschine hat, ist er für Nazisachen noch viel expertiver als irgendein anderer!“
Nicht die Schreibmaschine; nur ein paar Zettel, die damit getippt wurden. Na ja, sowas überträgt sich wahrscheinlich.
„Ich halte es tatsächlich für möglich und sogar plasusibel (per Ferndiagnose), dass Hubert mehr mit den Flugblättern zu tun hatte als er sagt,…“
Ich auch, aber das macht aus der SZ-Nummer noch keinen seriösen Journalismus.
„…aber das macht aus der SZ-Nummer noch keinen seriösen Journalismus.“
Nee, vor allem: angenommen, das Geständnis vom Bruder wäre eher gekommen, also noch vor der Veröffentlichung. Oder irgendwer erinnert sich, dass das damals der Bruder war, aber Hubert ist von den Lehrern eingeschüchtert worden, und viele Mitschüler wüssten das, hielten aber die Klappe (weil der ältere Aiwanger Verräter so wenig leiden konnte, dass er Phantasien davon hatte, sie per Massenmord zu töten…), wieauchimmer:
Die SZ hätte das nur mit ganz viel Recken und Strecken das als Enthüllungsstory auf Seite 3 verkaufen können – so ähnlich, wie die BILD mal Sachen über den Vater von Steffi Graf erzählt hat – oder irgendwer in der Chefredaktion hätte gesagt: „Ja, schade um die ganze Arbeit, aber lasst das mal. Die Story ist geplatzt.“
Jetzt wird über das Für und Wider von Aiwangers Verbleib in der Politik diskutiert, d.h., die schlechtere Arbeit der SZ wird belohnt, indem sie mehr öffentlichen Impakt erzeugt.
@Mycroft (#8):
Sorry für den Rücksprung, aber das Thema beschäftigt mich heute. Habe gerade den DLF-Podcast „Der Tag“ gehört, und auch dort war dauernd von „antisemitischem Gedankengut“ die Rede. Ich finde, das passt überhaupt nicht: Das Flugblatt ist eine Vernichtungsphantasie gegenüber „Volksverrätern“ – und das waren bei den Nazis eben keine Juden, sondern „arische“ Gegner des Regimes: Kommunisten, Sozialdemokraten, Bekennende Kirche, Weiße Rose & Co. Dachau steht in besonderem Maß für den Terror der Nazis gegen diese politischen Gegner, weil es den SS-Totenkopfverbänden als „Ausbildungs-KZ“ diente (siehe auch „Dachauer Schule“).
Zudem fehlen Bezüge sowohl auf Juden als auch auf die klassischen, antisemitischen Codes (wie „Ostküste“, „Plutokraten“, „Strippenzieher im Hintergrund“, „Israel“, etc.). Hier von „antisemitischem Gedankengut“ zu sprechen, ist weder eine Übertreibung noch eine Verharmlosung, sondern schlicht Ausdruck von Denkfaulheit: Wie können wir das nennen? Hm, keine Ahnung. Aber Antisemitismus passt eigentlich immer, und schließlich wird ja auch Auschwitz erwähnt.
Aber Antisemitismus ist eine ernste Sache, die man nicht einfach als beliebige Chiffre für „was Böses mit Nazis“ verwenden sollte – nur weil man gerade keinen Bock hat, genauer zu analysieren. Dann übernehmen das nämlich alle, und das Niveau der Debatte wird unterirdisch.
Mir scheint, hier wollten die Verfasser ihren linken Mitschülern (den „Volksverrätern“) einen Schrecken einjagen. Vermutlich fanden sie das witzig – rechter Pennälerhumor der zynischsten Sorte. Dass sie gleichzeitig auch antisemitisch dachten, ist nicht unwahrscheinlich. Niedergeschrieben haben sie das in diesem Flugblatt aber nicht.
@Kritischer Kritiker
„Aber Antisemitismus ist eine ernste Sache, die man nicht einfach als beliebige Chiffre für „was Böses mit Nazis“ verwenden sollte – nur weil man gerade keinen Bock hat, genauer zu analysieren.“
So wahr! Ich frag mich auch schon seit Samstag, warum das das Label ist, das wirklich ALLE Medien nachplappern. „Rechtsextrem“ wäre viel passender.
Was mich zudem auch noch beschäftigt, dass in der Debatte nicht so ganz klar wird, warum diese folgenlose, aber immerhin saudumme Kleintat von Minderjährigen – wer auch immer jetzt alles daran Anteil hatte – heute nach 35 Jahren relevant sein sollte. Die angeblichen, irgendwie „rechten“ Kontinuitätslinien, die selbst die SZ nur halbherzig behauptet, können doch kaum wen überzeugen.
Es ist Schmeißen mit Dreck, damit was Kleben bleibt. Bin an Sarah-Lee Heinrich von der Grünen Jugend erinnert.
Eine kleine stilkritische Anmerkung zu einem ansonsten überzeugenden Artikel, weil es mir in letzter Zeit geballt auffällt – Sie schreiben: „Vor allem die Seite-3-Geschichte, die sie am Samstag veröffentlichte, ist problematisch, weil sie nicht nüchtern über die Vorwürfe berichtet, sondern all jenen Munition gibt, die ihr unterstellen, eine Agenda zu haben: Aiwanger kurz vor der Wahl wegzuschreiben.“
Nun, dass eine Zeitung, die seit 1957 gegen jede CSU-Regierung anschreibt, und Aiwanger als „gefährlichen Rechtspopulisten“ bezeichnet, der „AfD-Thesen salonfähig macht“, natürlich eine Agenda hat, diese Koalition und den FW-Spitzenmann aus dem Amt zu schreiben, ist jetzt keine sonderlich gewagte These. Es ist im übrigen in einer freien Medienlandschaft auch legitim, die SZ ist nicht zur Neutralität verpflichtet wie der ÖRR.
Warum also der Disclaimer „gibt Munition“, den man in den letzten Jahren auch in der Abwandlung „bedient das Vorurteil“, „ist Wasser auf die Mühlen“ etc. so häufig liest?
Ist das jetzt die akzeptierte Chiffre für „Ich habe eine Beobachtung gemacht, der mein politischer Gegner zustimmen würde, aber ich will keinesfalls den Eindruck erwecken, mit dem gemeinsame Sache zu machen“?
Das – um den Kunstgriff einmal umgekehrt anzuwenden – „liefert all denen Munition“, die glauben, „dass die Mainstream-Medien auch bestreiten würden, dass 2+2=4 ist, sobald die AfD das sagt“.
Fordert die AfD nicht Aiwangers Rücktritt?
@#34 Meister Petz
Man könnte natürlich auch argumentieren:
Schriebe die SZ neutraler und sachlicher, könnte sie die ihr unterstellte Agenda („diese Regierung muss weg“) erheblich effektiver voranbringen.
So oder so: Für mich bedeutet guter Journalismus nicht, dass über ihn (jenseits von Fachseminaren) kritisch diskutiert wird/werden muss.
@Mycroft
„Fordert die AfD nicht Aiwangers Rücktritt?“
Tut sie. Und ich hoffe, die Brandmauer hält ;)
Da ein Minister in Bayern nicht vom MP entlassen werden kann, sondern der Landtag über die Entlassung abstimmen muss, stelle ich mir gerade vor, wie Katha Schulze und Florian von Brunn im gemeinsamen Kampf gegen die Nazis in Bayern mit 18 von 22 AfD-Abgeordneten abstimmen, die bei der Gedenkfeier für NS-Opfer im Landtag den Saal verlassen haben. Welch absurdes Theater.