Welzers Datenjonglage

Die Empirie geschlossen – und alle Fragen offen

Harald Welzer
Harald Welzer Foto: Imago / NurPhoto

Nötig hätte es Harald Welzer eigentlich nicht: Bei aller medialen Kritik an seinem Buch „Die vierte Gewalt“, die auch Übermedien mehrmals formulierte – verkauft hat es sich wie geschnitten Brot. Und damals wie heute tourt Welzer durch Interviews, Lesungen, Podiumsdiskussionen und Talkshows – und kann sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein – ja, er ist ein „Publikumsmagnet“.

Dennoch hat Welzer jetzt in der vom Fischer-Verlag herausgegebenen Zeitschrift „Neue Rundschau“ nachgelegt: Die im Buch vorgetragene Klage, wonach deutsche Medien vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein einseitiges und gefährliches Bild zeichneten, soll nun empirisch untermauert werden. Denn, so Welzer gemeinsam mit seinem neuen Co-Autoren Leo Keller, seine Behauptung, „dass eine starke Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung herrsche, führte im vergangenen Herbst zu einiger Aufregung, zumal der empirische Beleg für diese These damals noch ausstand, wie nicht zu Unrecht moniert wurde.“

Doch nun, so die Autoren, könne dieser Beleg „nachgeliefert werden, und zwar gleich doppelt“: Zum einen berufen sich Welzer und Keller auf die Ergebnisse einer Forschungsgruppe um Markus Maurer von der Uni Mainz, zum anderen haben sie eine eigene Untersuchung durchgeführt, über „den viel längeren Zeitraum vom 1. 2. 2022 bis zum 31. 1. 2023.“ Der Verweis auf die Mainzer Studie überrascht dabei, denn diese war zu deutlich anderen Ergebnissen gekommen als Precht und Welzer.

13,5 Millionen Twitter-Beiträge

Welzers empirische Grundlage umfasst nach eigenen Angaben nun:

„107.000 Texte, die zum Thema ‚Krieg in der Ukraine‘ in den Leitmedien über diese Periode hinweg publiziert wurden (mit Ausnahme jener der ‚Zeit‘, die ihre Artikel für automatisierte Crawling-Prozesse nicht zur Verfügung stellt), dazu konnten wir auch 1,1 Millionen Beiträge aus 140 Regionalzeitungen auswerten. Neben den Texten zum Ukrainekrieg in diesen traditionellen Medien haben wir für diesen Text auch 13,5 Millionen Twitter-Beiträge analysiert, die im selben Zeitraum zum Krieg erschienen sind.“

Das klingt gewaltig und wirft doch unmittelbar Fragen auf: Die naheliegendste lautet, wie eine empirische Studie, die bis Ende Januar 2023 andauerte, die Thesen eines Buches belegen kann, das im Herbst 2022 erschien. Selbst wenn man Welzer darin folgen wollte, dass sich die in „Die vierte Gewalt“ beschriebene Tendenz seitdem nur noch verschärft habe, so erinnert die Methodik doch ein wenig an Kunden, die im Einzelhandel im Mai nach den Rabatten von April fragen. Anders gesagt: Wer immer schon wusste, dass er Recht hat, kann natürlich auch empirische Studien als Belege für seine Thesen heranziehen, deren Untersuchungsgegenstand zum Zeitpunkt ihrer Publikation noch gar nicht extistierte. Nach ergebnisoffener oder auch einfach seriöser Forschung klingt das allerdings nicht.

Um es vorwegzunehmen: Mit viel Aufwand und sprachlichem Glitter versucht Welzer seinem Essay den Mantel der Wissenschaftlichkeit umzuhängen. Es soll der auf empirischer Forschung beruhende Beweis angetreten werden, dass seine und Prechts Thesen von der Einseitigkeit der Medien, ihrer Verliebtheit in die eigene Rolle und Macht, ihrer von der öffentlichen Meinung massiv abweichende veröffentlichte Meinung nicht einfach nur Bauchgefühl sind, sondern wissenschaftlich begründ- und belegbar. Doch die scheinbare Empirie, die hier betrieben wird, besteht vor allem darin, bereits vorher feststehende Ergebnisse mit einem Datenwust zu unterfüttern.

Dazu dienen dann auch sage und schreibe „13,5 Millionen Twitter-Beiträge“, die angeblich „analysiert“ wurden. Twitter? Wir erinnern uns:

„Die allermeisten der auf Twitter abgesonderten Kommentare dienen nicht der inhaltlichen Auseinandersetzung mit einer Aussage, einem Text oder einem Gedicht. Sondern sie nehmen so etwas lediglich als Anlass, eine eigene Auffassung oder Haltung kundzutun. Mit anderen Worten: Tweets dienen nicht der Entwicklung und Prüfung eines Arguments, sondern dem sozialen Design des Absenders – denn der macht ja, getriggert durch irgendeinen Anlass, mit einem Tweet seine Haltung klar. […] Eine Haltung wiederum ist kein Mittel der rationalen Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, sondern bereits das Ergebnis vorausliegender Meinungsbildungen, die sich zu so etwas wie einer ausstellbaren Haltung verdichten.“

So konstatierten Precht und Welzer in „Die vierte Gewalt“ – und fast könnte man meinen, es handle sich um eine unfreiwillig-Freud’sche Beschreibung des eigenen Tuns.

Und das war nur eines der im Buch enthaltenen schroffen Urteile über die von Precht und Welzer „Direktmedien“ genannten Social-Media-Plattformen. Auch hieß es: „Besonders abenteuerlich und fragwürdig“ sei es, „wenn Twitter-Tweets zum Gegenstand leitmedialer Berichterstattung gemacht werden.“ Als Forschungsgegenstand scheinen sie dagegen bestens geeignet, so lange Anzahl und Inhalt die eigene Auffassung zu bestätigen scheinen. Schon ist nicht mehr von Tweets die Rede, sondern blumig von „Beiträgen“ oder sogar „Twitter-Dokumenten“, ganz so, als handle es sich um etwas anderes als jene 280 Zeichen pro Tweet, mit denen die angebliche „Erregungs- und Haltungsdemonstrationsmaschine“ (Precht und Welzer über Twitter) angetrieben wird.

Auswertung mit Marketingtool

Bemerkenswert ist auch die weitere Methodik: So erfährt man, dass die empirische Analyse „sich auf eine Datenbank mit 19,3 Millionen Texten zum Ukrainekrieg“ stütze, die „uns das Beratungsunternehmen Blue Ocean Semantic Web zusammen mit Talkwalker zur Verfügung stellte“:

„Das verwendete Analysesystem von Talkwalker erlaubt es, sehr große Mengen von zunächst unstrukturierten Daten zu erfassen, nach formalen und inhaltlichen Kriterien zu strukturieren und zu indexieren. Anschließend kann es auf spezifische Fragestellungen hin inhaltlich ausgewertet werden. […] Mit Hilfe einer proprietären, leistungsstarken AI-Engine werden die Daten segmentiert, kategorisiert und indexiert. […] Die hier verwendete AI Engine von Talkwalker besteht aus einer Vielzahl von komplexen Software-Elementen: Big Data, Machine Learning, NLP Natural Language Processing, OCR optische Zeichenerkennung, Bilderkennung, Sentiment Analyse etc.“

Das klingt verdächtig nach wissenschaftlich verbrämtem Big-Tech-PR-Sprech – und nach der Eigenbeschreibung des Produktes durch Talkwalker: „Mit der Power der Talkwalker AI Engine können Analyseprojekte von höchster Datenqualität mit minimalem Aufwand durchgeführt werden.“ Oder auf English: „Sentiment analysis – opinion mining – uses AI technology to analyze people’s opinions to determine whether a piece of text is positive, negative, or neutral. A sentiment analysis tool combines NLP Natural Language Processing and machine learning.“

Halten wir fest: Welzer benutzt einen der führenden kommerziellen Anbieter für die Auswertung von Online-Texten und Social-Media-Plattformen dazu, seine empirische Inhaltsanalyse der Artikel und Beiträge deutscher Leitmedien durchzuführen. Das Tool, das er benutzt und mit dem ganzen Begriffs-Brimborium angepriesen wird, dient eigentlich dem Marketing: Unternehmen sollen damit herausfinden, wo und wie über ihre Produkte geredet wird und entsprechend reagieren können. Wie Welzer damit genau komplexe Fragestellungen analysiert hat, wie sie im Folgenden von den Autoren beispielhaft genannt werden (u.a. „Wie oft wurde die Forderung nach Kampfpanzerlieferungen thematisch“; „Wie oft wurden Eskalationspotentiale thematisch“), wird nicht erklärt, aber man hätte es gerne gewusst.

Auch gerne gewusst hätte man, welche Rolle Co-Autor Leo Keller in dem Ganzen eigentlich spielt. Er wird von der „Neuen Rundschau“ als „Pionier im Bereich der Semantic Web Intelligence“ vorgestellt, der „eigene Semantic Intelligence Systeme“ „für verschiedenste Kunden und Projekte“ entwickle.

Was man nicht erfährt: Keller ist nach eigenen Angaben seit 2009 CEO des Beratungsunternehmens Blue Ocean Semantic Web, das die Datenbank für die Analyse laut Text „zur Verfügung stellte“. Was genau das Schweizer Unternehmen, mit einer offenbar seit Jahren nicht wesentlich veränderten Webseite qualifiziert, eine solche Datenbank wissenschaftlich auszuwerten, bleibt ebenso rätselhaft wie die Doppelrolle seines CEOs, der gleichzeitig als Autor der empirischen Analyse fungiert.

Schließlich ist die quantitative und qualitative Auswertung von journalistischen Texten, die hier vermeintlich versucht wird, kein Nebenprodukt von Marketing-Gurus. Wer sich anschauen möchte, wie seriöse Forschung solche Textkonvolute codiert und analysiert, wird im Methodenteil der erwähnten Mainzer Studie „Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg“ von Maurer et.al. fündig. Welzers Methode hingegen bleibt opak: Es wird mit riesigen Zahlen und angeblich unglaublicher leistungsfähiger KI geprotzt – doch im Detail erklärt wird so gut wie nichts.

Die internationalen Fünf

Das alles wäre mit „schwierig“ freundlich umschrieben, aber auch die vorgelegten Ergebnisse sind lediglich Bestätigungen dessen, was Welzer eh schon zu wissen glaubte. So wird die vermeintliche Abwesenheit namhafter internationaler Expert:innen in deutschen Leitmedien damit „belegt“, dass man nach fünf von ihnen gesucht und sie nicht oft gefunden hat. Die Liste dieser Experten (Ivan Krastev, Gideon Rachman, David Remnick, Keith Gessen und Ranjan Nair) ist nicht nur vollkommen willkürlich (bis auf die Tatsache, dass die Genannten eventuell mehr zu Welzers eigener Sicht auf den Krieg neigen), sie ist auch noch unfreiwillig entlarvend.

Denn mit „Ranjan Nair“ ist anscheinend Chandran Nair gemeint, ein malaysischer Berater und Gründer des in Hong Kong ansässigen Think Tanks „Global Institute for Tomorrow“, der für eine multipolare Weltordnung mit mehr chinesischem Gewicht wirbt. Wie wichtig dessen Rolle international ist, sei dahingestellt, man fragt sich allerdings, ob Welzer und Keller und die „leistungsstarke AI Engine“ den Namen nur deshalb nicht finden konnten, weil sie ihn falsch schreiben. Oder umgekehrt: Wie sie ihn bei der Schreibweise überhaupt finden konnten – ein Kunststück, zu dem zumindest Google nämlich nicht in der Lage ist.

Nachdem diese Merkwürdigkeit thematisiert wurde, wurde aus „Ranjan“ in der Online-Ausgabe der „Neuen Rundschau“ irgendwann „Chandran“ – ohne die nachträgliche Korrektur zu erwähnen oder erklären.

Dass man sowohl mit Krastev als auch mit Rachmann lange „Spiegel“-Interviews zum Krieg und zur Weltlage findet, sei nur am Rande erwähnt, genauso die Tatsache, dass man auf ganz andere Expert:innen hätte kommen können (zum Beispiel Timothy Snyder) – mit deutlich mehr Präsenz in deutschen Medien.

Sich selbst erfüllende Prophezeiung

Am Ende wird der Häufigkeit der Nennung von Politiker:innen und Expert:innen in deutschen Leitmedien allen Ernstes die Häufigkeit von Nennungen auf Twitter gegenübergestellt. Offenbar glauben die Autoren Welzer und Keller deutlich mehr an die Abbildung der Realität durch das als „Erregungs- und Haltungsdemonstrationsmaschine“ verschriene „Direktmedium“, als es die Autoren Precht und Welzer in ihrem Buch taten.

Man wird sich schon entscheiden müssen: Wenn die sozialen Medien eine gefährliche, auf Polarisierung angewiesene und Polarisierung erzeugende Erregungsmaschine sind, dann kann man nicht gleichzeitig unkritisch (von möglicher Manipulation einmal ganz abgesehen) die Häufigkeit der Nennung von Sahra Wagenknecht als Beleg dafür nehmen, diese sei im medialen Diskurs gegenüber Marie-Agnes Strack-Zimmermann krass unterrepräsentiert.

Die hier betriebene Empirie ist daher nichts weiter als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung mit intransparenter Methodik und objektiv nicht nachvollziehbaren Kriterien. Der Popularität Prechts und Welzers, die genau von jenem medialen Aufmerksamkeitszirkus leben, den sie vermeintlich kritisieren wollen, wird all dies keinen Abbruch tun.

Und so strickt man nolens volens ein bisschen selbst mit an jener Polarisierung, die man den Medien vorwirft, und von der man behauptet, sie bekämpfen zu wollen. Doch je öfter Harald Welzer „beweist“, wie einseitig deutsche Medien berichten, desto sicherer können sich diejenigen fühlen, die daraus eine bewusste Manipulation ableiten. Die bestmögliche Version der Wahrheit ist das allerdings nicht – und Wissenschaft auch nicht.

8 Kommentare

  1. Vielen Dank für diese Analyse, großartig geschrieben und sehr kurzweilig. Auch dieser selbstbesoffene Rechtfertigungsversuch von Welzer lässt mich wieder mit der Frage zurück: Verblendung oder Vorsatz?

  2. Danke für diesen Ausgezeichneten Artikel, das ist Balsam für meine Seele.

    Ich hab einen kleinen Tippfehler entdecken können: „und nach der Eigenbeschreibung des Produktes drch Talkwalker:“ es müsste „durch Talkwalker“ heißen.

  3. Ich frage mich gerade – wie würde man denn die öffentliche Meinung messen? Per Umfrage, oder?

  4. Großartig zerlegt. Wozu Angst vor ChatGPT haben, wenn solche Dudes den Diskurs prägen dürfen.

  5. Nicht, dass es an der Substanz des Textes etwas ändert, aber hier:

    „Die Liste dieser Experten (Ivan Krastev, Gideon Rachman, David Remnick, Keith Gessen und Ranjan Nair) ist nicht nur vollkommen willkürlich (…)“…

    stolpere ich über Keith Gessen. Der Keith Gessen, den ich kenne, ist ein vor ca. 10 Jahren mal ein bisschen erfolgreich gewesener Romanautor. https://en.wikipedia.org/wiki/Keith_Gessen

    Russland- oder Ukraine-Experrtise bringt man mit ihm, soweit ich sehe, nicht in Verbindung. Ist euch da eine Verwechslung mit Masha Gessen https://en.wikipedia.org/wiki/Masha_Gessen unterlaufen – oder doch eher Welzer?

  6. Danke für diese Analyse! Das Problem: Viele, die Welzers Thesen glauben wollen, werden dieses Level von Kritik nicht verstehen.

    Dabei halte ich den Zeitraum der erhobenen Daten noch für das kleinere Problem, da man hier wirklich argumentieren könnte, dass mit der neuen Analyse ein grundsätzliches Phänomen untersucht werden solle, das auch schon zuvor existiert haben soll. Dann wäre das vorige Buch zwar voreilig und schludrig gewesen, aber dessen Thesen eben doch zu halten.

    Aber die Schwammigkeit der Datenauswertung und die Unklarheit der ganzen Forschungslogik sind ein No-Go. Und von Welzer mit seinen Qualifikationen kann man nun wirklich erwarten, dass er weiß, wie man es richtig gemacht hätte bzw. wie man sich in passende Methoden eingearbeitet hätte.

    Was einen zu der These bringt, dass er relativ bewusst drauf verzichtet hat, weil er in Wahrheit nicht „die Wissenschaft“ überzeugen möchte, sondern das breite Publikum. Für viele wird das Ganze hinreichend kompliziert und umfangreich erscheinen, um als „wissenschaftlich“ durchzugehen.

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